deutschen Herbst interessierte. — Man weiß nicht, wie man leben soll, sagte sein Onkel ihm, ein paar Leute umbringen hilft da auch nicht viel. Er wies auf die Schlaghosen seines Neffen, willst du nicht deiner Schwester ein Paar schicken? Eines der unverzeihlichen Versäumnisse, wußte Andras, aber die Liste war zu lang, um sie nicht gleich wieder zu vergessen, ebenso wie die Frage, welche Zeitrechnung galt, seit Berlin und Budapest nichts mehr voneinander trennte; mit jedem Besuch zu Hause erledigte sich die Zeitrechnung vor Berlin und nach dem Fall der Mauer aufs neue und hinterließ ein Rinnsal, das sich als Kontinuum ausgab. Drei Jahre verloren, er könnte längst in Budapest sein. — Wann heiratest du endlich? fragte seine Mutter, und neuerdings stimmten seine Schwester und selbst La´szlo´ ein, als wäre es die wirksamste Weise, ihm klarzumachen, daß er in Berlin nichts mehr verloren hatte, seit seine Tante und sein Onkel gestorben waren. Bis zum Schluß hatte Tante Sofi in dem tristen Wohnblock in der Potsdamer Straße gewohnt, in dessen Hausflur es nach Männerpisse stank und wo der Straßenlärm durch die Fenster drang, das Klavier umspülte, wenn Andras einmal übte oder wenn Tante Sofi eine der beiden Mozart-Sonaten spielte, die sie so liebte. Sie spielte schlecht, rätselhaft schlecht, und Andras hatte vermutet, daß ihr Studium am Budapester Konservatorium Legende war. Zu Unrecht, wie ihm sein Vater erklärte, vor ihrer Flucht 1956 hatte man ihr eine Karriere als Pianistin vorausgesagt, einer der Gründe für diese Flucht, die sie nicht verkraftete, nach wochenlanger Krankheit waren ihr musikalisches Gedächtnis, ihre Vorstellungskraft verloren. Sie hatten eine billige Wohnung gesucht, mit allem modernen Komfort, Küche und Dusche, nicht zu weit vom Steglitzer Krankenhaus, vor allem aber billig, damit er, Andras, frei war zu studieren, was er wollte. Daß sein Onkel im Steglitzer Krankenhaus jahrelang nicht als Arzt, sondern als Krankenpfleger gearbeitet hatte, bis Anfang der achtziger Jahre, erfuhr Andras ebenfalls erst von seinen Eltern. — Was du ihnen zu danken hast! sie haben sich aufgeopfert für dich. Er war dankbar, und es war nicht seine Schuld, sondern konsequente Ironie, daß er seinerseits jahrelang log — das Kunststudium hatte er rasch aufgegeben, um Grafikdesign zu studieren. Sie bezahlten ihm ein Atelier mit Nordfenstern und ein Studentenzimmer, solange er nicht nach Kreuzberg zog, Sündenbabel für Tante Sofi, und sich von Politik fernhielt, einer Quelle angstvoller Visionen. Andras überließ sein Atelier in der Crellestraße Freunden und zeichnete in seinem winzigen Zimmer ein paar Häuser weiter, zeichnete und zerriß, was er gezeichnet hatte, als müßte er sein Teil zu den familiären Mißerfolgen beitragen, als wäre es das Opfer, das er bringen mußte, um doch endlich eine Entscheidung zu treffen. Nicht, um irgendwo hinzukommen, sondern um irgendwo zu bleiben, um Phantasie und Wille, die in seiner Familie so eine fatale Rolle gespielt hatten, zu hintergehen. Einzig Isabelle hatte Andras von seinen Bildern und Zeichnungen vor Berlin erzählt, und als bei einem Besuch in Budapest seine Mutter die Mappen aus dem Keller holte, sorgfältig in Packpapier eingeschlagen, hatte er einige davon mit nach Berlin genommen, um sie Isabelle zu zeigen. Straßenszenen, winzig, auf den zweiten Blick skurril und beunruhigend, als bestünden die Menschen aus dem gleichen porösen Material wie die Fassaden, als verspotteten die überladenen Gründerzeitfassaden die eintönigen und unübersichtlichen Verhältnisse. Warum er das alles aufgegeben habe, fragte Isabelle, aber er wußte keine Antwort. Er hätte gerne das Licht gelöscht, vielleicht hatte Isabelle nichts anderes erwartet, als