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Isabelle sah ihn an und hatte Tränen in den Augen. — Bis sie tot waren, ich meine, sie müssen solche Angst gehabt haben. Vor sich sah sie Jakob, sah ihn plötzlich, wie er in Freiburg neben ihr über den Uni-Hof ging, neben ihr im Hörsaal saß. Er war dem Tod entgangen. Sie hätte von seinem Tod nie erfahren, hätte sich nicht mehr an ihn, verschwunden in der Gleichgültigkeit ihres Vergessens und der seines Todes, erinnert. Andras stand auf, um ihr ein Taschentuch zu holen. Er war ärgerlich. Er kam zurück, wischte ihr behutsam die Tränen ab und reichte ihr das Taschentuch. Sie sah wirklich unglücklich aus, unglücklich und schuldbewußt wie damals, als sie endlich begriffen hatte, warum Hanna sich den Schädel rasierte. Aber das war fünf oder sechs Jahre her, und seither war sie erwachsener geworden. — Komm heute abend zu mir, ich mache uns etwas zu essen. Gulasch, wenn du willst. Er stand auf und trat ans Fenster. Die Dircksenstraße entlang gingen drei Männer und zwei Frauen, liefen mitten auf der Fahrbahn, untergehakt und lachend. Nichts, wie es war, dachte Andras bitter, und dann war ihm so bang zumute, daß er am liebsten hinausgelaufen wäre, auf die Straße und weiter, in den Monbijoupark, die Spree entlang, immer weiter, bis er die Stadt hinter sich gelassen hätte.

6

Gegen sechs Uhr zog sich der Himmel zu, wie eine Wand näherten sich von Westen Wetter und Dämmerung der Stadt, lautlos zunächst, der Wind stockte, als lauschte er auf etwas, bis plötzlich der Regen einsetzte, ein Wolkenbruch, der alles übertönte. Andras stand am Fenster, der Regen lag wie eine schwere Persenning über den Dächern, darunter flimmerten die Lichter schwach, der Fernsehturm kämpfte sich mühsam aus der Schwärze, die Videotafeln auf der gegenüberliegenden Seite des Alexanderplatzes warfen blasse Schatten. Vor drei Jahren hatte er ebenso am Fenster gestanden und den Entschluß gefaßt, daß es wirklich Zeit war zu gehen. Er hatte hinausgeschaut und überlegt, daß ein kleiner Transporter ausreichen würde, um die Bücher, einen Teil der Regale, die kleine, schwere Kommode und das rote Sofa nach Budapest zu schaffen. In einen der Keller dort, dachte er, die seine Eltern nach und nach besetzt hatten, Lattenverschläge, deren Türen schief in den Angeln hingen, von einem Vorhängeschloß gehalten, dahinter leere Kisten, für Kohle, für Kartoffeln, für Brennholz, Späne, und Kartons voller Schrauben, Nägel, Schnüre, all das, was Jahrzehnte in den Schubläden und Kästen der engen Wohnung aufbewahrt gewesen war, weil man nie wußte, wozu es gut sein würde. Und er selbst, hier, in Berlin, hatte jede Büroklammer, jedes Gummiband, jede Kordel aufgehoben, gefütterte Briefumschläge, leere Blechdosen, Gläser, er hatte sie alle paar Monate zusammengesammelt und nachts zu den Müllcontainern getragen, unbeobachtet, wie er glaubte; die nächsten Tage vermied er den Hof und sogar die anderen Mieter im Treppenhaus, bis die Müllabfuhr dagewesen war. Inzwischen atmete er nach solchen Aktionen längst nicht mehr auf, weil sie nicht vorhielten, nach einer Woche schon hatte sich wieder dies oder jenes angesammelt, ein Pappschächtelchen, eine Schnur ohne Knoten, nützliche Dinge, zweifellos, und es war besser, die guten Vorsätze aufzugeben, dafür zweimal im Jahr auszumisten.

Die Autos kämpften sich die Choriner Straße hinauf, die Scheinwerfer flackerten, noch hing das Laub an den Bäumen, verdeckte die Straßenlampen, funzeliges Licht, und gegenüber Fassaden, wie sie Zweiter Weltkrieg und Sozialismus hinterlassen hatten, während ein paar Häuser weiter Farben aufdringlich die Vorhut für Feinkostläden und Cafe´s bildeten. — Laß dich bloß nicht von diesen Frührentnern anstecken, hatte sein Schwager La´szlo´ ihm gesagt, life style, Handy, dabei steckt hinter den Markennamen nichts als Lahmarschigkeit. In Deutschland kannst du den Leuten die Nase einschlagen, und sie glauben, das sei hip. In Budapest schicken sie dir drei Jungs mit Messern auf den Hals, wenn du ihnen dumm kommst.

Andras klopfte gegen die Fensterscheibe, als wollte er dort draußen jemanden auf sich aufmerksam machen oder zum Schweigen bringen. Wind riß jetzt Stücke aus dem Regen, lange, graue Tücher, Andras lauschte zur Wohnungstür, aber Isabelle würde klingeln. Wenn sie kam. Sieben Uhr.

