Er ging Richtung Park und weiter zum Sowjetischen Ehrenmal, ein Kindergarten war nicht weit davon, zwischen den noch hellgrünen Büschen sah er bunte Flecken, hörte ihre Stimmen, so hell und selbstsicher, als riefen sie glücklich: Hier bin ich! Die Vögel zwitscherten und tschilpten, staunend beobachtete Jakob die vielen Spatzen, sie scharrten im Staub, es war sehr trocken, Sommer beinahe. Als er die Spree erreichte, sah er die Bucht, überlegte, ein Boot zu mieten für eine Stunde, sah die Inselchen, Liebesinsel und Kratzbruch, dann lag rechts der verlassene Vergnügungspark, in dem Dinosaurier verfielen, große Schwäne, die nackten Arme irgendwelcher Karussells. Auf einer Bank hockte ein Penner, grinste ihn frech an, winkte einer entgegenkommenden jungen Frau mit verweintem Gesicht, die einen Kinderwagen schob, anzüglich zu. Nun führte der Weg, schmaler geworden, direkt am Fluß entlang, der Wald rechts nur ein Streifen, am gegenüberliegenden Ufer eine Fabrik, unhörbar für Jakob fuhren Lastwagen ihre Ladung davon. Ein kleiner Steg ragte ins Wasser, doch ließ keine Fähre sich blicken, nur ein Lastkahn fuhr vorbei, Wroclaw hieß das Schiff, einen Menschen sah man darauf nicht, aber eine Wäscheleine, buntbedruckte Schürzen flatterten, und ein Fahrrad lehnte an der Reling. Der Steg dünstete den Geruch von warmem Holz und Sommer aus, plusterige Wolken glitten vorbei, und wie bekümmert über einen Verlust, dachte Jakob an Bentham. Er erinnerte sich an Fontanes Stechlin, an die Bootsfahrt, den Ausflug zum Eierhäuschen, eine sich anbahnende Liebe. Rückerstattung war eine Farce, wo es letztlich nicht um Orte, sondern um verlorene Lebens- und Erinnerungszeit ging, um die Erinnerung, die einem vorenthalten oder genommen war. Er wünschte sich, ins Wasser zu springen, kopfüber und mit geschlossenen Augen, in eine andere Haut zu schlüpfen, klarer, frischer und so lebendig wieder aufzutauchen, wie er niemals gewesen war. Erstaunt fragte er sich, ob er je etwas verloren hatte — seine Mutter hatte er verloren, aber seiner Kindheit trauerte er trotzdem nicht nach. Sein Elternhaus bedeutete ihm wenig, die Erinnerung an seine Mutter viel, und beides zusammen ergab vielleicht eine Umrißlinie, die er nur ausfüllen mußte. Den Teil einer Umrißlinie, ergänzte er bei sich, denn Isabelle und Bentham gehörten auch dazu.
Als er sich der U-Bahn-Station wieder näherte, nahm er sein Handy und wählte Andras’ Nummer, der ein wenig verwundert, aber erfreut klang, und sie verabredeten sich für den Abend.
Als Andras, eine halbe Stunde verspätet, die so langsam verging, als paßte der ganze nachmittägliche Spaziergang hinein, durch die Tür des Cafe´s Lenzig trat, erschrak Jakob, denn Andras wirkte größer, kräftiger geworden, auch schien er mühelos zu wissen, worüber Jakob mit ihm sprechen wollte.
— Hat Bentham nicht recht? sagte Andras. Du hast doch tatsächlich geglaubt, daß du eine Art Gerechtigkeit wiederherstellst. Dazu immerhin braucht man die Juden, während man die Jewish Claims Conference hier oft genug lieber im Orkus verschwinden sähe. Und die Vergangenheitsgespenster oder ihre Nachkommen, die allerdings Gespenstern ziemlich ähneln, spielen dem Staat den Beweis zu, daß in der Bundesrepublik alles bestens vonstatten gegangen und erledigt ist, daß sich nur die DDR mit ihrer lauten Unschuld vergangen hat. Die Politik spielt vergangenes Recht gegen das Recht der Vergangenheit aus, und das unter dem Decknamen Wahrheit.
— Was meinst du? fragte Jakob.
