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Am Ende der Straße drehte sie sich noch einmal um, winkte ihm zu. Jakob ging hinauf, aber die Tür zu Benthams Zimmer war geschlossen, nicht angelehnt, sondern tatsächlich geschlossen, und es gab Jakob einen Stich, als wäre das die Strafe für etwas. Die Eisenbahngesellschaft war ein komplizierter, anregender Fall, — Eisenbahngesellschaft? amüsierte sich Hans, als sie telefonierten, und Jakob lachte auch, — aber wie willst du Railway Company übersetzen? Er traf sich mit dem Mandanten, der so überzeugt war, als Deutscher ein Riesengeschäft, sagte er, aufzuziehen, nur deshalb, weil seine Züge pünktlich sein würden und nicht auf der Strecke liegenbleiben und nicht entgleisen, sobald das Herbstlaub die Gleise bedeckte oder ein Zentimeter Schnee, es war ein großer, stumpfgesichtiger Mann, der Alistair und Anthony zum Lachen brachte, wie er kam, laut atmend, gutmütig und etwas bedrohlich. Den größten Teil des Tages verbrachte Jakob mit Lesen, bestellte bei Mister Krapohl eine ganze Reihe von Geschichtsbüchern, die Krapohl um weitere Bände ergänzte, — aber Bajohr, dann müssen Sie auch Bajohr lesen, und Friedländer, es ist nur der erste Band erschienen, aber das ist eines der besten Bücher, und Krapohl räumte für Jakob ein Regal leer, um alles zusammenzutragen, die Bücher und das, was sich im Netz fand, über den Fall der Wertheimschen Grundstücke in der Leipziger Straße, über den Besitz, der inzwischen von Beisheim erworben und bebaut war, las Briefe der Seehofer Grundstücksbesitzer, die Protokolle des Verwaltungsgerichts Berlin. — Ich habe mich noch nie so sehr mit Deutschland beschäftigt, sagte Jakob am Telefon zu Hans, — ich frage mich, ob ich all diese Bücher in Berlin hätte lesen können. — Warum nicht? sagte Hans empfindlich, und Jakob las ihm eine Passage aus Friedländers Buch Das Dritte Reich und die Juden vor, wie Kinder einen Juwelierladen stürmten im Juni 1938, wie sie ihn plünderten und ein kleiner Junge dem jüdischen Besitzer ins Gesicht spuckte.

Am frühen Nachmittag begann Jakob, immer wieder aus dem Fenster den Himmel zu prüfen, die Wolkengeschwindigkeit, das Blau dazwischen, ob die Sonne einen schönen Abend versprach, den frühen Abend, den Bentham zu seinen Spaziergängen bevorzugte, denn wenn ihm selbst auch das Wetter gleichgültig war, forderte er Jakob doch nur bei schönem Wetter auf, ihn zu begleiten, zu einem kurzen Gang durch Regent’s Park, bis zum Zoo und dann wieder zurück. Unmöglich herauszufinden, ob er Jakob damit einen Gefallen tun wollte oder seine Gesellschaft suchte. Jakob hielt sich dann einen halben Schritt hinter Bentham, der unbeirrt voranschritt, nur manchmal den Kopf nach rechts oder links wandte, so daß Jakob sein Profil sah, die stark gewölbten Augenbrauen, die Nase, den vollen Mund, erstaunlich für einen Mann dieses Alters, und wie all das nicht wirklich zusammenpaßte und schwerfällig schien, aber doch anmutig und beweglich wirkte. Daß Jakob ihn so ausgiebig anschaute, mußte Bentham bemerken, Anzeichen gab es dafür aber nicht, statt dessen Hinweise auf Blumen, Passanten, Bäume, auf Hunde, die herbeigerannt kamen, wenn sie Bentham sahen, und dann respektvoll, schwanzwedelnd innehielten. Jakob lächelte, lächelte über alles, was Bentham ihm zeigte, Enten, Pärchen, die auf dem Rasen lagen und sich küßten, die Wölfe im Gehege, ihr langbeiniges, unruhiges Hin und Her; wie ein Kind, dachte Jakob über sich selbst und war verlegen. Er liebte den Park wirklich, aber wenn er alleine hinausging, weil es nieselte, weil Bentham nicht in die Kanzlei gekommen war, weil Wochenende war, hoffte er vor allem, Bentham zu treffen und hielt unablässig Ausschau, nach einem jetzt zumeist hellen Anzug, etwas eingezwängt darin die Schultern, was die schmalen Hüften betonte, die dabei massige Figur, die elegant war, mit Tanz- oder Tanzbärschritten rascher vorankam, als man vermutete, gedankenversunken und doch alles beachtend, was angenehm oder belustigend war.

