29
Sie hatten für den Garten keine Verwendung gehabt, da es nur ein langes, schmales Stück Rasen war, eine Wiese inzwischen, die sie nicht gemäht hatten, ein Rotdorn wuchs nahe an der Mauer, die höher war, als Isabelle gedacht hatte. Als sie die Arme ausstreckte, erreichte sie eben den Mauersims, der ihren Fingern keinen Halt bot. So stand sie einen Augenblick, versuchte sich hochzuziehen, rutschte ab. Sie ging wieder hinein und holte einen Stuhl, dessen Beine in der Erde versanken, aber besser war es doch. Nach drei Anläufen fand sie eine Lücke für ihren rechten Fuß und Halt für die Hände, zog sich hoch und glaubte, es geschafft zu haben, als sie abrutschte, erst mit dem Kinn, dann mit dem Ellenbogen gegen die Mauer schlug, der Stuhl kippte zur Seite, und sie fiel ins feuchte Gras. Den Schmerz spürte sie erst, als sie wieder den Fuß in die Bresche schob, die ihm nicht ausreichend Halt bot, Mörtel rieselte heraus, sie bohrte mit der Schuhspitze nach, und endlich konnte sie sich abstoßen, das linke Bein auf den Mauersims schwingen. Am Ellenbogen hatte sie eine Schürfwunde, ein stechender Schmerz, der sich zwischen den Rippen hindurch bis in die Lunge hinein fortsetzte, nahm ihr fast den Atem, er packte sie, raffte beinahe wohltuend zusammen, was die letzten Monate verstreut gewesen war, vage Schrecken und Hoffnungen und Enttäuschungen, die in einem weitmaschigen Netz hängenblieben. Es war zu weitmaschig, die Agentur, ihre Ehe, ihre Zeichnungen, London, Alistair und Jim, die Geräusche aus der Nachbarwohnung. Es kam ihr vor, als müßte sie noch einmal von vorne anfangen, und die Zeichnungen waren ihre einzige Spur. Sie kniete sich hin, stützte sich mit den Händen ab, blickte zurück auf das Haus, in dem sie wohnte, und dachte an das, was Andras ihr in seiner letzten Mail geschrieben hatte. Das Mädchen mit dem roten Mantel erinnert mich an diesen Film, Wenn die Gondeln Trauer tragen. Es hat etwas Gemeines an sich, als wäre die Kindheit nur ein Versteck, aus dem man den anderen auflauert. Der Schmerz ebbte ab und wurde diffus, sosehr sie ihn festzuhalten versuchte. Da lag das Mädchen, zusammengekrümmt. Es trug eine Art Trainingshose, darüber ein nicht sehr sauberes T-Shirt, das zu klein war. Isabelle betrachtete den Streifen Kinderfleisch ohne Freundlichkeit. Der Garten war übersät von Müll, altem Spielzeug, auf der Terrasse standen Bierflaschen und Küchengerät, eine Pfanne, einen Putzeimer entdeckte sie. Auswurf, Tüten voller Müll, und das Kind stellte sich tot wie ein Tier, der Stock lag noch neben ihm im Gras. Es hörte nicht auf zu nieseln, sie fröstelte. — Steh endlich auf! Hatte sie laut gerufen? Jedenfalls drehte das Mädchen den Kopf zur Seite und beobachtete sie, hielt jede Bewegung, jede Einzelheit in Isabelles Gesicht mit ihren Augen fest, angespannt, konzentriert. Mit einem Satz sprang Isabelle hinunter, wütend, denn sie wußte nicht, wie sie wieder auf die Mauer und zurück in ihren Garten gelangen würde. Was für eine Idiotie, dachte sie widerwillig, zögerte, dann beugte sie sich endlich zu dem Mädchen, packte es an den Schultern und richtete es auf. — Steh endlich auf! Das T-Shirt war feucht, sie zog ihre Strickjacke aus, die am Ellenbogen zerrissen war, und wickelte sie um das Kind. Und weiter? Das Mädchen ließ die Augen nicht von ihr, Isabelle hielt es noch immer an den Schultern, versuchte, dem insistierenden Blick auszuweichen, es war