Sie wußte nicht, woran Jakob dachte, wenn er abwesend wirkte, vielleicht an die Eisenbahngesellschaft, wie er es nannte, die ein Mandant kaufen wollte, vielleicht war das eine bedeutsame Sache, wichtiger als Miller mit seiner Villa in Treptow.
Sie saßen am Tisch, sie aßen. — Es wird eine große Demonstration geben, sagte Isabelle, und Jakob fragte zerstreut, ob sie daran teilnehmen wolle. Noch immer hatte Isabelle keine Schuhe gekauft. Und dann gingen sie noch einmal aus dem Haus, die Lady Margaret Road hinunter, kühler Wind erhob sich, die Platanen sahen aus wie alte Tiere, die nichts mehr zu erwarten hatten. In einer Gartenwohnung bemerkte Jakob eine Glühbirne, die nackt von der Decke hing, er wollte es Isabelle sagen, die neben ihm ging, ihren Arm in seinem Arm, wollte sie auf diese Glühbirne hinweisen, und später, sie lagen schon im Bett, dachte er, daß ihr etwas anderes aufgefallen wäre, ein Stuhl vielleicht, eine Jacke über der Lehne, ein Glas auf dem Tisch im Wohnzimmer, denn anscheinend war es das Wohnzimmer.
— Miller will Sie bei Amira treffen? fragte Bentham trokken. Wahrscheinlich will er sich aus der Kaffeetasse lesen lassen. Er wird Sahar fragen, ob seine Zukunft eine Villa in Treptow bereithält, ein neues Leben, einen Neuanfang in Berlin. Seien Sie sicher, er wird Ihnen nicht verraten, was Sahar gesehen hat, und Amira wird lächelnd fragen, ob Sie noch ein Stück Kuchen möchten oder einen Kaffee. Haben Sie es schon einmal gesehen? Diese Kaffeetassen, dies feine Krakelee, die Linien auf dem Rand der Mokkatasse?
— Aber warum finden Sie ihn komisch? fragte Jakob. Er war noch nicht bei ihr, er hat mich nur gebeten, daß ich ihn in Amiras Deli treffe. Es ist sein gutes Recht, glauben Sie nicht?
— Meinen Sie, sich aus der Kaffeetasse lesen zu lassen? Oder meinen Sie die Villa in Treptow?
— Beides, sagte Jakob verwirrt.
Bentham nickte. — Natürlich ist es sein gutes Recht, sagte er tröstend.
Maude kam mit einem Tablett herein, darauf ein Glas heiße Milch, und Alistair streckte seinen Kopf ins Zimmer, neugierig, rief lachend Jakob zu, daß niemand so vollständig einen Rechtsfall zersetzen könne wie Bentham, so, daß nichts übrigbleibe, kein Recht, kein Unrecht. Und Bentham winkte ab, stand auf und ging ans Fenster, das hinter dicken Vorhängen vollständig verborgen war, wie in der Zeit der Verdunkelung, dachte Jakob, aber damals war Bentham ein Kind gewesen.
— Sein Recht, Millers Recht? Natürlich ist es sein Recht. Es ist sein Eigentum, nicht das des deutschen Staates oder der Treuhand oder irgendeines Käufers. Miller wird nach Berlin reisen, sagen Sie? Irgendwann werde ich das auch tun, Schreiber drängt seit Jahren. Aber verloren, verloren hat Miller nichts. Als er anfing darüber nachzudenken, was ihm gehört, was ihm nicht gehört, wußte er von dem Besitz in Berlin nicht einmal.
— Seine Eltern haben ihm davon erzählt, wandte Jakob ein und verstand nicht, worauf Bentham hinauswollte, brummelnd, wieder in seinem Sessel vergraben, nach einer Decke tastend.
— Natürlich, seine Eltern, da er das Glück hatte, daß sie überlebten, wenn man auch seine Großeltern vergast hat. Sie mißverstehen mich. Ich meine nicht, daß er sich nicht um den Wert bemühen sollte, den Gegenwert dieses Hauses, eine Entschädigung in Geldwert. Natürlich. Mich wundert, daß er das Haus will. Diesen Ort, als wäre es ein noch unberührter Ort, der zu seiner Geschichte gehört. Als wäre das Alter und die Traurigkeit dorthin nicht vorgedrungen. Die Traurigkeit und das Entsetzen, daß es keinen Ort gibt, der unberührt geblieben ist, von der Wahrheit, der Kälte. Als gäbe es eine Geschichte, die sich doch zusammenfügen ließe, über all die Jahrzehnte hinweg.
— Aber warum nehmen Sie solche Fälle überhaupt an? fragte Jakob.
Bentham stand auf, suchte etwas in seinem Schreibtisch, in den Schubladen darunter, suchte etwas oder dachte nach.
— Die Geschichte, Familien, Erbschaften, Kontinuitäten. Und wir Juristen sind rückwirkend immer Historiker einer als gerecht gedachten Geschichte, einer Rechtlichkeit, die objektiv ist. Allerdings hat Miller sich scheiden lassen, mit sechzig Jahren, und geht zu einer Weissagerin.
Jakob saß in dem Stuhl mit den perfekt geschwungenen Armlehnen, helles Leinen, Nußbaumholz, Roßhaar. Zur Tür schaute noch einmal Maude herein, kopfschüttelnd.
— Wenn es schon den Engel der Geschichte nicht gibt, nicht wahr, dann muß doch wenigstens etwas anderes zuverlässig sein. Gut, das finde ich auch. Aber warum kann es nicht das Gesetz, warum kann es nicht der schiere Gegenwert von etwas sein? Warum auf dem bestehen, was verloren ist, warum darauf, daß etwas geheilt wird? Es wird nichts geheilt.