Alistair ließ hin und wieder eine Bemerkung fallen, wenn er zu Jakob in den dritten Stock kam oder wenn sie zusammen essen gingen. Er erkundigte sich zwar nach Miller oder Jakobs Lektüre, aber es war deutlich, daß er kam, etwas zu überprüfen, das ihm durch den Kopf ging, er warf einen Satz wie eine Angel aus, sicher, daß Jakob anbeißen würde. Benthams Anwesenheit im selben Stockwerk störte ihn nicht, unbekümmert, wie er war, gab er sich auch keine Mühe, leise zu sprechen. Er war, empfand Jakob, arglos und dabei auf sanfte Weise boshaft, als wollte er seine eigene Liebe zu Bentham ausschöpfen. Ein Vogel, sagte er über Bentham, dem die Federn ausfielen, die Flügel lahm wurden, trotz unbeirrter Eitelkeit, die ja schwerlich zu übersehen sei, und manchmal gehöre zur Eitelkeit eben die Schärfe des Verstandes, sogar des juristischen Verstandes, merkte Alistair schon im Hinausgehen an. Wie sehr, sagte er, Bentham es genieße zu verwirren, einen jungen Mann zu verwirren, fügte er bei anderer Gelegenheit an. Allerdings halte Bentham Verwirrung für etwas durchaus Wünschenswertes, generell gesprochen, nicht nur bei jungen Männern, denn wie solle man bei allzu großer Gewißheit über das Verhältnis von Juristerei und Historie nachdenken, darüber, wie juristische Entscheidungen Dinge gleichsam umkehren wollten, welch trickreiche Art von Fortsetzung Reparationen etwa bedeuteten. Reparationsforderungen insgesamt, sagte Alistair einmal, seien etwas Merkwürdiges, ob er, Jakob, sich vorstellen könne, wie solch ein Thema vom eigenen Alter beeinflußt werde? Verlustrechnungen und deren Begleichung, so müsse Jakob sich das vorstellen. Die Schönheit eines Geliebten und dessen Tod, und wie man noch einmal dagegen räsoniere, klug genug, nicht kämpfen zu wollen, wo es aussichtslos sei. Worauf sich letzteres bezog, begriff Jakob zunächst nicht, ahnte nur, daß es in Zusammenhang stand mit Maudes Fürsorge Bentham gegenüber, die gleichmäßig und jahrelang eingespielt wirkte.

Den knirschenden, an seinen Seilen ächzenden Aufzug benutzte Jakob nie, er stieg die Treppen hinauf und hinunter, die Hand fest um das dick überstrichene Geländer geschlossen. Im Halblicht, das durch die Fenster drang oder aus den Lampen sickerte, leuchtete der abgetretene Teppich, man spürte aber, wie fadenscheinig er war. Es waren Benthams Kanzleiräume seit bald vierzig Jahren, erfuhr Jakob durch seinen hintersinnigen Informanten Alistair, und natürlich sei die Adresse für einen damals noch jungen Anwalt alles andere als selbstverständlich gewesen, zumal für einen Immigranten. Es habe sich um ein Geschenk gehandelt. Hier war Maude, die dazukam, eine sehr viel unbefangenere Erzählerin, 1967, korrigierte sie, hätte Mister Bentham, damals zweiunddreißig Jahre alt und ein junger, schöner Mann, die Räume von einem Gönner — Alistair kicherte — zur Verfügung gestellt bekommen, bald allerdings selber erwerben können, da die Kanzlei nach kurzer Zeit zu den feinsten der Stadt gezählt habe, mehr als ungewöhnlich, denn Bentham sei alleine in London angekommen, mit einem Pappschild um den Hals, mit nichts, zur Adoption freigegeben; schließlich seien seine Eltern nachgefolgt und so der Ermordung entgangen, ohne aber je Fuß zu fassen, zumal ihr zweiter Sohn bald nach ihrer Ankunft starb. — Was für ein Schicksal! fügte sie, noch im nachhinein ängstlich um das Kind besorgt, hinzu. Aber Schicksal, dachte Jakob, war eben das falsche Wort. Auch er hatte, wenn er von diesen Geschichten hörte, an Schicksal gedacht, an verhängte Grausamkeit, an Unausweichliches. Die Wiedervereinigung war ihm als Chance erschienen, einen winzigen Teil des Unrechts dem Gesetz doch noch zu unterwerfen. Aber erst jetzt begann er, die Nazizeit als menschengemacht zu begreifen, als Politik, Handlung, Willen.

Daß Benthams Kindheit nicht der Grund für Maudes umständliche Fürsorge war, mit der sie ihn verabschiedete, wenn er abends aufbrach, nicht immer ganz sicher auf den Beinen, mit einer Geste, als wollte sie alle guten, liebenswürdigen Geister zu seinem Schutz anrufen, begriff Jakob, als er Bentham eines Abends unweit des Coliseums erspähte. Sein Herz setzte vor Freude einen Schlag aus, im nächsten Augenblick krampfte es sich aber zusammen, denn Bentham wartete, offenkundig vergeblich, auf jemandes Ankunft, einsam in seiner Eleganz und vollkommenen Haltung. Die Passanten betrachteten ihn verwundert, drängten sich an ihm vorbei, und Jakob war froh, außer Hörweite keine despektierlichen Bemerkungen aufschnappen zu können, denen der Mann in seinem weißen Anzug, mit einer schwarzen Fliege und hellen, makellosen Schuhen ausgesetzt schien. Er war sicher, nicht von ihm entdeckt zu werden, denn es war augenfällig, daß Bentham nur sehen würde, auf wen er wartete, und Jakob ging weiter, einer Verabredung mit Isabelle entgegen, flüchtete sich zu ihr und merkte, daß er gekränkt war. Es gab jemanden, der in Benthams Leben die entscheidende Rolle spielte.