daß er sie hierherlockte, um sie zu küssen, in seinem frischen, weißen Hemd, das außerhalb des Lichtkegels, in dem Isabelle mit seinen Zeichnungen und Bildern saß, hell leuchtend verriet, wo er stand. Wie in einer altmodischen Geschichte kramte sie nach etwas in ihrer Handtasche und fand es nicht, während sie begann zu erzählen, von ihrer eigenen Kindheit zu erzählen, und wie alle anderen ähnelte auch diese Kindheitserzählung einem verregneten, hilflosen Spaziergang durch den Zoo, wo hinter immer gleichen Tafeln sich die immergleichen Tiere versteckt hielten oder stumpf dem Auge darboten. Ähnelte Fotoalben, den komplizierten Abkommen von Lichtverhältnissen und chemischen Eigenschaften des Papiers, das unter einem Seidenhäutchen verblaßte und gerade damit seinen Platz verteidigte, den Anspruch auf ein inneres Auge, das gegen das Vergessen focht. So prägte sich in Andras’ Gedächtnis diese Anekdote ein, die erzählte, wie der riesige Flügel ihrer kranken Mutter hochgehoben wurde und durch die Luft auf die erstaunte Fünfjährige zuglitt, ohne weiteres über sie hinweggetragen worden wäre, hätte nicht mit Erschrecken einer der Träger das Kind bemerkt und durch seinen Warnruf beinahe die Katastrophe herbeigeführt. Der Flügel rutschte in die Schräge und hielt sich nicht, vielleicht waren vor Schrecken die Hände (aber trug man keine Handschuhe?) schweißnaß geworden, das Instrument schlingerte noch einen Moment und prallte dann auf die Granitstufen, mit einem kläglichen Ton, leiser als zu erwarten, jedoch so unglücklich, daß ein Bein abbrach und der Korpus sprang. War die Katastrophe eingetreten oder vermieden? Die Mimsel, ihr Kindermädchen, habe sie gepackt und im Arm gehalten, obwohl aus einer Platzwunde am linken Auge das Blut nur so herabgeströmt sei — die Narbe sah Andras nicht, der sich wieder hingesetzt hatte, aufs Sofa, neben Isabelle, vor ihnen seine Zeichnungen und Bilder wie ein Spuk, er hätte mit dem Finger über die Narbe streichen müssen, um sie zu ertasten. Er hatte es nicht getan, die Liste der Versäumnisse war länger geworden. Schlagartig begriff er, daß jede Kindheit, ob glücklich oder unglücklich, eine Auflistung des Überlebens und eine der Fremdheit war, eine Geschichte des Exils und der Scham. Besagte Mimsel hatte Isabelle ins Krankenhaus gebracht, das eigentliche Drama, erzählte sie, war aber die Krankheit ihrer Mutter, die sich nicht ins Sterbebett, aber doch auf eine Chaiselongue legte und den Tod erwartete, der nach einem Jahr tatsächlichen oder eingebildeten Siechtums eine Kehrtwendung machte und im Nebel seiner zeitlichen Ungewißheit wieder verschwand, womit er Frau Metzel der nicht zu rechtfertigenden Ewigkeit eines schon abgelegten Lebens überließ. Ebenso verzweifelt wie über den drohenden Tod sei ihr Vater, ein bekannter Heidelberger Rechtsanwalt, über dessen Nicht-Eintreten gewesen, und aus Entsetzen habe er ein gigantisches Fest organisiert, das die zweite, betrübliche Phase von Isabelles Kindheit einläutete, ein unablässiges gesellschaftliches Treiben, das sie hinter Stapel von Tellern und unter riesigen Tabletts mit Cocktails verbannte, in der Gestalt des häßlichen Entleins. Andras war sich sicher, daß er der erste männliche Adressat dieser Erzählung war, und er begriff das Geschenk. Es ließ sich aber aus diesen Versatzstücken und Anekdoten keine wirkliche Geschichte machen, alles blieb seltsam matt, so daß Andras und Isabelle nichts einfiel, als wie Brüderchen und Schwesterchen nebeneinanderzusitzen, um wenigstens der Peinlichkeit einer Affäre unter Kollegen zu entgehen, und nur Andras hoffte brennend, es würde mit ihnen doch anders kommen. Aber es fiel ihm nichts ein, um den Kokon, in dem Isabelle steckte, zu zerreißen.