— Ihr harrt aus. Geduldig, blind, und schließlich erinnert ihr euch an nichts mehr. Die Straße, seht ihr? Seht ihr die Bettler? Seht ihr die Toten? Erinnert ihr euch denn an nichts? Wißt ihr nichts? Ihr habt recht, Jesus zu vergessen, für euch ist er nicht gestorben, am Kreuz ist er gestorben, fragt die Toten, für wen. Fragt euch lieber, für wen ihr denn lebt, für wen ihr atmet, für wen es Sommer wird, für wen alles blüht und die Spannung sich ins Unerträgliche steigert. Seht ihr die Schönheit, selbst hier, wie lange es dämmert, wie die Dunkelheit zögernd herbeischleicht, um euch zu umfangen, während die Sirenen schrillen, während einer sich in seinem Dreck wälzt, während ein paar Meter weiter, ein paar Stunden später einer umkommt, erschossen, erstochen, weil ihr die Augen verschließt, weil ihr nichts sehen wollt, weil die Totenfahrt längst schon bezahlt ist durch euren Raub. Diebe sind wir, wie wir hier leben. Jeder Tag auf dem Rücken derer, die gebückt nach einem Unterstand, nach einem Aufschub suchen. Steht noch dahin, sagt ihr, ob uns das Unglück trifft. Aber es wird treffen, es wird uns treffen und unsere Herzlosigkeit. Wir haben kein Recht zu überleben. Wir sind nackt. Noch leben wir, das ist alles.
— Was soll das? flüsterte Jakob, beugte sich ein Stück nach vorne, damit sein Atem die glatte Haut vor ihm erreichte. Sie richtete sich eine winzige Spur auf, drehte den Kopf ein wenig, zum Zeichen, daß sie ihn hörte, bewegte die Schultern nicht. — Er ist gleich fertig, sagte sie nur.
— Vielleicht lebt noch, wen Sanitäter auf die Tragbahre hievten. Vielleicht lebt einer mit von Glassplittern zerschnittenem Gesicht. Vielleicht lebt einer, dem der Arm, dem das Bein abgerissen wurde. Vielleicht winselt einer in einem der Gefängnisse, die wir bezahlen, hofft auf den Tod. Was haben wir, was halten wir in Händen? Daß uns noch nichts zugestoßen ist. Sollen wir dafür dankbar sein? fragt ihr, und ich sage nein. Dankbar nicht, aber demütig. Richtet euch auf und seid demütig und duldet nicht, was ihr an Unerträglichem seht. Ist der Krieg vorbei? Er ist vorbei, ruft ihr, und ihr wißt, daß ihr lügt. Ihr wißt, daß die zukünftigen Toten schon das Zeichen auf der Stirn tragen. Ihr wißt, daß Menschen nächtelang schluchzen und sich fürchten. Sie sehen ihre Kinder sterben. Sie sehen ihre Liebsten sterben. Sie sehen den Staub, der sich nicht setzen will, denn wir wirbeln ihn auf.
