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Wie sollte er Isabelle gegenübertreten, fragte Jakob sich, als er schließlich in die Lady Margaret Road einbog. Er hätte sich aber nicht sorgen müssen, denn sie war nicht da. Auf ihrem Tisch lag eine Tuschezeichnung. Das Mädchen kletterte auf einen Baum, unten stand ein alter Mann und schaute hinauf. Isabelle veränderte sich auch, spürte er, es war, als beträten sie, jeder für sich, unbekanntes Terrain, und er fürchtete sich vor dem, was es mit sich bringen mochte. Er setzte sich in ihr Zimmer, um auf sie zu warten.

Diesmal war er froh, daß Bentham die ganze Woche nicht in die Kanzlei kam. Als am Donnerstag Jakob als einziger im oberen Stockwerk zurückblieb — Mrs. Gilman hörte er in der Bibliothek staubsaugen — , betrat er das leere Zimmer, schaltete das Licht nicht ein, blieb neben der Tür stehen. Er stand dort, bis Mrs. Gilman die Treppe hinaufkam. Um halb neun verließ er schließlich die Kanzlei und beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen. Regent’s Park war noch offen, es war ein lauer Abend, Paare lagen im Gras, schlenderten umarmt und Hand in Hand. Jakob fühlte sich ruhig und zufrieden, als hätte er eine schwierige Aufgabe gelöst. Der Park war großzügig hingebreitet, man sah bis Primrose Hill hinauf, ein Stück Landschaft mitten in der Stadt, freundlich, wohlwollend, um das Leben in der Stadt zu erleichtern, die Anspannung zu mildern. Ebenso wie die anderen Männer seines Alters in Anzug, die Krawatte gelöst oder in die Tasche gesteckt, kam er von der Arbeit und ging nach Hause. Sein Körper war zuverlässig, er atmete, spürte die Muskeln seiner Beine, fühlte sich wohl. Die Schuhe waren neu und handgearbeitet. Der Sommerabend täuschte ihn vielleicht, aber was lag daran? Er dachte an Bentham, an Isabelle und Alistair und auch an Hans, mit einer Zärtlichkeit, die ihm neu war. Man mußte Entfernungen nicht verringern, nicht einmal überbrücken.

Bald erreichte er den nordwestlichen Ausgang, es tat ihm leid, vom Park Abschied nehmen zu müssen, aber da stand schon der Wärter, bereit, das Tor zu schließen. An der Ampel sah er Maude. Fröhlich rief er ihren Namen. Sie schaute sich erschrocken um, dann kam sie rasch auf ihn zu. Er roch ihr Parfüm, ein altmodisches Parfüm, das ihn an seine Tante erinnerte, sie trug ein hellblaues Kleid, darüber einen weißen Sommermantel. — Ich treffe meine Freundin am Kino, erklärte sie, als sie seinen Blick bemerkte. — Dabei weiß ich nicht einmal, was für einen Film wir anschauen werden. — Nun, sie wird es gut ausgesucht haben, sagte Jakob freundlich und hielt Maude, die auf die Straße trat, ohne zu bemerken, daß ein Auto kam, am Arm fest. — Es ist albern, sagte sie, aber ich mache mir immer Sorgen um Mister Bentham, wenn er nicht ins Büro kommt. Sie zögerte. Sie mögen ihn, nicht wahr? Er macht das seit Jahren, seit sein Lebensgefährte umgekommen ist. Mietet sich in einem Hotel für ein paar Tage ein. Trifft wohl auch, Sie wissen schon.

— Ich wußte nicht, daß sein Freund ums Leben gekommen ist, sagte Jakob verlegen.

— Bei einem Motorradunfall vor fünfzehn Jahren, sie sind verunglückt, Mister Bentham ist fast nichts geschehen, aber Graham war auf der Stelle tot. Und jetzt, in seinem Alter, erträgt er die Einsamkeit nicht.

— Vielleicht ist es gut, wie er es macht? Sicher weiß er, was er tut.

Maude sah ihn an, empört, fragend. — Gut? Mit jungen Männern, von denen man nicht weiß, woher sie kommen?

— War Graham so alt wie er?

— Zwanzig Jahre jünger. Ich sollte darüber gar nicht sprechen. Aber ich sorge mich um ihn, und keiner weiß, was geschieht, bis er zurückkommt, und natürlich stellt man keine Fragen.

— Alistair sagt er auch nicht, wo er hingeht? Jakob bereute die Frage, als er sah, wie verletzt Maude war.

