Wirklich rief sie tags darauf im Büro an, Sonja antwortete, und deswegen erzählte sie alles Sonja, die fragte, was Jakob gemacht habe, wozu es nicht viel zu sagen gab. Er hatte am Morgen gewartet, bis sie aufgewacht war, noch immer niedergeschlagen. Wie sehr er Gewalt hasse, sagte er wieder und wieder, er war ihr auf die Nerven gegangen; jetzt tat er ihr leid. Sie fragte sich, ob er von den Nachbarn nichts bemerkte, nie etwas hörte, weil es im Erdgeschoß war, in ihrem Zimmer, oder ob er es ignorierte, weil er Gewalt haßte, weil er nicht wollte, daß in seiner Welt vorkam, was er verabscheute. War da nicht ein winziger Riß, eine Verschiebung, die Unruhe und Neugierde hervorrief und Enttäuschung? Still war es, sie strich in der Wohnung, die so unberührt war, hin und her, sie wollte nicht arbeiten, und so ging sie hinaus, lief zur U-Bahn und fuhr nach King’s Cross, in den Lärm von Menschen und Baumaschinen und Verkehr. Überall waren die Zeitungsstände, Reisende, Bettler, Geschäftsleute, die aus dem Bahnhof eilten, Familien mit Koffern und unruhigen Gesichtern, eine großgewachsene Frau mit kurzen, blonden Locken lief strahlend auf einen kleineren Mann mit einem großen Kopf zu, die beiden umarmten sich, der Mann erinnerte Isabelle an Andras. York Way war auch am Tag still, an der Bushaltestelle wartete niemand. Im Sonnenlicht sahen die Häuser heruntergekommener aus als in der Nacht. Etwas blitzte auf, Licht, das eine Glasscheibe traf. Ein einzelner Baum, krüppelig, bewegte sich in einem Luftzug, auf dem Asphalt lag eine Papiertüte. Sie saugte ein, was sie sehen konnte, in einiger Entfernung einen behelmten Mann auf einem Kran, die rötliche Mauer. Sirenen gaben zwei oder drei Heultöne von sich, verstummten. An der Stelle, an der in der Nacht die Männer hinter den Planen hervorgekommen waren, blieb Isabelle stehen. Auch das, was einem selber zustieß, löste sich auf. Hier war nur ein heruntergekommenes Viertel, das abgerissen und wieder aufgebaut wurde, nichts weiter. Sie lief durch die kleinen Sträßchen, nicht bereit, sich abzufinden damit, daß nichts geschah, nichts geschehen war, es war sommerlich warm, sie spürte unter dem Rock ihre Schenkel, an den Füßen den Staub.
Als sie um die Ecke bog, erkannte Jim sie sofort, verwirrt, ärgerlich, denn sie hatte hier nichts zu suchen, in seinem alten Territorium, das er so lange gemieden hatte, in diesen Straßen, die Mae entlanggegangen war, die er mit ihr überquert hatte. Da war sie, strich sich mit den Händen über den Rock. Er suchte in der Hosentasche nach Zigaretten, nach dem Feuerzeug, rauchte. Aber sie spionierte ihm nicht nach, dachte er, auch wenn sie an der Ecke der Field Street stand, als warte sie auf jemanden. Die alte Wohnung stand leer, und auch den Gemüsehändler gab es nicht mehr, niemanden, den er fragen konnte, nur noch ein Gerüst, eine Plane, die die Fassade verdeckte, im warmen Wind gegen die Eisenstangen schlug. Wie von einem Schlagzeug tönte hin und wieder ein gedämpftes Geräusch von den Baugruben durch den Verkehr. Jim schnippte die Zigarette in einen Gully, fingerte aus der Packung die nächste. Und sie kam näher, mit einem unentschlossenen, törichten Gesichtsausdruck kam sie näher, ging da, wo er nach Mae suchte, dann stolperte sie, riß den Kopf zur Seite, hob ihn und zuckte zurück, als sie Jim erkannte. Nirgends so viele Idioten und Spanner und Mörder, hatte Albert behauptet, um Mae, die sich vor einem Terroranschlag fürchtete, zu beruhigen. Die Toten, hatte er gesagt, würden nie da sein, wo man auf sie wartete. Wie schlafwandelnd lief Isabelle auf ihn zu, und er grinste, faßte sie am Arm, dann um die Taille, drückte so fest zu, daß sie aufstöhnte, und er tat, als wollte er sie küssen. Sie sah in seine Augen, schaute auf seinen Mund.
Er sah wütend aus, sie wollte etwas erklären, doch schließlich mußte er auf sie gewartet, mußte ihr aufgelauert haben, und sie fragte etwas, das er nicht verstand, ob er gestern nacht hier gewesen sei, offensichtlich enttäuscht, als er sie losließ, einen Schritt zurücktrat und auflachte, da war er, in einem engen T-Shirt, unter dem sie seinen kräftigen Oberkörper sah, wie sich die Muskeln abzeichneten, und wieder drehte er sich bloß um, rief ihr über die Schulter etwas zu, — see you, ein Versprechen, eine Drohung, bevor er mit schnellen Schritten davonging. Field Street, las sie auf dem Straßenschild, verwirrt, ernüchtert. Irgendwo war ein Fehler. Rückwärts müßte man gehen, zurücklaufen, zurückspulen, was gewesen war bislang, um es zu löschen oder zu bestätigen. Aber hier gab es nur eine leere Straße, etwas, das hell und öde war, so daß sie loslief, langsam erst und dann schneller, zur Euston Road und weiter nach Westen, sie rannte jetzt auf die Warren Street zu, wo sie aufgehalten wurde von einer Menschentraube, von Zeitungsverkäufern, Gürtelverkäufern, Berufstätigen, Touristen, aus jemandes Hand fiel ein kleiner Strauß, die Blüten wurden zertreten, vier Schüler umschlossen Isabelle einen Moment, grinsten sie über verrutschte, zerknitterte Krägen an, ein Mann hievte einen Kontrabaß vor sich her, rammte damit Isabelle, der Tränen des Schmerzes, der Kränkung in die Augen schossen, und als sie ungeschickt aus dem Gewühl herausschlingerte, sah sie eine Blumenverkäuferin, die aus Eimern die letzten Sträuße packte, hinter ihr erschien eine jüngere Frau, griff nach den Eimern, leerte das Wasser mit einem Schwung auf die Straße, sie kam Isabelle seltsam bekannt vor, nur war sie dünn, fast mager, und als sie sich aufrichtete und zur Seite drehte, sah Isabelle ihr Gesicht, entstellt von einer Narbe, die von der Schläfe bis zum Kinn reichte, flammendrot, häßlich. Als wäre die Wunde nicht genug gewesen, war sie schlecht verheilt, und das Gesicht war gezeichnet, ein Inbild der Bösartigkeit, die Menschengesichter zerstörte. Aber vielleicht war es ein Unfall, dachte Isabelle. In ihrem Erschrecken achtete sie nicht darauf, daß die Ältere sie beobachtete, näher kam, das Gesicht zornig, verächtlich, und Isabelle mit einer Handbewegung wegscheuchte, ohne ein Wort zu sagen, wie man ein gaffendes Kind verjagt.