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Aber Sara wußte, daß es nie geschehen würde. — Doch, sagte er, ich bin der Prinz und hole dich auf einem Pferd. Aber er würde sie nicht mitnehmen, so wie er sie zum Schwimmen nicht mehr mitnahm, — es geht nicht, little cat, sagte er, ohne ihr in die Augen zu schauen. Wenn ich dich mitnehme, kriege ich sofort Ärger. Er zog ihr vorsichtig das T-Shirt aus und verzog das Gesicht. Sie hielt still, obwohl es weh tat, wenn er mit dem Finger über die blauen Flecken strich. Mit ihren Fallschirmen, dachte Sara, konnten sie überall hin. Es war besser, nicht schwimmen zu gehen, als wenn Dave sich mit ihrem Vater stritt, ihretwegen, weil sie nicht mit zum Schwimmen durfte. Dave schrie Dad an, daß er ein Mörder sei. Und dann rief Dad Sara zu sich, in seiner Stimme etwas, das ihr angst machte, — komm her, Kleine, und sie hatte Daves Blick gespürt, ohne ihn zu erwidern. Daves Blick auf ihrem Rükken, auf ihrem Gesicht, mit aller Kraft wollte er, daß sie sich zu ihm drehte, den Blick erwiderte, zu ihm lief. Sie hatte ihn verraten, — und was hat es dir genützt? fragte er bitter, denn ihr Vater hieß sie hinknien, und dann befahl er, daß sie den Gürtel, den er gelöst hatte, aus den Schlaufen zog, weil er ihr Vater war. Daves Blick wie der eines Fallschirmspringers, der zu Boden stürzte, weil sich sein Fallschirm nicht geöffnet hatte. Und dann riß Dave sich los, stürmte, ohne daß Mum versuchte, ihn aufzuhalten, aus der Wohnung und auf die Straße hinaus, während Sara vor Dad kniete und der Gürtel sauste. Fallschirmspringer verließen sich darauf, daß der Fallschirm sich rechtzeitig öffnete, hatte ihr Dave erklärt, sie trauten der Luft und dem Stoff, aus dem der Fallschirm gemacht war, schlossen die Augen und spürten, wie sie fielen, aber ohne Angst, und dann hatten sie eine Leine, an der sie mit einem Ruck zogen, damit sich der Stoff aufspannte, so daß sie sacht zu gleiten, zu schweben anfingen, mit einem Lächeln im Gesicht. Sie hatte es nicht verstanden und nicht fragen wollen, weil Dave nicht gelächelt, sondern sie ernst angeschaut hatte, als müsse sie verstehen, was er ihr sagte. — Wenn die Leine reißt, zum Beispiel, dann stürzen sie ab und sterben. So war jetzt Daves Blick, und sie kniete, wimmerte, als sie die Hand spürte, mit der Dad ihr die Hose runterziehen wollte. Weil sie sich mehr fürchtete, nackt zu sein, als vor den Schlägen, ließ sie sich zur Seite fallen. Dave war hinausgerannt. Und Dad ließ sie wieder los, fluchend, drehte den Gürtel um, so daß er das weiche Ende hielt und es nicht darauf ankam, ob sie die Hose anhatte oder nicht, und Mum stand still in der Tür, um sie ins Bett zu schicken, wenn es vorbei war. — Warum machst du ihn wütend? fragte Mum. Mum zog sie nicht aus, und sie mußte sich nicht waschen, obwohl Flecken auf der Hose waren, fast nichts, sagte Mum wegwerfend zu ihr. Alles würde morgen vorbei sein, nur daß sie stilliegen mußte, weil es weh tat, und es war laut, als wären die blauen Flekken, die weh taten, laut. — Deswegen, sagte Dave, und sie war traurig, weil seine Stimme böse klang, wegen der blauen Flecken kann ich dich nicht mitnehmen, begreifst du das nicht? Sie mußte die Augen fest schließen, um sich vorzustellen, daß diese winzigen Wesen, Prinzessinnen oder Feen, auf sie niedersanken und da- und dorthin schwebten, ohne ihr weh zu tun, auch wenn man sie nicht hören und ihr Tanzen und Drehen nicht sehen konnte, und dann war sie alleine, mußte warten, bis Polly wiederkam und sie mit ihrer Zunge leckte, bis ihre Eltern nach Hause kamen und nach ihr riefen, als wäre sie unsichtbar. Der Prinz, sagte Sara, ist ausgeritten, er kehrt bald von der Jagd zurück, aber eine Jagd dauert mindestens drei Tage. Und wenn der Prinz niemals zurückkehrt? Unzufrieden und rastlos liefen die winzigen Geschöpfe von da nach dort, besprachen sich flüsternd, warfen verstohlene Blicke auf Sara, die ihnen die Nachricht überbracht hatte. Sara spürte, daß sie Angst hatten. Sie schmiegte sich ans Sofa und überlegte, was sie tun könnte, um die Feen zu beruhigen, um zu erklären, daß Prinzen immer aufbrachen und wiederkehrten. Weil er der Prinz ist, dachte sie, aber der Satz, so entschieden er auch klang, schien doch zu