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Wieder in der Wohnung, saß sie eine Weile vor dem Computer und scannte einige ihrer Zeichnungen. Zwei Geschwister liefen auf den Winterfeldtmarkt und kauften gestreifte Bonbons für das Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war und jetzt auf einem Spreekahn bei dem Kapitän lebte, der schließlich die Mutter des Mädchens heiraten würde. Aber noch stand das Mädchen alleine in der Dämmerung an Deck des Kahns unter einer Wäscheleine, auf der die Küchenhandtücher flatterten, und wartete, ob seine neuen Freunde auf der Brücke auftauchten. Jakob rief an und sagte, daß er spät nach Hause kommen würde. Peter rief an und fragte nach dem Kostenvoranschlag für einen Buchprospekt. Alexa rief nicht an. Andras schrieb eine kurze, technische Mail — er wußte auch nicht, wo der Kostenvoranschlag war. Vor dem Fenster flog eine Elster auf. Nebenan schrie der Mann, vermutlich brüllte er seine Frau und seinen Sohn an.

Als es dämmerte, beschloß sie, nicht auf Jakob zu warten, sondern alleine in die Stadt zu fahren. Sie lief die Tottenham Court Road hinunter und weiter, bog nach links ab, Richtung Saint Martin’s Lane, der Himmel war mit mattem Orange bedeckt, die Schornsteine drängten sich zu dritt oder viert auf den Dächern, aus einer Pizzeria quoll eine Schulklasse, kichernd schwenkten die Mädchen ihre nackten Arme, und Isabelle folgte ihnen ein Stück, sah, wie eine von ihnen zurückblieb, um einen Jungen zu küssen, der viel älter war und fordernd sein Knie zwischen ihre Schenkel drängte. Weil sie noch nicht nach Hause wollte, lief Isabelle ein Stück die Oxford Street hinunter und fand in einem kleinen Laden rote Lederstiefel, in einem hellen Kirschrot, die sie kaufte. Der Abend und auch die nächsten blieben aber unbefriedigend. Die Stiefel standen im Eingang, kirschrot, während Isabelle wieder in ihre Turnschuhe schlüpfte, es war enttäuschend, nahe auch an einem Streit zwischen ihr und Jakob, der nur vermieden wurde, dachte Isabelle, weil sie kein Thema fanden, und beide waren dankbar, als Anthony vorschlug, sie sollten sich am folgenden Abend gemeinsam King Lear ansehen, in einem Theater, das provisorisch umgezogen war, aber eine der spannendsten Produktionen bot, und seine Stimme klang auf erleichternde Weise begeistert, er kurbelte etwas an, London, das Leben im allgemeinen, all das, was aufregend war, und so stürzte Isabelle, als sie ihn vor dem Theater mit den Tickets winken sah, auf ihn zu, überschwenglich. Der Anblick des Zuschauerraums befremdete sie, die Stühle, sehr dicht aneinandergestellt, ließen etwa die Hälfte des Raums frei, vor allem einen breiten Streifen vor der Bühne. Jakob kam verspätet, setzte sich neben sie und gab ihr einen flüchtigen Kuß, sein Oberarm streifte ihre Schulter. Ich verstehe nur die Hälfte, flüsterte Jakob ihr nach einer Weile zu, tastete nach ihrer Hand, während sie sich reckte, da sie hoffte, von den Gesichtern abzulesen, was ihr entging, zu begreifen, warum die Katastrophe unabwendbar war. Die Morde waren vollbracht, der Schmerz wurde zu einem schrillen, unerträglichen Ton. — Der Narr war der Beste, flüsterte Alistair zu Jakob, und da waren Lears Worte, er heulte, flehte — And my poor fool is hang’d! No, no, no life! Why should a dog, a horse, a rat have life, and thou no breath at all? Thou’lt come no more, und ein paar Zeilen später stürzten die Wände, lautlos erst, als wäre es nur eine Projektion, dann plötzlich mit Getöse, krachten da hin, wo die ersten Stuhlreihen hätten sein können, zerbarsten, wirbelten Staub auf und hinterließen ein Bild der Zerstörung, auf das beklommene Stille folgte, und dann noch einmal, dünn, die Stimme des toten Lear, Thou’lt come no more, never, never, never, never, never.

