»Vielen Dank«, sagte ich und trank einen Schluck Wein. »Das erleichtert mir das Sprechen doch sehr. Ich werde Euch alles erzählen, was seit dem Frühstück geschehen ist . . .«
Und das tat ich.
Während ich sprach, lächelte sie von Zeit zu Zeit, ohne mich zu unterbrechen. Als ich fertig war, fragte sie: »Ihr dachtet, es würde mich aufregen, von Martin zu sprechen?«
»Möglich erschien es mir«, antwortete ich.
»Nein«, sagte sie. »Wißt Ihr, ich kannte Martin aus Rebma, als er noch ein kleiner Junge war. Während er aufwuchs, lebte ich dort. Ich mochte ihn. Selbst wenn er nicht Randoms Sohn wäre, würde er mir noch heute etwas bedeuten. Ich kann mich über Randoms Sorge nur freuen und hoffe, daß sie ihn noch rechtzeitig überkommen hat, um beiden zu nützen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mit Menschen wie Euch habe ich nicht oft zu tun«, sagte ich. »Es freut mich, daß ich endlich einmal mit Euch sprechen konnte.«
Sie lachte. »Ihr habt auch lange ohne Augen leben müssen«, sagte sie.
»Ja.«
»Das kann einen Menschen verbittern – oder ihm eine größere Freude an den Dingen schenken, die ihm noch geblieben sind.«
Ich brauchte gar nicht erst an meine Gefühle aus den Tagen der Blindheit zurückzudenken, um zu wissen, daß ich zur ersten Kategorie gehörte, selbst wenn man die Umstände berücksichtigte, unter denen ich meine Blindheit erdulden mußte. Es tut mir leid, aber so bin ich nun mal.
»Wie wahr«, sagte ich. »Ihr seid ein glücklicher Mensch.«
»In Wirklichkeit ist es lediglich ein Gemütszustand – etwas, das ein Herr der Schatten natürlich sofort versteht.«
Sie stand auf.
»Ich habe mich immer gefragt, wie Ihr wohl ausseht«, sagte sie. »Random hat Euch beschrieben, aber das ist etwas anderes. Darf ich?«
»Natürlich.«
Sie kam näher und legte mir die Fingerspitzen auf das Gesicht. Vorsichtig ertastete sie meine Züge.
»Ja«, sagte sie schließlich, »Ihr seht etwa so aus, wie ich mir vorgestellt habe. Und ich spüre eine Spannung in Euch. Die gibt es schon seit langer Zeit, nicht wahr?«
»In der einen oder anderen Form wohl schon seit meiner Rückkehr nach Amber.«
»Ich möchte wissen«, sagte sie, »ob Ihr nicht glücklicher wart, als ihr das Gedächtnis noch nicht wiederhattet.«
»Das ist eine unmögliche Frage«, sagte ich. »Hätte ich meine Erinnerungen nicht zurückgewonnen, wäre ich jetzt vielleicht tot. Aber davon einmal abgesehen – selbst damals gab es etwas, das mich antrieb, das mich täglich beunruhigte. Ich suchte ständig nach Wegen, festzustellen, wer und was ich wirklich war.«
»Aber wart Ihr glücklicher oder weniger glücklich als jetzt?«
»Weder noch«, erwiderte ich. »Es gleicht sich alles aus. Wie Ihr schon sagtet, es ist ein Gemütszustand. Und selbst wenn es nicht so wäre, könnte ich doch nie in das andere Leben zurückkehren, nachdem ich nun weiß, wer ich bin, nachdem ich Amber gefunden habe.«
»Warum nicht?«
»Warum stellt Ihr mir diese Fragen?«
»Ich möchte Euch verstehen. Seitdem ich in Rebma zum erstenmal von Euch hörte, noch bevor Random mir Geschichten über Euch erzählte, bewegte mich die Frage, was Euch im Nacken saß. Jetzt habe ich die Gelegenheit – natürlich nicht das Recht, sondern nur die Gelegenheit –, meine Grenzen zu überschreiten und Euch zu fragen, und ich finde, es lohnt sich.«
Ein leises Lachen brandete in mir empor.