— Mein Gott, sagte Jakob. Der Redner richtete sich auf, als hätte er Jakob gehört. — Sie werden es begreifen, bald schon, rief er Jakob zu, Sie werden es begreifen, und heute, heute und eines Tages werden Sie glücklich sein. — Aber was will er, sagte Jakob noch einmal, während die Menge sich zerstreute, gleichmütig, ungerührt, obwohl sie so geduldig zugehört hatte. Es war jetzt fast dunkel, Jakob fühlte, wie Augen ihn neugierig musterten, und die Frau, die vor ihm stand, drehte sich endlich um, lachte ihn an. — Ich heiße Miriam, sagte sie. Wie auf ein Zeichen ließen die anderen Blicke von ihm ab, verschwanden Richtung Untergrundbahn, liefen nach rechts und links, und der Prediger packte einen Beutel, einen Schlafsack, verschwand auch. — Dir ist kalt, Miriam griff Jakobs Hand wie die eines Kindes. — Ich mache dir Tee, sagte sie, als wäre es selbstverständlich, komm nur, es ist nicht weit von hier, und da ging sie neben ihm, hielt seine Hand, ging mit schnellen Schritten, so freundlich, dachte Jakob benommen, so zuversichtlich. Er zitterte, als sie ein Zimmer betraten, in dem nur ein Tisch und ein Sofa standen, über einem niedrigen Bücherregal hingen Fotos, es wirkte einladend und doch traurig. — Darf ich dir die Schuhe ausziehen? fragte sie, als er auf dem Sofa saß, streifte ihren Pullover ab, schlüpfte aus den Jeans, kniete halb nackt vor ihm, lächelnd, löste die Schuhbänder, streifte die Schuhe von seinen Füßen, nahm den rechten Fuß in ihre beiden Hände. — Jona heißt er, der Prediger, wir kennen uns seit Jahren, er war einmal mein Lehrer, dann traf ich ihn auf der Straße, wild damals, verzweifelt. Als er anfing zu predigen — aber es ist ja keine Predigt! — , dachte ich, er sei verrückt geworden. Er zeigte auf einen der Zuhörer und sagte mir, ich solle ihn mit nach Hause nehmen. Er behauptet, daß man immer wieder Menschen trifft, die man lieben könnte, auch wenn es das Leben nicht zulasse, nur ein Zufall, sagte er, der uns nicht blind für diejenigen machen darf, denen wir Zuneigung entgegenbringen. Und ich gehorchte tatsächlich, ich weiß nicht warum. Mit Sex hat das nichts zu tun. Miriam lachte leise, ließ den rechten Fuß zu Boden gleiten, hob den linken in ihren Schoß. —Gleich koche ich dir eine Tasse Tee.
Er saß auf dem Sofa, wach und schläfrig zugleich, sah auf das Bücherregal, die Fotos, auf das heitere Leben, das sie abbildeten, er sah Miriam, die ein Kind an ihre Brust drückte, strahlend den Fotografen anlachte und dabei das Kind neckte, das heller war als sie, grüne Augen hatte und ebenfalls glücklich aussah, übermütig, viel zu glücklich, dachte Jakob bedrückt, als wäre etwas in der Atmosphäre des Zimmers, das die Dauer dieses Glücks unmöglich machte. — Wer ist das? fragte er Miriam, als sie mit einer Teekanne und zwei Bechern ins Zimmer trat, — auf dem Foto? und beobachtete, wie sie die Kanne, zwei Becher auf einem Hocker abstellte. Sie hatte einen kurzen Rock angezogen. — Mein Sohn Tim, sagte sie. — Unser Sohn, Jonas und mein Sohn. Wir waren verheiratet, aber nach ein paar Monaten verschwand er, ließ mich vor Sorge fast verrückt werden, schrieb einen einzigen Brief, der unleserlich war, weil er Wasser über die Tinte gekippt hatte, ließ nur den Schatten seiner Schrift als Lebenszeichen, und ich zog aus meiner Wohnung in Clapham aus, hierher. Tim kam zur Welt. Meine Eltern unterstützten mich, ich konnte sogar wieder studieren. Sie zog mit ungeduldigen, schmalen Händen an ihrem Rock. — Du hörst nicht zu, sagte sie, doch Jakob hörte sie nicht. Sie hockte sich vor das Sofa. Seine Hände zitterten wieder, seine Füße, sie zog seine Füße in ihren Schoß, streichelte sie. Aber Isabelle würde das nie