schwach. Sie sagte, daß Dave der Prinz war und daß sie alle auf ihn warteten, daß sie Wachen aufstellen sollten, um ihn zu empfangen, Tag und Nacht, so wie sie selbst wartete, kaum atmete, kaum einzuschlafen wagte, weil er nachts zurückkehren könnte, nur für ein paar Stunden. — Little cat, sagte Dave, warum ziehst du dich nicht sauber an? Sie sah, daß er traurig war. Du weißt doch, daß ich zurückkomme. Er sagte: —Du weißt doch, daß ich dich nicht alleine lasse. Sie erzählte es Mum, als sie eines Nachmittags zu zweit waren und Mum sie zu sich rief, nach ein paar Stunden, in denen Sara unsichtbar gewesen war, in ihrem Zimmer, in das sie gelaufen war, als sie im Schloß den Schlüssel sich drehen hörte, auf ihrem Bett liegend mit dem Gesicht nach unten. Mum hatte nicht nachgeschaut, wo sie war. Aber nach ein paar Stunden rief sie plötzlich und umarmte sie, sie fragte sogar, ob sie gegessen habe, und Sara erzählte von den Prinzessinnen und Feen, die zu klein waren, als daß ein bloßes Auge sie sehen könnte, und der Atem ihrer Mutter war sauer. Daß sie leicht schwebten wie Löwenzahnsamen und daß Dave der Prinz war, der auszog und wiederkehrte. Er war aber seit vier Tagen nicht zu Hause gewesen, und Mum fing an zu weinen, leise, ihr liefen nur die Tränen über das Gesicht, dann stand sie auf.

22

In der Zeitung stand, daß man sich mit Decken, Batterien, Kerzen und Konserven eindecken solle. So stand es im Guardian: Decken, Batterien, Kerzen, Konserven. Sie kaufte Batterien. Batterien hatten sie, anders als Kerzen, Decken, Konserven, nicht im Haus, allerdings auch kein technisches Gerät, das mit Batterien funktionierte, stellte sie fest, als sie wieder in der Lady Margaret Road war und die Tüten mit den restlichen Einkäufen (frische Milch, zwei Avocados für ein Pfund, noch grün und hart) auspackte und überlegte, wo sie die Batterien aufheben würde. Fünf Päckchen mit vier Batterien in zwei Größen. Vielleicht besaß Jakob etwas, für das man Batterien brauchte. Die Avocados legte sie auf die Fensterbank in die Sonne. Zwei Wochen waren seit Isabelles Ankunft vergangen, und sie hatte sich eingelebt, sie ging gerne die Lady Margaret Road hinunter nach Kentish Town, und sie fuhr gerne mit der tube in die Stadt, sie waren in der Oper gewesen, und Alistair war sehr nett. Es war, an manchen Tagen, langweilig, zu Hause zu arbeiten, Andras und Peter und Sonja fehlten ihr, aber das war schließlich nur der Anfang, sie könnte auch hier Aufträge finden, Kunden, vor allem war endlich der Zeitpunkt gekommen, sich ernsthaft mit Illustrationen zu beschäftigen, Kinderbücher zu illustrieren, zu zeichnen. Früher hatte sie gezeichnet, jetzt würde sie es wieder tun. Und während Berlin gegen den Krieg votierte, zog London, obwohl es Proteste und Demonstrationen gab, mit seinen Soldaten in den Kampf, rief die Bevölkerung auf, sich mit Batterien, Decken, Kerzen, Lebensmitteln einzudecken, würde in ein paar Tagen ein Land sein, das sich im Krieg befand, in der Wüste, aber man konnte nie vorhersagen, was unterdessen hier geschah. Die Waffeninspektoren hatten den Irak verlassen. — Aber sie finden nichts, sagte Alistair, sie haben nichts gefunden. Und die Türkei öffnet ihren Luftraum nicht. Was soll aus alldem werden? Sie erzählte ihm nichts von den Batterien. Vielleicht war es blinder Alarm, aber es war Alarm. Jakob zeigte sie die Zeitung, erzählte von Decken, Kerzen, Batterien, doch Jakob lachte; es war nicht so, daß sie es wirklich ernst nahm oder sich tatsächlich fürchtete, aber zu lachen war nicht angemessen. Er meinte es nicht böse. Sie ärgerte sich trotzdem über ihn; womit war er beschäftigt? Mit seinem Mandanten Miller? Mit der Villa in Treptow? Er legte Geld in die Schale, die auf der Kommode stand, nie vergaß er, einen neuen Schein hineinzulegen, das war das Haushaltsgeld, das Geld, das sie verbrauchte, wenn sie nicht von ihrem Berliner Konto etwas abhob. — Was willst du heute abend essen? fragte Isabelle laut und deutlich, doch Jakob war nach oben gegangen. Sie war unruhiger als in Berlin, als wäre der Stoffwechsel angeregt. Drei- oder viermal in der Woche kochte sie ein warmes Abendessen. Trug Tüten in die Küche, stellte sie auf dem Kühlschrank ab, begann aus- und einzuräumen; diesmal