Abends traf er vor seiner Wohnungstür Herrn Schmidt, wartend, aufgerichtet und sehr verlegen. — Hören Sie, Ihre Freundin war hier, sagte er Andras, so leise, als wäre es ein Geheimnis. Mit den roten Haaren, Sie wissen schon. Dann verbeugte er sich leicht und stieg die Treppen hinauf, bevor Andras etwas erwidern konnte.
Eine Nachricht hatte Magda nicht hinterlassen. Langsam packte er Hemden und Wäsche und Hosen in einen Koffer, und bevor er sich schlafen legte, stellte er den Wecker. Um acht Uhr sollte La´szlo´ ihn abholen.
27
Der Pianist hatte abgesagt und jemand anderes sprang für ihn ein; ein älterer Mann, der ungepflegt wirkte, sagte es ihnen am Eingang, einer der Alten, die in der Gegend, in einem der Häuser des sozialen Wohnungsbaus, wohnten und sich über das billige Konzert und eine Tasse Tee freuten. — Aber der Tee ist lausig, flüsterte Jakob Isabelle zu, den Plastikbecher vorsichtig auf dem Handteller balancierend. Sie stellten sich an den Rand der Eingangshalle, betrachteten die schäbigen Wände, den abgetretenen Fußboden, das hinund herströmende Publikum, regelmäßige Gäste die meisten, so schien es, die lächelten und nickten, zwischen Krücken und Rollstühlen, und dazwischen leuchtete eine Frau im hellroten Kleid, mit einem violettfarbenen Fächer. Jakob und Isabelle weckten das Wohlwollen der anderen, sie waren die Jüngsten, sie standen dicht nebeneinander wie Kinder, die sich in eine Versammlung Erwachsener eingeschlichen haben, amüsiert, erwartungsvoll. Man lächelte ihnen zu, grüßte sie mit einem Kopfnicken, anerkennend, daß sie hier waren, in der Conway Hall, ein Mann nickte heftiger, um seine Freude auszudrücken, junge Leute, die sich für Musik interessierten, und die beiden glänzten zwischen den schlaffen, schlecht gekleideten Körpern, den Armen voller Altersflekken, dem dünnen Haar, den fetten oder igelmageren Beinen, — wie in einem Fellini-Film, flüsterte Jakob und zeigte auf ein Paar dick geschwollener Füße, bläulich verfärbt, in Sandalen. Sie hatten am Nachmittag, bevor sie zur Conway Hall aufgebrochen waren, miteinander geschlafen, und als sie aus dem Haus gingen, hängte Isabelle sich bei Jakob ein. Es war Sonntagnachmittag, sie fuhren bis zur Warren Street und stiegen aus, um durch die stillen Straßen bis zum Red Lion Square zu laufen, — wie still es ist an einem Sonntag, sagte Isabelle zu Jakob, alle halten ihren Mittagsschlaf, die ganze Stadt so friedlich, und Jakob nickte, aber sie gingen gerade an einer der Videokameras vorbei, und hier war das Neue Europa, überwacht, vorbereitet, zählte die Tage, dachte Jakob, er legte seinen Arm um Isabelle. Waren sie in Sicherheit? Ja, sie waren in Sicherheit, an einem Sonntagnachmittag, auf dem Weg zum Red Lion Square, der abseits lag, so daß sie sich verliefen, vorbei an der Red Lion Street, und in den verlassenen Straßen — niemand, den man fragen konnte — umherirrten. Aber es war genug Zeit. Die Bedrohung war noch eine Maskerade, wie Bush auf seinem Kriegsschiff, wie das Ende des Krieges, wollte er Isabelle sagen, etwas, woran wir uns erinnern werden, als wäre es irreal und geschmacklos, aber irgendwann wird das Wirklichkeit werden und uns bedrohen. Sie gingen Hand in Hand. Bentham hatte ihm von der Conway Hall erzählt, wo es Kammermusikkonzerte gab, jeden Sonntag, seit dreißig Jahren oder länger, und jedenfalls war die Conway Hall 1929 eröffnet worden, zu Ehren des frommen Amerikaners Conway, der Geld gestiftet hatte, der die Welt verbessern wollte, und deswegen gab es jetzt die Konzerte für drei Pfund, dazu eine Tasse Tee, was nicht ganz stimmte, sagte sich Jakob, als sie den Tee aus Plastikbechern tranken, denn man zahlte fünfzig Cent extra. Es war alles sehr staubig. Die Leute begrüßten sich, einige nahmen ihre Plätze ein, man sah nun doch elegante Frauen in langen Kleidern, Männer in hellen Anzügen, und Jakob hielt unruhig nach Bentham Ausschau, der nicht gesagt hatte, daß er kommen