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Zwei Stunden später lag Dave auf dem Sofa und schlief, die Wolldecke mit beiden Händen festhaltend, das Gesicht ruhig und gerötet. Wachte nicht auf, als Jim den Fernseher anstellte, wieder abschaltete, hinausging und die Tür hinter sich abschloß. Gegen Morgen kam er zurück, Dave hatte tatsächlich aufgeräumt, nachts, in seiner Abwesenheit, und um sieben Uhr ging er.

Der Mann aus Nummer 49 — Dave hatte gesagt, es seien Deutsche — ging vorbei, rotblond, gepflegt und kräftig, einer von denen, die nach dem Einkaufen die Brieftasche so nachlässig einsteckten, daß es nicht einmal Spaß machte, sie zu stehlen, kräftig, gepflegt, und trotzdem sah man, daß er Sorgen hatte. Vielleicht wegen des Kriegs, der nachts angefangen hatte, mit Bomben auf Bagdad, keine Bodentruppen, einen Tag später dann, es war Frühlingsanfang, doch Bodentruppen, und Jim ließ den Fernseher laufen, obwohl er sich darüber ärgerte, weil es ihn nichts anging. Mae hatte es gehaßt, wenn er morgens schon den Fernseher einschaltete, eine dieser Sachen, bei denen sie irgendwelche Prinzipien hatte, zusammen essen, zusammen am Tisch sitzen und essen und keine Schimpfwörter benutzen, als hätten sie Kinder, Kinder mit einer vielversprechenden Zukunft, und sie mochte es nicht, wenn er darüber lachte und sich beim Essen eine Zigarette ansteckte und rauchte. Er lag vor dem Fernseher, rauchte. Ein Heizkörper tropfte, und dann fing der Fernseher an zu flimmern. Triumphierend die Lichter der Treffer, wenn es Treffer waren. Von der Eingangstür blätterte die Farbe. Man sah nicht die Bilder einer zerstörten Stadt, keine weißen Fahnen. Angeblich war Saddam tot, dann lebte er doch. Angeblich kaum Tote, vier oder fünf Tote? Mae hatte gesagt, daß es kaum noch Spatzen gab, kaum noch Spatzen, wo immer sie abgeblieben sein mochten. Im Garten hüpften kleine, gelbliche Vögel, abends sang auf der Mauer eine Amsel. Das Gras wuchs, an der Mauer gab es Osterglocken, er malte sich aus, wie Mae sich bückte, das Gras kurz schnitt, Blumen pflanzte. Die Vögel hatten keine Angst. Mae drehte sich um und lachte ihm zu. Was mit den Sachen aus ihrer Wohnung passiert war, wußte er nicht. Der Fernseher? Klappstühle, die sie gekauft hatten? Sogar ein Sonnenschirm, weil sie nach Brighton fahren wollten?

Der Notfall wurde in einer Station der Circle Line geprobt, die sowieso geschlossen war, und da bot es sich an, war es die Chancery Lane? Aber die Lichter waren ausgefallen, was eine Panik ausgelöst hatte, die medizinische Ausrüstung war zertrampelt worden und ein Arzt verletzt, das Licht war nicht wieder angegangen. Hisham rief Jim an, gab ihm eine Adresse in Holloway, sie würden ihm, sagte er, den ganzen Stoff abnehmen, Serben, Albaner, Zigarettenschmuggler, die hofften, ins Drogengeschäft zu kommen, bevor sie von einer rivalisierenden Bande erschossen wurden. Dave lief, gehorsam den Kopf abgewandt, vorbei.

