Und die Zukunft mischte sich nicht ins Spiel, sie verwandelte sich in Gegenwart, das war alles. Der Plan, in die Potsdamer Straße umzuziehen, das alte Büro aufzugeben, ließ sich ebenso leicht umsetzen wie die Entscheidung, nicht länger zu malen. Isabelle würde wieder dazukommen oder nicht. Er hatte sich über die Lüge seines Onkels (daß er als Arzt arbeite, aber eigentlich nur Krankenpfleger war) nicht gewundert und nicht über das hingebungsvolle Scheitern seiner Tante. Budapest war, wie er es auch drehte und wendete, verblaßt, ein Schemen, wenn auch auf eigene Weise lebendig, und seine Eltern hatten getan, was sie tun mußten, denn sie glaubten, wenigstens ein Kind zu retten, als sie es dahin schickten, wo sie selbst ermordet worden wären. Alles dumm und ernst. Es war genug entschieden in seinem Leben, und wie ein irrsinnig gewachsener, unliebsamer Gast dehnte sich die Vergangenheit, rekelte sich wie eine alte Katze, lag riesengroß auf Tisch und Bett, die Krallen abgebrochen, doch immer noch eine Masse Fell und Fleisch, die einen fortgetrieben hätten, wenn man gewußt hätte, wohin. — Mein Lieber, zieh hier endlich aus, hatte Magda ihm gesagt, ob nach Budapest oder innerhalb Berlins ist ganz gleichgültig, in diesem Loch verkommst du ja. Es wäre leicht gewesen, zu ihr zu ziehen, er war sicher, daß sie auf seine Frage gewartet hatte, zwei Zimmer und ein Bad für ihn, und abgetrennt, sie würde sich nicht einmischen, wußte er, ihm einen Schlüssel aushändigen zur hinteren Wohnungstür. — Noch eine Möglichkeit, die du ausschlagen kannst? hatte La´szlo´ kommentiert. Und dann war Magda gegangen. La´szlo´ versuchte noch einmal, ihn nach Budapest zu holen, er kam nach Berlin, fünf Kilo schlanker, seit er ins Sportstudio ging: —Direkt über dem Fluß, ein herrlicher Ausblick, Power Walking auf der Stelle, erklärte er grinsend, und daß Andras neue Hemden kaufen müsse. — Schenk die Lederjacke deinem Penner, du siehst fürchterlich aus. Aber es war unmöglich, mit Andras Pläne zu machen. — Worauf wartest du denn noch, was interessiert dich denn? fragte La´szlo´ schließlich verzweifelt. Nichts weiter, nur die ersten warmen Abende, dachte Andras, die Akazien, und daß Isabelle nicht antwortet. Die Vergangenheit interessierte ihn nicht, sie war die riesige osteuropäische und jüdische Katze, ungebeten wuchs sie, beanspruchte Platz. Er konnte ihr nur ausweichen, indem er unauffällig an ihr vorbeischlich.
Dann fand er eine Nachricht von Isabelle, kurz und leichthin geschrieben, dabei eine Zeichnung, ein Mädchen rannte in einem roten Mantel, rannte hastig, wie in Panik davon, und er las, Das Nachbarskind ist das Vorbild, obwohl ich es auf der Straße noch nie gesehen habe, es darf wahrscheinlich nicht aus dem Haus und ist sehr blaß.
Über das neue Büro schrieb sie nichts, schickte nur eine Vollmacht an Peter, Hans kümmerte sich um den Vertrag, und Andras sagte La´szlo´, daß er für drei Wochen nach Budapest kommen würde. — Fahr nur, sagte Peter verärgert, es reicht ja, wenn einer da ist, der sich um alles kümmern kann. Du könntest allerdings ein paar neue Kunden aus Budapest mitbringen. Wenn hier keiner Akquise macht, muß man sie eben aus Budapest oder London importieren. Wie denkt ihr euch das eigentlich? Wir leben schließlich alle drei von der Agentur!
Sie arbeiteten diese Nacht bis zwei Uhr morgens, und als sie sich am nächsten Tag wiedertrafen, nebeneinander im Fenster lehnten, sagte Peter: —Das war es doch, was wir wollten? Eine Grafik-Agentur? Sonja kam an die Tür, zwei Telefone in der Hand, winkte verzweifelt, da ein drittes klingelte, aber die beiden Männer ignorierten sie, lehnten am Fenster in der Sonne, sie fühlten sich wohl miteinander, — wenn Isabelle käme, wäre es auch nicht leichter, sagte Peter, aber wahrscheinlich vermißt du sie.