In der rückwärtigen Wand pochte es, all die Jahre hatte Andras sich gefragt, was da pochte, wo ein Haus ans nächste stieß, ein sachtes Geräusch, von den Windstößen jetzt fast übertönt. Dort stand das rote, abgesessene Sofa seines Onkels Janos, das Tante Sofi Andras überlassen hatte, so, als streckte sie ihm mürrisch eine weitere Tragetasche voll alter Damasttischtücher und Vorleglöffel hin, sie hatte die Lehne gepackt und getan, als schöbe sie es ein paar Zentimeter Richtung Tür, wenn du willst, dann nimm es mit, sofort, warten werde ich nicht darauf, und dann hatte sie die Transaktion — ein Auto mußte gemietet werden, ein Freund mußte tragen helfen — doch zum Anlaß genommen, ihre Abreise nach Budapest zu verzögern, in der schon ausgeräumten Wohnung Tag für Tag zu lamentieren, wann Andras endlich das Sofa abhole, was Onkel Janos sagen würde, warum die Glühbirnen kaputtgingen, ob Andras nicht das Vorlegbesteck und die Messerbänkchen und die Tischdecke doch dabehalten wolle, und obwohl es noch spätsommerlich warm gewesen war, hatte sie in einem Pelzkragen auf ebenjenem Sofa gesessen und alte Kinderlieder gesummt. — Du solltest mitkommen, nach Hause. Die Haare des Pelzes (ein sibirischer Silberfuchs, behauptete Tante Sofi) fand er immer noch auf dem Bezug und seinen Pullovern, und Tante Sofi war tot. — Du bereitest ihm Verdruß, hatte sie Andras zum Abschied gesagt und hinter sich gezeigt, als säße dort sein Onkel Janos.

Er war geblieben. Seit Isabelle angefangen hatte, im Büro zu arbeiten, war es für ihn letztlich undenkbar, Berlin zu verlassen, ihre Stimme nicht mehr zu hören, kindlich hell und ohne Tiefe, unerwartet in ihren Verzögerungen, Abbrüchen, eine Stimme, die dahinglitt wie ein kleines Schiffchen aus Zeitungspapier, das plötzlich versank, oder davonstürmte wie der hüpfend aufleuchtende Schulranzen auf dem Rücken eines rennenden Kindes. Was ihn verblüffte, waren ihre Gutartigkeit und eine Art Gleichmut, darunter der unausrottbare Kern Hoffnung, dann und wann ein Ausbruch oder die kleine, gezähmte Gemeinheit, die fast alle mit sich herumtrugen wie ein schmutziges Taschentuch. Aber er liebte Isabelle. Er konnte an nichts anderes denken, und endlich, nachdem er sich gewehrt und gescholten und zur Ordnung gerufen hatte, akzeptierte er, endlich, endgültig, daß es keine Lebensordnung für ihn gab, so oder so, ob in Budapest oder in Berlin. Und wer würde ihn wiegen und für zu leicht befinden? Er war eine Randfigur, ein Fremder, ein disziplinierter, unauffälliger Vagabund. Vor siebenundzwanzig Jahren hatten seine Eltern ihn zum Flughafen gebracht, damit er seine Tante und seinen Onkel in West-Berlin besuche, ohne ihm zu sagen, daß er nicht zurückkehren solle. Die Tränen seiner Mutter hatten ihm die Abreise verdorben, seine erste Reise in den Westen, kein Grund zu heulen, und hinter seiner vierzehnjährigen Rüpelhaftigkeit versteckte er die eigene Bangnis, die sich Monate später entlud, als seine erste Liebe, Anja, ihm den Laufpaß gegeben hatte und er begriff, daß er nie nach Budapest zurückkehren sollte. — Wenn deine Eltern Rentner sind, tröstete ihn Tante Sofi und brachte mit der Hand Onkel Janos’ Schnaufen zum Schweigen, dann kommen sie uns besuchen. Doch Onkel Janos’ Schweigen war beredter, und Andras begriff. Sobald sein Deutsch gut genug war, schrieb er Anja sehnsüchtige Briefe nach Wilmersdorf; er weigerte sich, seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester zu schreiben. Er weigerte sich, Ungarisch zu schreiben, bis fünf Jahre später sein Kindheitsfreund La´szlo´ nach Ost-Berlin kam. Von dort schrieb er Andras, und Andras antwortete, ohne auf die begierigen Fragen seines Freundes einzugehen. Die Jahre, seine ganze Jugend entlang und dann immer weiter, verstrichen wie einer der Nachmittage, die er auf der Wilmersdorfer Straße oder der Potsdamer Straße verbrachte. Alleine oder mit mehreren Jungs, auf den Boden spuckend, rauchend, auf Mädchen wartend, wie in einem ewigen Vorort, aus dem man sich wegsehnte, nur weg und kein Wohin, Bier später, ein paar kleine Diebstähle, Andras’ Glanzleistung blieb ein Rasierapparat von Braun, und Bücher, seine Freunde lachten ihn aus, um zehn Uhr spätestens zu Hause, mit siebzehn noch, und wenn er die anderen zum Stuttgarter Platz begleitete, einige mit Fahrrädern unterwegs, andere zu Fuß oder als Schwarzfahrer, zum Bahnhof Zoo, hatte er Angst. Das bißchen Klauerei. Ein Joint. Demonstrationen. Mädchen. Andras ging in die Klavierstunde und machte keine Fortschritte. Daß er fast nicht sprach, bemerkte Tante Sofi nicht, weil sie selber redete, und Onkel Janos schwieg noch hartnäckiger als sein Neffe. — Misch dich nicht ein, sagte mit aufgeregter Stimme Tante Sofi, wenn Andras eine Zeitung ins Haus brachte, das geht uns nichts an. Euch bestimmt nicht, hatte Andras wie in leeren Raum hineingedacht, Onkel-Gespenst, Tante-Gespenst, zwei lästige, rührende Alte, petrefakt, unpassend wie ein Ponygespann auf dem Ku’damm. Oder die Schwärmerei seiner Tante für den Astronauten Armstrong. Mit ihm einmal tanzen! Auch dazu schwieg Onkel Janos, ging früh ins Krankenhaus, kam immer später zurück. Andras registrierte seine Existenz erst, als Janos Szirtes 1977 einen Fernseher kaufte und sich für den