»Er würde mir doch nicht glauben. Du hast selbst gesehen, wie er sich anstellt, wenn ich Dara nur erwähne.«
»Das allein mag schon bedeutsam sein. Möglicherweise ahnt er, was geschehen ist, und weist es so vehement von sich, weil er die Dinge lieber anders hätte.«
»Im Augenblick würde ich damit nur einen Riß erweitern, den ich gerade übertünchen will.«
»Dein Schweigen kann später aber zu einem völligen Bruch führen, sobald er die Wahrheit herausfindet.«
»Nein. Ich glaube, ich kenne meinen Bruder besser als du.«
Er ließ die Zügel los.
»Na schön«, sagte er. »Ich hoffe, daß du recht hast.«
Ich antwortete nicht, sondern gab Feuerdrache von neuem die Sporen. Zwischen uns bestand das unausgesprochene Einverständnis, daß Ganelon mich alles fragen konnte, was er wollte; ebenso selbstverständlich war es, daß ich mir die Ratschläge anhörte, die er zu geben hatte. Dies lag zum Teil daran, daß seine Stellung wohl einzigartig war. Wir beide waren nicht miteinander verwandt. Er war kein Amberianer. In die Machtkämpfe und Probleme Ambers war er durch eigene Entscheidung verwickelt. Vor langer Zeit waren wir Freunde und dann Feinde gewesen, und seit kurzem wieder Freunde und Verbündete in seiner Wahlheimat. Als diese Angelegenheit geklärt war, hatte er mich gebeten, mich begleiten zu dürfen; er wolle mir in meinen und den Angelegenheiten Ambers helfen. Meiner Auffassung nach schuldete er mir nichts, und dasselbe galt umgekehrt – wenn man solche Dinge überhaupt dermaßen aufrechnen will. So kettete uns allein die Freundschaft aneinander – eine kräftigere Bindung als alle Schulden und Ehrenerklärungen: mit anderen Worten, eine Basis, die ihm das Recht gab, mir in solchen Dingen auch einmal auf die Nerven zu gehen, in Dingen, da ich, nachdem meine Meinung feststand, vielleicht sogar Random zum Teufel geschickt hätte. Ich machte mir klar, daß ich mich eigentlich nicht aufregen durfte, solange er seine Bemerkungen in gutem Glauben machte. Wahrscheinlich handelte es sich um ein altes militärisches Gefühl, das mit unserer ersten Zusammenarbeit wie auch mit dem augenblicklichen Stand der Dinge zusammenhing: Ich mag es nicht, wenn man meine Entscheidungen und Befehle in Zweifel zieht. Noch mehr, so schloß ich, ärgerte mich wahrscheinlich die Tatsache, daß er in letzter Zeit etliche vernünftige Mutmaßungen angestellt und darauf logische Vorschläge aufgebaut hatte – Dinge, von denen ich meinte, daß ich darauf hätte selbst stoßen müssen. Niemand gesteht gern eine Ablehnung ein, die auf solchen Dingen beruht. Trotzdem . . . war das wirklich alles? Eine einfache Projektion der Unzufriedenheit wegen einigen Momenten persönlicher Unzulänglichkeit? Ein alter soldatischer Reflex hinsichtlich der Heiligkeit meiner Entscheidungen? Oder plagte mich etwas, das viel tiefer saß und das jetzt erst an die Oberfläche drängte?
»Corwin«, sagte Ganelon, »ich habe nachgedacht . . .«
Ich seufzte.
»Ja.«
». . . über Randoms Sohn. So wie eure Familie gesundet, würde ich es für möglich halten, daß er den Anschlag überlebt hat und sich irgendwo aufhält.«
»Das möchte ich auch gern glauben.«
»Sei nicht zu voreilig.«
»Was meinst du damit?«
»Soweit ich mitbekommen habe, hatte er keinen großen Kontakt zu Amber und zum Rest der Familie; schließlich ist er in Rebma ziemlich für sich aufgewachsen.«
»Ja, so hat man es mir auch berichtet.«
»Ich möchte sogar meinen, daß er außer mit Benedict – und Llewella aus Rebma – anscheinend nur mit einer anderen Person Kontakt hatte, der Person, die ihn zu erstechen versuchte – Bleys, Brand oder Fiona. Nun habe ich mir überlegt, daß er vermutlich eine ziemlich verzerrte Einstellung zur Familie hat.«
»Verzerrt mag sein Bild von uns sein«, sagte ich, »aber doch nicht ohne Grund, wenn ich verstehe, worauf du hinauswillst.«
»Ich glaube schon, daß du mich verstehst. Immerhin denkbar, daß er nicht nur Angst vor der Familie hat, sondern sich vielleicht auch an euch allen rächen will.«
»Denkbar wär´s«, sagte ich.
»Glaubst du, er könnte sich mit dem Gegner zusammengetan haben?« Ich schüttelte den Kopf.