Da war, was er gesucht hatte, eine Mappe aus Karton, ein Gummiband darum, blaßrot, mürbe, es zerfiel in zwei Teile, fiel auf den Boden, als Bentham es abstreifen wollte, und er bückte sich, hob es aber nicht auf. Maude streckte zum dritten Mal den Kopf herein, energisch winkend jetzt, sie hielt ein Telefon in der Hand, gab Jakob Zeichen, und Bentham stimmte zu, das war alles, nickte er, kehrte sich seinem Schreibtisch zu, mürrisch, brummelnd, als wäre er aufgehalten worden. Aber anscheinend amüsiert. Worüber? dachte Jakob, was war es?
Zwei Stunden später stand Alistair in der Tür, um ihn abzuholen, er hatte mit Isabelle schon gesprochen. Sie waren eigentlich für den frühen Abend verabredet gewesen, Jakob und Isabelle, endlich Schuhe zu kaufen und eine Wolldecke, was nie schaden konnte, obwohl das Wetter schön war heute, ein Hochdruckgebiet, morgen würde ebenfalls die Sonne scheinen, Frühling war es, bald schon Frühling. Aber Jakob hatte ihre Verabredung vergessen. Aus der Bibliothek hörte man das Geräusch des Staubsaugers, Mrs. Gilman kam zwischen acht und neun Uhr, manchmal setzte sie sich in die Bibliothek zu Mister Krapohl, weil sie es nicht eilig hatte, weil sie die weite Fahrt nach Finchley verabscheute, sagte sie, und Alistair behauptete, sie hoffe, mit Mister Krapohl noch etwas essen zu gehen, er hatte die beiden einmal im British Museum gesehen, zu zweit an einem Tisch sitzend, oder war es die Wallace-Collection gewesen? — Ein nettes Paar, grinste Alistair, als sie an der Bibliothek vorbeigingen, und schließlich sei Krapohl one of your lot, aus Deutschland gebürtig, immer erkältet, doch äußerst liebenswürdig, er habe sich übrigens vorhin des längeren mit Isabelle unterhalten, die vor zwei Stunden hiergewesen sei, um Jakob abzuholen; sie habe erfahren, daß er beschäftigt sei, und darauf bestanden, ihn keinesfalls zu stören. Krapohl habe ihr erklärt, erzählte Alistair vergnügt, katzenartig boshaft, daß kein Anlaß bestehe, sich zu sorgen wegen des Kriegs, ob er nun stattfände oder nicht, wenn auch er, Alistair, hinzufügen müsse, daß die Terroranschläge damit aufgeschoben, nicht aufgehoben seien. Für heute abend aber habe er vorgeschlagen, daß sie sich zu dritt im National Film Theatre treffen sollten, das eine angenehme Cafeteria besitze, und er klopfte Jakob auf die Schulter, der ihn verwirrt anstarrte.
Um sechs Uhr hatte Isabelle sich von Mister Krapohl und Alistair verabschiedet, war die Devonshire Street entlanggelaufen, an den hoch aufragenden Fassaden vorbei, und dann nach Süden abgebogen. Auf der Baker Street hatte sie einen Kaffee getrunken, um schließlich Richtung Themse zu laufen, über die Waterloo Bridge — der Fußgängersteg war noch nicht fertiggestellt, aber man konnte ihn schon passieren — zur Southbank, am National Theatre vorbei, am National Film Theatre, Buchhändler packten ihre Bücher, ihre Stände zusammen, und sie lief flußabwärts, an den Sandbänken vorbei, auf denen man die Verbrecher, gefesselt, der Flut ausgeliefert hatte. Die Southbank war im Krieg dem Erdboden gleichgemacht worden, aber wer konnte sich das vorstellen, die Bomben, den Blitz, brennende Werften, brennende Häuser? Hier war Tate Modern, riesig, schwarz-braun, fast fensterlos, aber da kamen Damen in Cocktailkleidern aus dem Ausgang, rosa, hellgrün; ein Mann im Anzug steuerte zielstrebig auf Isabelle zu, im letzten Moment erst wich er aus. Die Dämmerung verschwand in der Dunkelheit. London leuchtete gegenüber auf. St. Paul’s Cathedral glitt vorbei. Wie Bullaugen blinkten Fenster über den Fluß. Menschen, Jogger, Paare überholten sie, standen an der Brüstung, betrachteten das Wasser. Zwei Jungen radelten, sprangen im Flug ab, während ihre kleinen Fahrräder Kapriolen schlugen. Hunde strebten vor ihren Leinen und Besitzern vergeblich nach vorn, zwei Kinder waren auch da, ebenfalls an der Leine, mit weißen Geschirren um die kleinen Oberkörper. Jakob und Alistair würden sie um acht oder halb neun Uhr in der Cafeteria des NFT erwarten. Und da war wieder Tate Modern, ein alter Mann stand jetzt davor, murmelte, kämmte sich das Haar, den Kopf schief haltend, dann heftete er seinen Blick auf die Eingangstür, die sich ein letztes Mal öffnete, von einem gedrungenen, dunkelhäutigen Mann mit einem großen Schlüsselbund abgeschlossen wurde. Es war Zeit. Isabelle zog ihren grünen Cordrock gerade, der um neunzig Grad verrutscht war, schaute auf ihre Turnschuhe, hob den rechten, den linken Fuß, schmutziggrau der weiße Stoff, sie würde es nicht länger aufschieben, sondern morgen Schuhe kaufen und eine Decke auch.