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Jim sah, daß ihre Turnschuhe dreckig waren, der halblange Mantel, den sie nicht zugeknöpft hatte, da die Sonne schien, schlug gegen ihre Schenkel, kräftige, nicht allzu lange Schenkel, er bildete sich ein, das Geräusch zu hören, ein leises Flappen von Stoff. Sie lief vor ihm her. Etwas zu kräftige, aber hübsche Beine, die gleichmäßig auf- und niederfuhren, auf und ab, in Turnschuhen, in einem knielangen Mantel, mit nackten Waden, und die Sonne schien, als wäre jetzt wirklich Frühling. Bald ein Jahr, daß er in der Wohnung war. Es gab solche Straßen, in denen die Zeit nicht verging. Häuser standen da, wurden renoviert, vermietet, Bewohner zogen ein und zogen aus, und doch blieb alles, wie es war, ruhig, friedvoll. Er erinnerte sich, wie er die Wohnungstür mit Damians Schlüssel aufgeschlossen und alles vorgefunden hatte, als wäre es für Mae und ihn genau das richtige. Aber er hatte Mae mit Ben zurückgelassen, und die Sirene eines Krankenwagens hatte in seinen Ohren gegellt, während er losgelaufen war, wie Ben geraten hatte, sieh zu, daß du wegkommst. Mae hätte die Straße gemocht und den kleinen Garten, auch wenn es nur ein Streifen mit Gras war. Die junge Frau vor ihm blieb stehen, streckte die Hand aus, als wollte sie nach einer der Platanen greifen, deren Stämme aussahen wie gefleckte Tierhaut. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung, bog nach rechts ab. Ihr Rücken straffte sich, als hielte sie den Atem an. Jim summte ein paar Töne. Für einen Augenblick dachte er, daß er sie ansprechen könnte, er fühlte sich plötzlich leicht und voller Hoffnung, als wäre ein Fluch von ihm genommen. Sein Vater hatte geflucht, er hatte Jim verflucht, und in der Kirche, von alten Leuten wurde man verflucht, die eigenen Taten verfluchten einen, dachte Jim und summte, das Unrecht, die Strafe, die ausblieb, das, woran man sich nicht erinnerte. Man erinnerte sich nie, dachte er und blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Sie hatten die Leighton Road erreicht und näherten sich Kentish Town Station, die Frau zog aus der Jakkentasche das gelbe Mäppchen für die Zeitkarte, schob sie in den Schlitz und passierte die Barriere. Eine dicke Person mit Einkaufstaschen drängte sich an Jim vorbei, die Rolltreppe, sah er, war außer Betrieb, man mußte links die Wendeltreppe benutzen. Die Dicke schimpfte, sie zog den Blauuniformierten, der aus seinem Glashäuschen kam, am Ärmel, es roch nach Kaugummi und billiger Seife, Jim schlüpfte ohne Fahrkarte durch die Barriere, die offenstand, der Luftzug aus dem Schacht war stickig, er sah die flachen Stufen, die sich um den Kern in die Tiefe drehten, das Geländer, das abgegriffen war, die gefliesten Wände. Hinunter. Außer dem Luftzug, der leise pfeifend aus dem Erdinneren kam, war nichts zu hören. Dort eilte die junge Frau die Stufen hinunter, lautlos in ihren Turnschuhen, behende. Jim preßte die Lippen zusammen, ihn schwindelte, er hatte das Gefühl, nur die Hand nach ihr ausstrecken zu müssen. Rannte die Wendeltreppe hinunter, in das gelb-grüne, matte Licht, schwitzte plötzlich, weil es eng war und beklemmend, — irgendwann werden sie einen Tunnel in die Luft sprengen, hatte Albert beharrt, du wirst sehen, wie das ist, wenn so ein Tunnel einstürzt und alle losbrüllen im Dunkeln. Ein alter Mann tastete sich vorsichtig am Geländer entlang, Jim überholte ihn, schneller, immer schneller lief er, war schon unten, sicher, daß sie in die Stadt, nach Süden fuhr, aber auch wenn er den Bahnsteig richtig wählte, könnte sie doch schon eingestiegen, abgefahren sein. Er stolperte, prallte fast gegen die Wand, noch eine letzte Biegung, sechs Stufen zum Bahnsteig. Da war er, spürte den Luftzug stärker werden, sah die Rücklichter, die digitale Anzeige klackerte. Er kannte nicht einmal ihr Gesicht. In der Luft war Staub, Geruch nach stikkiger Wärme, nach Ersticken, er verzog angeekelt den Mund, die Dicke näherte sich, der Alte, die Digitaltafel verkündete den nächsten Zug, Bank Branch.