— Alistair soll er es sagen, wenn er es mir nicht sagt? Inzwischen hatten sie das Kino beinahe erreicht. Eine Frau in Maudes Alter kam winkend auf sie zu. Vor dem Eingang standen dicht gedrängt Leute, ein Bettler zwängte sich dazwischen, der Verkehr auf der Kreuzung war ins Stocken geraten. Jakob verabschiedete sich hastig und lief die Kentish Town Road hinauf. Eine Frau, die drei kleine Kinder bei sich hatte, verstellte ihm den Weg, eines der Kinder trug eine Augenklappe, die Frau streckte ihm einen Zettel hin und hielt ihn flehend am Arm. Ungeduldig machte er sich frei, sie trat demütig zur Seite, murmelte leise vor sich hin, — Irak, wir sind aus dem Irak, hörte Jakob, und er lief schnell weiter, die Tasche fest umklammert. Ein paar Meter weiter mußte er stehenbleiben, weil eine Menschenmenge den Bürgersteig versperrte, einige riefen, johlten, darüber klang die Stimme eines Mannes, eines Predigers, so schien es, aber Gelächter und Zwischenrufe waren zu laut, als daß Jakob ihn hätte verstehen können. Dann wurde es aber leiser, und alle hörten zu. Jakob schaute zu der jungen Frau hinüber, die neben ihm stand, betrachtete das rundliche, dunkle Gesicht. Über der Nase berührten sich die Augenbrauen, zwei zarte Linien, die einander begegneten. Er beugte sich zurück, hoffte, sie weiter unbemerkt betrachten zu können, als sie den Kopf umwandte und ihn aus mandelförmigen Augen ansah, die fast schwarze Iris von makellosem Weiß umgeben. Nach einem Moment löste sich etwas in ihrem Blick, wich das Mißtrauen, und ärgerlich spürte Jakob, daß er rot wurde, aber er konnte sich nicht losreißen; nur eine winzige Veränderung, dachte er, zwischen Mißtrauen und Wärme, ablesbar an der Stellung der Augen, der Linie der Augenbrauen, eine Nuance, die weniger einer Sprache als einem Code ähnelte, und wieder fühlte er sich ausgeschlossen. Gleich würde sie sich abwenden. Wortfetzen von dem, was der Prediger rief — ein kräftiger Mann mit dickem, zerzaustem Haar und einem kühnen Gesicht — , drangen an sein Ohr. Die Frau wandte sich ab. Was war es gewesen, das er zuletzt in ihrem Blick las? Enttäuschte Neugierde. Mitleid.

— Auf Jesus wartet ihr, auf Mohammed? Auf das Home Office? Der Prediger hatte sich halb umgedreht und stand Jakob jetzt gegenüber. — Die Verzweiflung der Hingeschlachteten wird euch erreichen, die Rache des Kriegs und der Angst. Ihr werdet Staub fressen, nicht den Staub der Schlange, sondern den schwarzen Staub der Untergrundschächte, auf dem Geröll, den Gleisen werdet ihr euch entlangschleppen und beten, noch einmal das Tageslicht sehen zu dürfen. Euer Schweiß wird sich schwarz färben, und die Todesangst euer Gesicht verzerren, zu der Maske, die es jetzt schon ist. Man kann wer weiß wie viele Scheinwerfer auf euch richten, das Licht hilft nichts, ihr hockt in eurer Dunkelheit, und nachts befällt euch die Ahnung, nicht wahr? Wenn die Angst hochsteigt, als wärt ihr Verbrecher auf den Sandbänken der Themse, angekettet, während die Flut kommt. Auf was wartet ihr, um euch zu retten? Welche Grausamkeit hat sich noch nicht in eure Augen gebrannt? Welchen Angstschrei habt ihr noch nicht gehört?

Er machte eine Pause und wandte das Gesicht zum Himmel, schaute dann wieder in die Menge, die unruhig zu werden begann — worüber hatten sie gelacht? fragte sich Jakob — , einige gingen, andere gesellten sich dazu, und Jakob wurde nach vorne gedrängt, stemmte die Beine in den Boden, um nicht die Frau anzurempeln, deren schlanken Hals er vor sich sah, so nah, daß er einzelne Härchen unterscheiden konnte, Flaum, der heller war als ihr Haar, den Wirbel, der hervortrat wie ein Knopf, delikat, zerbrechlich. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen, kämpfte gegen den Wunsch, den Nacken zu streicheln, den Kopf sachte zu sich herzudrehen.