tun, dachte er, sie scheute sich, in ihren Zärtlichkeiten war immer etwas Beiläufiges oder sogar Heimliches, als fürchtete man, einander oder sich selbst zu beschämen, aufzudekken, was verborgen bleiben sollte. Er schloß die Augen, spürte, wie Miriam ihm die Strümpfe auszog, jeden Zeh erst vorsichtig berührte, streichelte, er wollte sich aufrichten, aber etwas zwang ihn aufs Sofa zurück, etwas, das ihm das Herz zusammenpreßte und Tränen in die Augen trieb. Das Foto, dachte er, der kräftige Kinderkörper, der sich aus Miriams Armen wand, ungeduldig zappelnd, um gleich loszurennen, und er rannte, rannte, überglücklich und wild, über die regennasse Straße, der Asphalt gleißte im Abendlicht, Tim drehte sich um und winkte, was der Autofahrer nicht sah, denn er sah Tim nicht, sah nichts als das grelle Licht, spürte nur den Aufprall. Da bremste er. Jakob schauderte, etwas zersprang, sein Körper bäumte sich auf, er öffnete die Augen und starrte Miriam ungläubig an, streckte die Arme nach ihr aus, verwirrt von seiner Sehnsucht und seinem Kummer. Warum nur, dachte er wieder und wieder, wie kann sie es ertragen? War es so? fragte er sich. Er umarmte sie, das Zittern war anders jetzt, unauffälliger, wie ein dünner Stoff um seine Liebe und seine Bangnis, Erinnerungen mischten sich mit Miriams Geruch, mit dem Geruch des Juniregens in Hampstead Heath, er sah die beiden Männer, den jüngeren auftrumpfen, spotten, aber es war soviel Zärtlichkeit darin wie in der Geste, mit der ihn der ältere sorgsam trockenrieb. Während er Miriam an sich preßte, hoffte er, der ältere möge wirklich Bentham gewesen sein. Er wiegte sie und wußte, daß er gleich gehen müßte, weil sie es so wollte. Betäubt, gehorsam folgte er ihrem Signal, und als er das Haus verließ, achtete er nicht darauf, wo er gewesen war, lief blindlings, bis er eine Straße wiedererkannte, an den Kanal gelangte, dessen schwarzes Wasser faulig roch und träge dahinfloß, zum Park, zu der Voliere, deren Bewohner längst auf den Ästen, im Laub verborgen schliefen. Jakob paßte sich in die Dunkelheit ein wie in eine Decke, obwohl sein Herz heftig schlug, obwohl er seine Tasche mit feuchter Hand umklammerte, aufgelöst, fuhr es ihm durch den Kopf, und doch ging er ganz vernünftig an Camden Lock vorbei, bog rechts ein, achtete auf den Mann, der ihm entgegenkam, auf das Auto links von ihm, hörte die Bässe, die durch die geschlossenen Fenster dröhnten, hinter denen eine Frau saß, rauchend. Sie bremste, beobachtete ihn im Rückspiegel. Beschleunigte, ließ ihn zurück. Nur eine Bewegung des Fußes, ein winziger Moment, in dem sich entschied, ob man das Fenster öffnen, jemanden ansprechen wollte, eine ungeklärte Koppelung von Blick und Muskel. So wurde er gewogen und für zu leicht befunden. Überdeutlich nahm er alles wahr, er spürte seine eigenen Füße in den Schuhen, den Strümpfen, eine vertraute Reibung, und er blieb stehen, um sich an Miriams Hände zu erinnern, an ihre Finger, die sie zwischen seine Zehen geschoben hatte, an die Kuppe des Daumens, mit der sie die Nägel gestreichelt hatte, etwas murmelnd, das er nicht verstand. Es war ein winziges Stück Zeit, das sich nun zwischen sie drängte, bereit, sich auszubreiten, und plötzlich erschien ihm die Uhr, die er unter seinem Jackettärmel hervorschüttelte, wie eine Spieluhr, auf der winzige Figuren sich im Kreis drehten, Miriam und er selbst, Isabelle, Bentham, kreisend auf ihrer Bahn, und mitten unter ihnen der Tod mit einer Sense. — Nein, wir sehen uns nicht wieder, hatte Miriam gesagt, es sei denn, Jona will es so, sie hatte ihm zum Abschied zugewinkt, heiter, sogar liebevoll, als wüßte sie, was ihn erwartete, und wollte ihm Mut zusprechen.