Dave stand trotz seines Verbotes eines Tages vor der Tür, in einem zu großen, verdreckten Anorak, mit einem Bluterguß, der unterm Auge verlief. Er war auf die Verachtung gefaßt gewesen, mit der Jim ihm öffnete, stand schuldbewußt da, aber dann winkte Jim ihn herein und holte aus dem Kühlschrank zwei Bier, knallte eins ärgerlich auf den Tisch vorm Sofa, bedeutete Dave, daß er sich hinsetzen solle. Da hockte Dave. Er erinnerte Jim an Hisham, hatte irgend etwas Sanftmütiges, so wie die, die gegen den Krieg demonstrierten, gegen das Böse, Hunderttausende, friedfertig und entschlossen, und Dave sah ihn an, als glaube er an das Gute. Hockte da, erzählte von einem Hinterhalt, in den sie ihn gelockt hatten, ein paar aus seiner Schule, die sich freiwillig melden wollten, und er hatte etwas darüber gesagt, daß es nicht die Schuld der Irakis wäre, nicht die Schuld der Leute, erzählte etwas von einer Schlägerei, deswegen, weil er gegen den Krieg war, und Jim grinste, ließ ihn reden, brachte ihm ein zweites Bier, wartete noch ein bißchen und gab ihm, als er schläfrig wurde, eine Decke. Dankbar sah Dave ihn an. Aber Jim zog ihm mit einem Ruck die Decke wieder weg, hielt sie in die Luft, als spielte er mit einem Hund, und Daves Gesicht verzog sich ängstlich, gleich würde er losheulen, er bewegte sich unruhig hin und her und zitterte, weil sein Versteck nicht taugte, seine Lüge nicht taugte. Kein Versteck taugt für lange, dachte Jim, es brach an den Rändern auf wie ein Pappkarton, er sah den Jungen dasitzen wie in einem Käfig, es ekelte ihn ein bißchen. — Mann, dein Vater hat dich verdroschen! Stimmt’s? Er trat auf Dave zu, hatte Lust, ihn zu treten, trat ihn gegen die Hüfte, die knochig war. — Dein Vater, stimmt’s etwa nicht? Dave wand sich, er war rot geworden, und Jim lachte, schwenkte die Wolldecke hinauf, hinunter, traf die Glühbirne, Glas zerbarst, die Splitter fielen auf das Sofa, den Tisch, er riß Dave am Arm hoch. — Von wegen Hinterhalt, dein Vater war es; er betrachtete ihn, wie er dastand, überführt, beschämt, noch immer rot. — Und du kleiner Bastard lügst mich an! Zu feige, nach Hause zu gehen, oder wie? Die Bierflasche kippte um. Jim wartete, aber Dave bewegte sich nicht, wehrte sich nicht. Er packte ihn am Schopf, riß ihn zu Boden. Nichts, nicht einmal ein Wimmern. Jim ließ ihn liegen, ging zur Gartentür, öffnete sie. Auf der Backsteinmauer saß eine Amsel, sang. Die hellgelben Spitzen dünner Zweige hingen über die Mauer, es wurde allmählich Abend, es ging allmählich der Tag zu Ende, von der Straße oder aus anderen Gärten hörte man Stimmen, von irgendwo einen aufheulenden Motor, Musik, einen Staubsauger. Jims Gesicht spiegelte sich in der Glastür, es sah hell aus, hell, schön. Er starrte es an. Schön, hell, hatte Mae gesagt. So wie früher, als er ein so hübscher Junge gewesen war wie Dave jetzt, als die Lehrer ihm gesagt hatten, daß es schade um ihn sei, daß er in die Schule gehen müsse, daß er durchhalten solle, hatte ihm ein Lehrer gesagt, als er mit den blauen Flecken, den Striemen, die sein Vater ihm beigebracht hatte, im Sportunterricht erschien. Dave hätte nicht kommen dürfen. Seine eigene Schuld, und er wußte es. Hatte sich auf irgendwas verlassen, auf Jim verlassen, auf seine Gutmütigkeit, oder wie? Jim drehte sich um. — Steh auf, sagte er. Ging in die Küche, holte sich ein Bier, kramte in einer Schublade, holte sich ein Briefchen, weiß und fein, fein und rein, scheiß drauf, dachte er, erwartete jeden Moment Mae zu sehen, hallo Mae, da bist du ja, wie sie auf dem Sofa lag, unter einer Decke, ihn ansah, und die Jungs wollten in den Irak, so wie er früher zur Fremdenlegion, weil sein Vater ihn verprügelt hatte, den Gürtel rasch aus den Schlaufen gezogen, und später wieder, als er sich für Albert den Arsch aufreißen ließ. Aber Dave hatte gelogen. Hatte Prügel bezogen, weil immer irgend jemand Prügel bezog, warum nicht Dave? Er atmete vorsichtig aus, machte sich eine line, atmete tief ein. Dave war aufgestanden, stand einfach da, mit hängenden Armen, trotzig, stolz. — Sie wollen aber in die Armee, sagte er, die Älteren. Und es war wegen meiner Schwester. Dad läßt sie nicht in die Schule. Er sagt, daß die Behörden uns nicht finden werden, weil wir in die Wohnung meiner Tante gezogen sind, und daß sie zurückgeblieben ist, weil sie nicht wächst, daß sie ein Schandfleck ist. — Dann verpfeif ihn doch, sagte Jim gleichgültig. Sag’s doch deinen Lehrern in der Schule, die kommen sofort, darauf kannst du wetten. — Aber er schlägt sie, sagte Dave. Jim richtete sich auf, klarer jetzt, schüttelte sich, als könnte er abschütteln, was ihm durch den Kopf ging, der Junge und Mae, die junge Frau mit ihren nackten Beinen, den Turnschuhen, flink, erwartungsvoll, wie sie die Treppenstufen hinunterlief, ihr Mantel flatterte, und er wußte genau, wie sie aussah, ihre Hüften und ihre Brüste, obwohl er ihr Gesicht noch nicht gesehen hatte, und manchmal glaubte er, daß Mae tot war. Daß sie sich über ihn lustig machte. Die Stimmen, die Toten. Es war nur eine Täuschung gewesen, wie ein Tier, dessen Farbe sich der Umgebung anpaßt. — Wisch das Bier auf, sagte er zu Dave. — Ich könnte etwas zu essen holen? Dave sah ihn hoffnungsvoll an. — Ich könnte aufräumen, etwas zu essen holen? — Von meinem Geld? spottete Jim. Dave wurde wieder rot. — Nein, sagte er, das habe ich nicht gemeint.