Nach Holloway ging Jim zu Fuß, zwanzig Minuten lang, um an der verabredeten Straßenecke angesprochen zu werden, sie traten in einen Hauseingang, drei Männer warteten dort, höflich, in billigen, dünnen Anoraks, mit harten, gierigen Augen, und auf der Straße liefen zu stark geschminkte Frauen vorbei. Keine Engländer, dachte Jim. Schlagzeilen verkündeten, daß eine junge Frau erschlagen worden war, vermutlich mit einem Backstein, ohne daß irgend jemand etwas bemerkt hatte, obwohl es am hellichten Tag in einem Park geschehen war. Er ging in ein Pub, nicht weit von Archway, stand am Tresen, summte, das kleine, häßliche Summen, trank einen Schluck. Die Kellnerin musterte ihn aus den Augenwinkeln, aus dem hinteren Teil des Pubs hörte man das Klingeln eines Spielautomaten. Aber Jim hob den Kopf nicht, er summte, mit achtundzwanzig Jahren konnte er noch immer nicht pfeifen. Ein richtiger Junge pfeift, hatte sein Vater verächtlich gesagt. Die Kellnerin stützte sich auf den Tresen und lächelte ihn an. — Denkst du an deine kleine Freundin? Jim sah sie kurz an, antwortete nicht. Hinten klingelte wieder der Spielautomat. Der Mann, der ihm das Geld ausgehändigt hatte, war vermutlich schon vierzig Jahre alt, ein massiger Kerl mit schlechter Haut und unstetem Blick. Jim drehte das Glas hin und her. Mit dreizehn Jahren hatte er sich vorgenommen, von zu Hause wegzulaufen, das war jetzt dreizehn Jahre her. Er hatte an London geglaubt, das war es gewesen, was ihm die Kraft gegeben hatte, mit sechzehn schließlich wegzulaufen. Aber es war ein Schock gewesen, anzukommen und vor dem Bahnhof zu stehen, nach all dem, was er sich ausgemalt hatte, ein Leben, das frei und wild war. Mit Mae wäre er aufs Land gezogen. Er mußte Albert loswerden und Mae finden und genug Geld haben. Aus der Küche kam Essensgeruch, eine Treppe, die mit einer Kordel abgesperrt war, führte in den ersten Stock. Noch immer das enervierende Klingeln des Spielautomaten; Jim drehte sich um, lief in den hinteren Raum, stieß den Jungen, der vor dem Automaten stand und ihn erschreckt anstarrte, so heftig, daß er hinschlug. — Hörst du jetzt endlich auf, du kleine Ratte? Die Kellnerin rief, — Gigi, hau ab, näherte sich, lächelte Jim an. Ohne ein Wort rappelte sich der Junge hoch und verschwand. Jim spürte, wie die Frau ihn abwartend anschaute. Nicht sein Typ, sah er, als er sich umdrehte, eine braunhaarige, füllige Person mit einem stark geschminkten Gesicht, das immerhin vertrauenerweckend aussah. Und das war also Holloway, wie ein schlechter Geruch, dachte er, aber sie hatte geduscht, ihr Haar roch frisch gewaschen, viel dickeres Haar, als Mae es hatte, er faßte es an, was sie geschehen ließ, dann lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter, freundlich, auf eine so selbstverständliche Art, lächelte ihn an. Es war angenehm wie ein handfester Gegenstand, ein greifbares Wohlbefinden, ihre Hand tastete nach seiner, hielt seine Hand einen Moment fest und ließ sie los, um sich dichter an ihn zu schmiegen, ihn in einen kleinen Seitenraum zu drängen, sachte, zwischen Putzeimer und einen Staubsauger, eine kleine Kammer mit dicker staubiger Luft, kein Platz, sich hinzulegen, aber sie war geschickt und zärtlich, so daß er alles vergaß und dann verwundert ihre Lippen spürte, einen sanften, freundlichen Kuß. —Träumer, sagte sie. Die Straße war hell, und nach zweihundert Metern nahm er den Lärm wieder wahr, das Mißtrauen in den Augen, die ihn musterten, eine Frau mit einem kleinen Jungen an der Seite wich ihm aus, die Luft roch sommerlich, es hatte geregnet, an den Ästen eines Bäumchens glitzerten Tropfen, und ein Kind rannte auf ihn zu, wich im letzten Moment aus, den Luftzug spürte Jim, beinahe die Wärme des kompakten Körpers. Er stolperte, da lag mitten im Weg eine Plastiktüte, die etwas verdeckte, er schob das Plastik mit dem Fuß zur Seite, sah ein Stückchen Fell, eine Ratte, und in all dem lärmenden, hupenden, trostlosen Verkehr blieb er hilflos stehen, während kühler Wind aufkam, Regen seinen Anorak durchnäßte.

Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal krank gewesen war, richtig krank, nicht weil er betrunken war oder wegen irgendwelcher Tabletten, sondern mit Fieber, fiebrig schwitzend wie ein Kind. Jede Berührung schmerzte, als wäre die Haut durchsichtig, durchlässig, könnte die Nerven nicht länger schützen, und gleichzeitig war sie wie ein Panzer, in den er eingesperrt war. Er raffte sich auf, kochte Tee, im Küchenschrank ein einziges Durcheinander, Sachen von Damian, die er ein Jahr nicht angerührt hatte, ein Glas verschimmelter Marmelade, Konserven, schmutziges Geschirr, er rauchte, hustete, das Fieber stieg, und schließlich lag er auf dem Sofa, konnte, als Dave rief und klingelte, nicht aufstehen, hörte hilflos, wie Dave seinen Namen rief, wie Dave die Stufen wieder hinaufstieg und ging. Schlief ein, wachte auf, zu schwach, aufzustehen und zu essen, etwas Reis zu kochen, der auch im Schrank gestanden hatte, aber er konnte nicht aufstehen, er konnte nicht, und was er sah, war in Fetzen gerissen, das Wohnzimmer, die Küche in der Field Street, auf dem Herd richtige Töpfe, und wie Mae ihn auslachte, von den Toten faselte und ihn auslachte, der schwitzte und Schmerzen hatte.