»Nicht wenn er weiß, daß diese Wesen Handlanger der Gruppe sind, die ihn hat töten wollen.«
»Aber sind sie das wirklich? Ich mache mir so meine Gedanken . . . Du sagst, Brand hätte Angst bekommen und wollte raus aus dem Arrangement, das mit der Bande von der schwarzen Straße bestand. Wenn diese Wesen so mächtig sind, muß ich mich fragen, ob Fiona und Bleys nicht vielleicht deren Werkzeuge geworden sind. Wenn das so wäre, könnte ich mir vorstellen, daß Martin auf etwas aus ist, das ihm Macht über sie verleiht.«
»Das ist zu raffiniert gedacht«, stellte ich fest.
»Der Gegner scheint sehr viel über dich zu wissen.«
»Gewiß, aber er hatte auch eine Gruppe von Verrätern an der Hand, die ihm Informationen zugespielt hat.«
»Können diese Leute all das verraten haben, was Dara deinen Worten nach wußte?«
»Eine gute Frage«, sagte ich. »Aber auf eine Antwort kann ich mich nicht festlegen.« Dabei war die Sache mit den Tecys ganz klar; trotzdem beschloß ich, die Information zunächst zu verschweigen, um festzustellen, worauf er hinauswollte; es hatte keinen Sinn, das Gespräch jetzt in eine neue Richtung zu lenken. Also sagte ich: »Martin war doch wohl kaum in der Lage, dem Gegner viel über Amber zu verraten.«
Ganelon schwieg einen Augenblick lang und fragte: »Hattest du Gelegenheit, dich um die Frage zu kümmern, die ich dir neulich abend vor deinem Grabmal gestellt habe?« fragte er schließlich.
»Welche Frage?«
»Ob man die Trümpfe abhorchen kann«, sagte er. »Nachdem wir nun wissen, daß Martin ein Spiel hatte . . .«
Nun lag es an mir, den Mund zu halten, während eine kleine Familie von Erlebnismomenten meinen Pfad kreuzte, im Gänsemarsch, von links kommend, mir die Zunge herausstreckend.
»Nein«, sagte ich dann. »Darum habe ich mich noch nicht kümmern können.«
Wir legten eine ziemlich weite Strecke zurück, ehe er sagte: »Corwin, die Nacht, in der du Brand zurückholtest . . .«
»Ja?«
»Du hast gesagt, du hättest dich um jeden einzelnen gekümmert bei dem Versuch, festzustellen, wer dich erdolchen wollte, und daß eigentlich keines deiner Geschwister die Tat in der zur Verfügung stehenden Zeit hätte bewerkstelligen können.«
»Oh«, sagte ich. »Oh.«
Er nickte.
»Jetzt mußt du einen weiteren Verwandten in deine Überlegungen einbeziehen. Vielleicht fehlt ihm die Finesse der Familie nur, weil er noch jung und unerfahren ist.«
Vor meinem inneren Auge saß ich und winkte der stummen Parade von Momenten zu, die zwischen Amber und später hindurchmarschierte.
4
Als ich geklopft hatte, fragte sie, wer da sei, und ich gab ihr Antwort.
»Einen Augenblick.«
Ich hörte ihre Schritte, und dann ging die Tür auf. Vialle ist kaum größer als fünf Fuß und sehr schlank. Brünett, schmalgesichtig, eine sehr leise Stimme. Sie trug Rot. Ihre blicklosen Augen schauten durch mich hindurch, erinnerten mich an die Düsternis der Vergangenheit, an Schmerz.
»Random«, sagte ich, »hat mich gebeten, Euch zu sagen, daß er noch aufgehalten wurde, daß Ihr Euch aber keine Sorgen machen sollt.«
»Bitte kommt herein«, sagte sie, trat zur Seite und machte dabei die Tür ganz auf.
Ich kam ihrer Aufforderung nach. Ich wollte eigentlich nicht eintreten, doch ich tat es. Ich hatte Randoms Bitte nicht wörtlich nehmen wollen – ihr zu erzählen, was geschehen und wohin er geritten war. Im Grunde wollte ich ihr nur mitteilen, was ich eben gesagt hatte – nicht mehr. Erst als wir unserer separaten Wege gegangen waren, wurde mir klar, was Randoms Ersuchen eigentlich umfaßte: Er hatte mich um nichts weiter gebeten, als seine Frau aufzusuchen, mit der ich bisher kaum ein halbes Dutzend Worte gewechselt hatte, und ihr zu sagen, daß er losgeritten sei, um nach seinem illegetimen Sohn zu suchen, dem Kind, dessen Mutter Morganthe Selbstmord begangen hatte, wofür Random bestraft worden war, indem er Vialle heiraten mußte. Die Tatsache, daß diese Ehe sehr harmonisch war, verblüffte mich noch immer. Ich hatte nicht den Wunsch, der Überbringer unangenehmer Nachrichten zu sein; als ich in das Zimmer trat, versuchte ich einen Ausweg zu finden.