Sie hörte es noch, als sie aufsprang, um vor den anderen hinauszulaufen, da fing sie am Ausgang der Narr ab, ein kleinwüchsiger Mann mit verbissenem Blick, folgte ihr, als sie auf die Straße drängte, und er murmelte, murmelte, dicht hinter ihr stehend, denn sie konnte nicht weg, sie wollte vorausgehen, aber wagte es nicht. Es klang wie ein Fluch. Die anderen kamen gutgelaunt heraus, zu dritt nebeneinander, drei großgewachsene Männer, von denen einzig Alistair sogleich den Narren sah und ins Auge faßte, — noch ein Verehrer! sagte er spöttisch zu Isabelle. Sie gingen in einen arabischen Imbiß, und als sie sich auf den Weg nach Hause machen wollten, war die letzte U-Bahn schon abgefahren, eben wurden vor den Eingängen die Gitter heruntergelassen, nur auf dem überdachten Vorplatz standen noch ein paar Nachzügler und Nachtschwärmer. Die Haltestelle des Nachtbusses war verlegt worden, keiner wußte, ob in die Pentonville Road oder Richtung Camden, und Alistair schlug vor, doch Richtung Camden Town zu laufen, die Straße war so leer, als wäre alles abgesperrt, sie liefen den York Way entlang, der schlecht beleuchtet war, und Isabelle hörte noch einmal die Stimme Lears, hörte den Narren murmeln. Sie ging vorneweg, sah fünf Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus einem der eingerüsteten Häuser auftauchen, die Straße überqueren, und da war die Bushaltestelle, provisorisch auf dem schmalen Bürgersteig, der nur Platz für einen bot, dort sammelten sich die fünf, starrten ihr entgegen, helle Gesichter über schwarzen Anoraks, zwei lehnten an der Mauer, wichen nicht, so daß Isabelle auf die leere Fahrbahn trat und weiterlief, ohne sich umzuschauen. Jakob, der als letzter ging, rissen sie am Mantel herum, schweigend, nur von Jakob ließ sich ein Laut hören, ein erstickter Ruf, der Isabelle herumfahren ließ. Drei der Männer, sie hatten Messer, die sie — nicht einmal drohend — zeigten, packten Anthony und Alistair, zwei hielten Jakob, sie bildeten einen dichten Halbkreis um Isabelle, in ihrem Rükken war die Mauer, und sinnlos grübelte sie, was es für eine Mauer war, die sich die ganze Straße entlangstreckte ohne Eingang. Bis auf eine Handbreit trat einer der Männer auf sie zu, sie konnte Atem und Schweiß riechen, konnte die Wärme seines Körpers spüren. Er stand ruhig da, als stütze er sich auf den blassen, verwunderten Schrecken ihrer Begleiter, sogar Alistair hatte es die Sprache verschlagen, und Isabelle schoß durch den Kopf, daß all das komisch war, ein Überfall, der weniger Schrecken für sie hatte als das Theaterstück, als der Ruf Never! — Na, Süße, wie wär’s mit uns? Welcher von den Luschen ist denn deiner? Und sie sah in seine Augen, suchte etwas, dachte an die letzten Tage, die Ziellosigkeit, suchte, ob bei diesem Mann etwas zu finden war, während Jakob zusammensackte. Dann fing sie an zu lachen, lachte den Mann an und streckte die Hände nach ihm aus; wie ein Kind, sagte Alistair später, staunend, kopfschüttelnd, er glaubte ihr nicht, daß sie den Polizeiwagen, der in den York Way einbog, schon gesehen hatte, obwohl es fast dunkel war, die nächststehende Straßenlampe ein Stück entfernt, die Häuser gegenüber eingerüstet, Fenster grob mit Brettern vernagelt, dunkel jedenfalls, so daß die Scheinwerfer