— Ich vermisse sie gar nicht, das ist es ja. Weißt du, ich war neulich auf dem Friedhof bei Hanna. Und Magda meldet sich wirklich nicht mehr. Aber ich bin nicht niedergeschlagen. Wir machen weiter, es geht doch eigentlich sehr gut, wir sind bloß älter und vielleicht schneller müde, das ist alles. Ich habe mir vorgestellt, irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man weiß, jetzt gilt es, und dann trifft man eine Entscheidung. Womöglich stimmt das gar nicht. Als ich Jakob getroffen habe, bekam ich es mit der Angst. Als würde er etwas suchen, blindlings, und Isabelle rennt irgendwo hin, wie das Mädchen mit dem roten Mantel.
— Für mich gilt nichts mehr, seit Hanna tot ist, sagte Peter langsam. Ich dachte, es liegt daran, an ihrem Tod. Die Arbeit läuft weiter, die Wohnung hat sich kaum verändert, Sonja zieht zu mir, ich wollte es dir schon länger sagen. Er lachte und fuhr sich mit der Hand durch das kurze, graue Haar. — Am Ende kriegst du noch deine Isabelle, obwohl ich gar nicht weiß, ob ich dir das wünschen soll. Magda ist ein anderes Kaliber.
Sonja kam mit einem Zettel ins Zimmer, und Peter trat auf sie zu, küßte sie auf den Mund. — Ich habe es ihm gesagt. Nun gib uns schon deinen Segen, Andras!
Ein paar Nächte später schreckte er aus dem Schlaf, schaltete mit zittrigen Händen das Licht ein, schaute auf die Uhr. Fast vier Uhr, zu spät, um Magda anzurufen. Aber nicht von ihr hatte er geträumt, sondern von Isabelle, sie stand in einem kahlen Zimmer im Neonlicht, nackt und älter, als sie in Wirklichkeit war, eine alternde Frau in einem kindlichen Körper und mit leerem, hilflosem Gesicht. Andras stand auf, ging ins Bad, zum ersten Mal störte ihn, daß der Spiegel voller stumpfer Flecken war. Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüften und ging ans Fenster, zündete sich eine Zigarette an, hustete. Das Bild wich nicht, er suchte nach Isabelles Gesicht, das er liebte, doch was er sah, blieb fremd und bedrückend, als wäre dies ihr endgültiges Gesicht, so ängstlich und kalt. Aber, dachte er, sie war nicht alleine im Zimmer gewesen, und er erinnerte sich an den grauen Teppich, fleckig, abgetreten, selbst im Traum mußte sie sich wieder anziehen und gehen, und wer immer dort war, würde zurückbleiben. Um sechs Uhr duschte Andras, zog sich an, ging hinaus, traf den Zeitungsausträger, der vor ihm ausspuckte, der Morgen roch staubig, und in dem aufsteigenden Licht war nichts tröstlich, ein Zeitschriftenhändler lud Pakete von einem Laster, der Verkehr nahm endlich zu, zwei Polizisten musterten ihn gleichgültig, ein Zug fuhr vorbei. Wie er daran festhielt, daß Isabelle blieb, was er liebte, unversehrt, durchsichtig, ohne besondere Wünsche, ohne etwas, das befremdete, abstieß, ohne etwas, das weiterführte, aus der Gegenwart heraus in das Wirrwarr von Hoffnung oder Begehren oder Ehrgeiz. Altmodisch, dachte er, auf ihre Weise, aber vielleicht war sie manchmal gemein.
La´szlo´ hatte ihn überredet, drei Wochen wenigstens in Budapest zu verbringen, — deiner Schwester, deinen Eltern zuliebe. Morgen würden sie fliegen.
Im Büro fand er eine Mail von Isabelle. Unser Nachbarskind habe ich heute zum ersten Mal auf der Straße gesehen, im Schlepptau ihres Vaters. Es war wie eine Szene aus einem Ken-Loach-Film. Sie hat strähniges Haar und ist sehr blaß. Ihr Vater ließ sie auf der Straße stehen und rannte wutentbrannt weiter, ich habe nicht verstanden, was er gebrüllt hat. Er brüllte, und ich stand am offenen Fenster, so wie Du es oft tust. Das ist London, für mich, dazu natürlich Jakob und alles, was wir mit Alistair unternehmen. Plötzlich hatte ich Sehnsucht nach der Dircksenstraße, und dabei ziehen wir wirklich um, schreibt Peter. Hans hat den Vertrag gefaxt. Peter schreibt auch, daß du nach Budapest fährst. Gute Reise, Isabelle.