ein Kampf, der unentschieden endete. Es war ein Kampf. — Wie heißt du? fragte Isabelle unfreundlich, und während sie auf die Antwort wartete, kam von dem Baum die Katze, mißtrauisch noch, jeden Schritt in der Luft verzögernd, setzte sich vor die beiden. — Polly, sagte Sara. Sara, sagte sie dann und ließ die Augen nicht von Isabelle, klammerte sich daran fest, als müßte sie sonst untergehen. Der Garten, in dem trotz allem frisches Gras wuchs, in dem sogar eine Rose geduldig ein Stück Mauer entlangkletterte, diente als Gefängnis. Von hier aus war die Mauer höher, die Erde anscheinend tiefer eingesunken oder nie aufgeschüttet worden, und Isabelle hatte sich in diese lächerliche Lage selbst gebracht, würde Müll zusammensuchen müssen, um sich auf die Mauer zu hieven, oder durch die fremde Wohnung gewalttätiger, unbekannter Nachbarn auf die Straße gehen und dann ohne Schlüssel vor dem eigenen Haus stehen. Da saß die Katze, aufmerksam, abwartend. Sie bewegte sich nicht, das Kind zitterte, und Isabelles Hand erstarrte, sie fühlte, wie ihr Gesicht hart wurde, aber es gab keinen Ausweg, und sie drehte sich zu dem Kind, um seinen Blick zu erwidern. Sie fühlte sich, als wäre der Abstand zwischen ihnen ausgelöscht, als schmeckte sie in ihrem eigenen Mund den bitteren, sauren Geschmack von Erbrochenem, in ihrem Hirn Angst und Schuld. Die Katze gab einen Laut von sich, klagend, aus ihrer Nase rann ein bißchen Blut, sie nieste. Was mache ich hier? dachte Isabelle. Unsanft faßte sie Sara wieder an der Schulter, drehte sich zum Haus zurück. Jakob war nicht da. Jim, dachte sie, aber sie wußte nicht, wo er wohnte, in der Nummer 43 schon oder weiter unten. Dem Kind sagen, es solle Jim rufen, dachte sie. Sie trat einen Schritt zurück, um das Gesicht genauer zu mustern, die etwas stumpfe Nase, die hohe Stirn, aschblonde, strähnige Haare. Der Mund mit den dünnen Lippen öffnete sich, es kam aber nichts heraus, dann, nachdem Isabelle sie geschüttelt hatte, kniete sich Sara in das feuchte Gras, kniete ungeschickt und stieß etwas wie einen Ruf aus, unverständlich, und einen zweiten. Lächerlich zu glauben, daß diese dünne Stimme über die Gartenmauern reichen könnte, eine Stimme, die kaum etwas Kindliches hatte, eigentlich auch nichts Menschliches, genausogut konnte man von der Katze erwarten, daß sie zu sprechen anfing, und Isabelle bückte sich zu Polly, hob sie auf. Das Tier schmiegte sich in ihre Arme, warm und zutraulich. Jede zärtliche Bewegung Isabelles übertrug sich wie in einer logischen Umkehrung auf Sara, die immer noch kniete, zitterte, jedesmal zitterte, wenn Isabelles Hand durch Pollys Fell fuhr, als würde sie von elektrischen Stößen getroffen. — Aber ich will dir helfen, sagte Isabelle ärgerlich. Sara fing an zu weinen, Isabelle beobachtete sie verblüfft, ein lautloses, stoßhaftes Weinen. Vorsichtig setzte Isabelle Polly ab, schaute sich um. Auf der Terrasse stand ein umgestürzter Tisch, die Beine ragten waagrecht ins Leere. Der verwahrloste Garten diente nur dazu auszusortieren, was man nicht länger brauchte, was kaputt war. Eine Amsel landete auf der Mauer, schüttelte das Gefieder, tirilierte. Von irgendwoher roch es nach Fäulnis. Ein paar Meter entfernt wartete ihr Arbeitszimmer, ihr Computer, ihre schöne, saubere Wohnung. Das Kind weinte, die Katze strich an ihren Beinen entlang, schnurrend. — Was hast du mit ihr gemacht? fragte Isabelle. Sie ist verletzt.