des Polizeiautos deutlich sichtbar waren. Sie hatte es gesehen. Wie ein Kind streckte sie die Hände aus und faßte nach seinen Ohren, hielt die warmen Ohrläppchen zwischen ihren Fingern und zog sein Gesicht näher, als wollte sie ihn küssen. Keiner außer ihr bemerkte, daß sich das Polizeiauto auf acht oder zehn Meter genähert hatte, der Fahrer die Scheibe herunterließ und sich hinausbeugte. Isabelle lachte wieder, dann stieß sie den Mann mit aller Kraft von sich und rannte durch die Lücke auf die Polizisten zu, winkend, gestikulierend, plötzlich erschreckt und verzweifelt. Licht flutete auf, die Männer ließen ihre Gefangenen los und rannten, überquerten die Straße, tauchten hinter einer Baustelle in eine Seitenstraße ein, den Vorsprung nutzend, den die Polizisten ihnen ließen, da sie erst Isabelle fragten, ob sie verletzt sei, dann fuhr das Polizeiauto den fünf Männern hinterher, und wie die Stille senkte sich wieder das schwache Licht auf Isabelle und die drei, die mit betäubten Gesichtern ihre Handgelenke rieben. Isabelle wich einen halben Schritt zurück, als Jakob mit unsicherem, schuldbewußtem Gesicht auf sie zutrat, und schaute unbeteiligt zu, wie Anthony loslief, den Polizisten hinterher, wie Alistair sein Handy aus der Tasche zog und auf eine Verbindung wartete. Sie waren allein. Anthony kehrte zurück. Die Mauer war riesig, rötlich, es war der Bahnhof, dahinter blinkten die Lichter des Gasturms und eines Krans, der aus dem Dach von St. Pancras ragte, jetzt sah Isabelle, daß an den dunklen, verkommenen Häusern noch Schilder hingen, Cafe´s waren es gewesen, kleine Hotels, Spielsalons, abgenutzt seit Jahrzehnten oder länger, die Fenster, wo sie nicht vernagelt waren, eingeschlagen, der Gehweg unregelmäßig gepflastert. Alistair war es gelungen, ein Taxi zu bestellen, Jakob und Alistair stritten sich, ob sie auf die Polizisten warten müßten oder nicht. — Bist du bescheuert, die machen sich an deine Frau ran, und du willst sie nicht einmal ordentlich anzeigen? Das Taxi kam, und sie stiegen ein, bedrückt, beschämt die Männer, Isabelle konzentriert, als müßte sie finden, was sich einen Augenblick lang gezeigt hatte, etwas, das die gelassene Aneinanderreihung der Dinge unterbrach. Sie fuhren nach Norden, Anthony hatte dem Fahrer die Adresse eines Clubs gegeben, er beharrte darauf, daß es seine Schuld sei, weil er sie in das Theaterstück gebracht hatte, er lud sie ein, bestellte, ohne zu fragen, Whisky, zog Isabelle auf die Tanzfläche. Sie tanzten, Anthony und Isabelle, Alistair und Isabelle, nur Jakob schwang sich nicht auf, saß einigermaßen aufrecht auf seinem Barhocker, riß sich hoch, wenn er zusammenknickte. Sie tanzte, Isabelle tanzte. Sie versuchte sich das Gesicht des Mannes zu vergegenwärtigen, seine Augen, eine Handbreit vor ihrem Gesicht, sie verglich es mit Jims Gesicht, war betrunken und aufgekratzt, und als Alistair sie fragte, ob sie keine Angst gehabt habe, verneinte sie. — Es ist ja schon nicht mehr real, sagte Isabelle, obwohl erst zwei Stunden vergangen waren, und am nächsten Morgen würde nichts mehr davon wirklich stimmen, weil solche Sachen bereits einen Tag später zur Anekdote wurden, etwas, das sie Andras erzählen könnte, dachte Isabelle, aber sie sprachen so selten miteinander.