— Das Agieren der Bundesrepublik wird gerechtfertigt. Vielleicht wollen viele gar nicht, daß hier Juden leben, aber das ist der Preis, der zu bezahlen ist, um sich als Rechtsstaat behaupten zu können. Die anderen Folgen der Nazizeit läßt man doch hübsch in Ruhe, wärmt sie jetzt neu und anders auf, indem eben die Opfer der Deutschen, der Bombenkrieg, Schritt für Schritt in den Vordergrund marschieren. Verstehe mich nicht falsch, natürlich bin ich dafür, daß der gestohlene Besitz zurückerstattet wird, meinethalben als Besitz, nicht als Entschädigung. Aber trotzdem verstehe ich, wenn man es bizarr findet. Die Nachkommen der Vertriebenen und Ermordeten bewerben sich um die ausgestrichene Vergangenheit ihrer Vorfahren. Und gibt es ein deutsch-jüdisches Zusammenleben? Ich bin gar nicht sicher.
— Du lebst doch hier, ist das kein deutsch-jüdisches Zusammenleben? Und Rückerstattung heißt ja nicht, daß man hier leben muß.
— Nein, man muß hier nicht leben — dann ist das, wofür du arbeitest, allerdings doch eher Entschädigung, meinst du nicht auch? Mieteinnahmen und so weiter. Die lächerlichste Entschädigung für die Zerstörung dessen, was einer für sein Leben halten wollte. Und ich, ich lebe hier als Ungar, als Deutscher, wie du willst. Wer weiß schon, daß ich jüdisch bin? Peter weiß es nicht, Isabelle nicht. Keiner fragt, ich reibe es keinem unter die Nase. Warum sollte ich? Ich weiß selbst nicht genau, was es für mich bedeutet. Bin ich Jude? Ja, natürlich. Vor allem aber Exil-Ungar. Eine Exotik läßt die andere verschwinden. Daß es Israel gibt, läßt mich hier ruhiger leben.
— Warst du jemals in Israel?
— Mehrmals, es gibt bei Tel Aviv ein paar Verwandte, nicht so viele allerdings wie in Budapest. Andras lehnte sich zurück. Sie müssen ihre Geschichten gar nicht erzählen, es genügt, einen Tag mit ihnen zu verbringen. Ein bißchen ähnelt es einer ständigen Prozession, zu Läden und anderen Verwandten und Erledigungen, alles ein ständiges Aufrufen dessen, woran sich nur die Älteren noch erinnern. Für uns zerläuft das, meine Schwester und mein Schwager leben nicht anders als du und Isabelle, nehme ich an. Wenn ich dort bin, kramen meine Eltern aber noch einmal alles aus, was sie mir vorenthalten mußten, weil sie mich weggeschickt haben. Sie bilden sich ein, es wäre die Kindheit, dabei habe ich meine Kindheit ja bei ihnen verbracht. Ich war so lange nicht da, deswegen kleben an mir die Geschichten derer, die weggegangen, und derer, die dageblieben sind. Ihre Sehnsucht, ihr Ehrgeiz, ihre mißratenen Lieben und Ehebrüche und Lügen.
Jakob warf einen Blick aus dem Fenster, als könnte er zu seiner Wohnung hochschauen, die er unverändert vorgefunden hatte.
— Ich frage mich, ob es klug war, nach London zu gehen, sagte er. Es kommt mir vor, als würde mir dort etwas entgleiten, ich weiß nur nicht, was.
— Deswegen wolltest du mich sehen? Andras fragte freundlich, beinahe liebevoll.
— Heute nachmittag dachte ich, daß es eine Art Umrißlinie gibt, um das eigene Leben herum, und daß das genügt — aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Die Dinge verändern sich.
— Die Dinge?
Jakob schwieg. Dann sagte Andras: —Warum soll man nicht an zwei Orten leben? Wozu diese angeblichen Entscheidungen? Vielleicht findet man sich irgendwann in seine eigenen Umrisse hinein und begreift, daß es ausreichend ist, mehr als ausreichend.
Am nächsten Tag hatte Jakob einen Termin im Verwaltungsgericht. Hans holte ihn ab, sie gingen essen, beide vorsichtig, enttäuscht, und vergeblich suchte Jakob nach etwas, das er Hans sagen könnte. Komm zu Besuch, wollte er sagen und unterließ es. Hans brachte ihn nach Tegel. Zum Abschied umarmten sie sich lange, und als er Hans lächeln sah, tapfer und betrübt und liebevoll, streichelte er vorsichtig seinen Arm.
Das Flugzeug näherte sich Heathrow, kreiste in einer Schleife über der Stadt, Regent’s Park war zu erkennen, die Great Portland Street, und Jakob versuchte vergeblich, vom Sicherheitsgurt gehalten und von einem strengen Blick der Stewardeß ermahnt, sich aufzurichten, um vielleicht die Devonshire Street zu entdecken.
Die folgenden Tage kam Bentham nicht ins Büro, und keiner sagte Jakob, wo er war.