kehrte sie noch einmal zum Eßtisch zurück und zur Zeitung, die über einer Stuhllehne hing. — Vielleicht brauchen wir doch einen Fernseher, rief sie zu Jakob hoch. Sein Handy klingelte, sie hörte die Töne durch die Decke, Schritte, seine Stimme. Isabelle ging in die Küche, schnitt dickes Plastik auf und griff nach dem kalten, glatten Fleisch. Im Ofen, dachte sie, mit Knoblauch und Wein und Thymian. Entweder Butter oder Olivenöl. Seit ihrer Ankunft in London, seit dem ersten Abendessen mit Alistair und Erbsen in Pfefferminzsoße, machte ihr das Kochen Spaß. Jakobs Stimme ließ sich hören, war aber nicht für sie bestimmt. Offenbar telefonierte er immer noch. Etwas Zitronensaft. Pfeffer. Der Herd erwärmte sich langsam. Sie würde den Reis ebenfalls im Ofen machen. Das Küchenfenster öffnete sich auf den Garten, sie hatten ihn noch nicht benutzt, nicht einmal betreten, als wäre er exterritorial. Das Eß- und Wohnzimmer war morgens blendend hell, alle Zimmer zur Straße hin blendend hell, sobald die Sonne schien, von nichts gehindert, von den kahlen Zweigen der Platanen nicht aufgehalten. Die Teppiche waren fast weiß. —Sollten wir uns angewöhnen, die Schuhe auszuziehen? rief sie nach oben, doch Jakob hörte nicht. Decken. Kerzen. Weil man frieren, weil man sich in der Dunkelheit fürchten könnte. Der Klang seiner Stimme machte klar, daß er ihr nicht beistehen würde. Kerzen, Decken. In Bagdad allerdings rechnete man mit Sandstürmen, mit Hitze. — Aber wir müssen doch daran denken, was all den Menschen zustoßen wird, hatte Alexa gesagt, als verteidigte Isabelle, da sie in London war, den Angriff. Sie hatten beide nicht gewußt, wie viele Tote es im letzten Golfkrieg gegeben hatte. Isabelle erinnerte sich an das Fernsehbild eines Mannes, der schluchzend in die Knie gebrochen war, das Gesicht in den Händen barg, weil er fürchtete, daß er gleich erschossen würde. Keine Grausamkeit, die man sich nicht ausmalen konnte. Könnte ich sie mir ausmalen? fragte sich Isabelle. Aber sie wollte nicht. Und Jakob kam langsam, Schritt für Schritt, die Treppe herunter. Sie wollte ihm um den Hals fallen und sich in seinen Armen sicher fühlen, sicher genug, um sein Gesicht zu streicheln, die nachwachsenden Bartstoppeln, die rötlichen Augenbrauen, die etwas zu fleischigen Wangen, die in London etwas dünner geworden waren. War er dünner geworden? Sie waren erst seit sieben Monaten verheiratet. Am Fuß der Treppe stand sie, sah hinauf, so lange es ging. Dann stand er neben ihr, zögernd, nachdenklich, dem Telefongespräch nachlauschend, unzufrieden. — Es war, sagte er schließlich, mein Vater, der fragte, ob du nicht zurückwolltest, zurück nach Berlin, falls es dort sicherer wäre. Wie albern, fügte Jakob hinzu. Decken und Batterien, so ein Unsinn, erinnerst du dich, wie es während des ersten Irak-Kriegs war? 1990 in Freiburg, als sie sich mit Konservendosen eindeckten, vermutlich in die Mülltonnen kippten, was sie nach Tschernobyl eingekauft hatten. All die Ängste für nichts und wieder nichts. Ob ich dich nicht nach Berlin schicken wolle, hat mein Vater gefragt, kannst du dir das vorstellen? Du machst dir keine Sorgen, oder? Sie entfernte sich, machte einen Schritt auf die Küche zu. Hühnchen mit Zitrone einreiben, dann die Gewürze. Sie rochen nach Heu, unbestimmt, einander allzu ähnlich. Sie wollte den Kopf an seiner Schulter vergraben. Aber Jakob war mit etwas beschäftigt, das weder sie noch den Krieg betraf. Wenn sie morgens in ihr Arbeitszimmer hinunterging, hörte sie die Nachbarn, lauthals, stampfend, stoßend, unerklärlich, was sie dort taten, hinter der Wand, oder es war mucksmäuschenstill, als wäre die Wohnung verlassen. Die Straße entlang fuhr der Milchwagen, nicht immer zur gleichen Zeit, und ein alter Mann mit einem Handkarren kam, schüttelte seine Glocke, sammelte Sperrmüll ein, verkaufte vielleicht auch, und Isabelle überlegte, was sie ihm mitgeben könnte, nächstes Jahr, in zwei Jahren, wenn genug Zeit verstrichen war. Ja, Jakob war dünner geworden, das Gesicht war dünner. Sie betrachtete ihn von der Küche aus, er stand in der Tür zum Eßzimmer, scheinbar nachdenklich, hielt etwas in der Hand, ein Billett, eine Notiz. — Es wäre albern, sich zu sorgen. Oder möchtest du zurück nach Berlin?