wollte, aber Jakob behielt die Tür im Auge, denn noch war Zeit, bis die Musik begann. Dann wurden die Türen geschlossen, das Licht legte sich matt auf die Stuhlreihen, die Empore, das hölzerne Podest, die Wände waren rissig und gelblich verfärbt, der Holzboden abgetreten, er knarrte unter Jakobs Schuhen, wenn er die Füße bewegte. Wie ärmlich das alles war, verschroben, lächerlich. Der alte Mann zu seiner Rechten stieß ihn in die Seite, versehentlich, ohne es zu bemerken. Schlaffes, altes Fleisch, dachte Jakob und heftete seinen Blick auf die Bühne, auf der eine Frau in einem gelben Umschlagtuch, mit weißen, engen Hosen stand und etwas ankündigte, worauf Stühle gerückt wurden, noch einmal verzögerte sich der Beginn des Konzerts, und drei Männer machten sich an dem Flügel zu schaffen. Isabelle küßte ihn auf die Wange, stand auf, um wieder hinauszugehen, Tee zu trinken, wie unverdrossen sie ist, dachte Jakob und stand ebenfalls auf, trat in die laue Frühsommerluft, der kleine Platz lag aufgerissen da, zur Hälfte von Bauzäunen abgetrennt, ein Nachzügler eilte über Holzbohlen, die den aufgerissenen Asphalt, die Wasser- und Abflußrohre bedeckten. Da ist sie, dachte Jakob, er spürte, wie Isabelle sich näherte, bevor er sie sah, und er schämte sich, als er sich umdrehte, sie beobachtete. Vor zwei oder drei Stunden hatten sie im Bett gelegen. Er hatte ihren Bauch und ihre Hüfte gestreichelt, die weiche, warme Haut, er hatte gewußt, daß es nichts Angenehmeres für ihn gab, und jetzt war er mißvergnügt, undankbar, weil seine heimliche und eigentlich unberechtigte Hoffnung, Bentham zu sehen, sich nicht erfüllte. Eine Klingel schrillte. Er küßte Isabelle, bevor sie hineingingen, die Frau mit dem gelben Umschlagtuch stand vor dem Podium, winkte, der Flügel war verschwunden, an seiner Stelle stand ein Cembalo, vor dem ein schlecht rasierter Mann ungeduldig darauf wartete, endlich anfangen zu können. — Keine Klaviermusik! rief er ins Publikum und hob die langen, braun gefleckten Hände. Als er begann, erschrak Jakob, aber alles schien in Ordnung, er versuchte zuzuhören, der Klang des Cembalos war ungewohnt, er schaute auf seine Füße und wieder zu dem Mann, der dort spielte, jeder Ton so deutlich wie ein spitzer, kalter Regentropfen. Es war unbarmherzig, wie er spielte, rachsüchtig, und das Publikum saß bewegungslos, eingeschüchtert, kein Laut, kein Rascheln oder Räuspern war zu hören, Jakob spürte Isabelles Körper nicht, sah nur den rechten, nackten Arm, glatt, ohne Gänsehaut. Sie saß unbewegt, sie hatte ihn vergessen.
Es war ein regnerischer Junitag, der Park beinahe leer, nur am unteren Teich spielten zwei Kinder mit einem Holzschiffchen, eine Frau mit gerötetem, angespanntem Gesicht joggte vorbei, Jakob folgte ihr mit den Blicken und dachte an den Mörder, der vier Frauen mit einem Backstein erschlagen hatte, einem Backstein oder einem anderen stumpfen Gegenstand. Die eine mußte ihn gesehen haben, denn sie hatte mit ihrer Mutter in Norwegen telefoniert, als sie angegriffen wurde, und die Mutter, so stand in der Zeitung, hatte den kurzen Angstschrei gehört, das flehentliche Bitte nicht!, bevor die Verbindung abgebrochen war. In Batterfield Park sollte heute der zweite Mord nachgestellt werden, alle Zeugen waren aufgefordert, sich dort einzufinden, alle, die an jenem Tag vor zwei Wochen mittags dort gewesen waren, um spazierenzugehen oder zu joggen oder ihre Hunde auszuführen. Die Tote hatte man in einem Gebüsch gefunden, gegen drei Uhr.
Wieder begann es zu nieseln. Jakob lief einen Hügel hinauf, auf eine Gruppe alter Bäume zu, Isabelle hatte ihn nicht begleiten wollen. Sonntag war ein Tag, mit dem sie beide nicht viel anzufangen wußten. Sie waren auf dem Portobello Market gewesen, im East End, in Greenwich, in der Durham Collection und letzten Sonntag in der Conway Hall. An einem der nächsten Wochenenden wollten sie nach Kew Gardens, bevor die letzten Rhododendren verblüht waren.