»Gut ausgedrückt«, sagte ich. »Mal sehen, ob ich ehrlich sein kann. Zuerst beflügelte mich der Haß – Haß auf meinen Bruder Eric – und mein Ehrgeiz auf den Thron. Hättet Ihr mich bei meiner Rückkehr gefragt, welches das stärkere Gefühl war, so hätte ich geantwortet, es sei der Thron. Jetzt aber . . . jetzt müßte ich zugeben, daß die Verhältnisse in Wirklichkeit umgekehrt waren. Ich habe es mir bis jetzt nie richtig überlegt, aber es stimmt. Eric ist allerdings tot, von meinen damaligen Gefühlen ist nichts mehr übrig. Der Thron bleibt, doch heute muß ich feststellen, daß meine Gefühle in diesem Punkt gemischt sind. Es besteht die Möglichkeit, daß bei der augenblicklichen Sachlage keiner von uns einen Anspruch darauf hat, und selbst wenn alle Einwände seitens der Familie aufgehoben würden, wäre ich nicht bereit, den Thron zu besteigen. Zuerst müßte im Lande die Ruhe wiederhergestellt und eine Reihe von Fragen beantwortet sein.«
»Selbst wenn diese Dinge ergäben, daß Ihr den Thron nicht besteigen dürftet?«
»Selbst dann.«
»Langsam beginne ich zu verstehen.«
»Was? Was gibt es da zu verstehen?«
»Lord Corwin, mein Wissen über die philosophischen Grundlagen solcher Dinge ist beschränkt, doch habe ich mir eingebildet, daß Ihr in der Lage seid, im Bereich der Schatten alles zu erlangen, das Ihr Euch wünscht. Dies hat mich seit längerem beunruhigt; Randoms Erklärungen habe ich nämlich nie ganz verstanden. Wenn Ihr wolltet, könnte da nicht jeder aus der Familie in die Schatten wandern und sich ein anderes Amber suchen – in jeder Hinsicht identisch mit diesem Amber, mit der einzigen Ausnahme, daß Ihr dort herrschtet oder jeden anderen Status innehättet, der Euch am Herzen liegt?«
»Ja, solche Orte vermögen wir zu finden«, sagte ich.
»Warum wird das dann nicht getan und all der Streit damit beendet?«
»Es liegt daran, daß ein solcher Ort gefunden werden könnte, der derselbe zu sein schiene – aber das wäre auch alles. Wir alle sind ebenso gewiß ein Teil dieses Amber, wie es ein Teil von uns ist. Jeder Schatten Ambers müßte mit Schatten unserer selbst bevölkert sein, damit die Übung überhaupt einen Nutzen hat. Wir könnten sogar den Schatten unseres eigenen Ich aussparen, wollten wir persönlich in ein wartendes Reich umziehen. Die Leute des Schattens wären jedoch nicht genau wie die Menschen hier. Ein Schatten entspricht niemals dem Gegenstand, der ihn wirft. Und die kleinen Unterschiede summieren sich; im Grunde sind sie sogar schlimmer als die großen Differenzen. Im Gesamteffekt liefe es darauf hinaus, daß man ein Land voller Fremder beträte. Der beste Vergleich, der mir in den Sinn kommt, ist die Begegnung mit einer Person, die große Ähnlichkeit mit einem anderen Menschen hat, den Ihr gut kennt. Immer wieder erwartet man, daß der Betreffende wie der Bekannte reagiert; und noch schlimmer, man neigt dazu, sich ihm gegenüber so zu benehmen wie vor dem anderen. Man tritt ihm mit einer bestimmten Maske gegenüber, und seine Reaktionen stimmen nicht. Ein unbehagliches Gefühl. Ich habe nie Freude daran, mit Menschen zu sprechen, die mich an andere erinnern. Die Persönlichkeit ist das einzige Element, das wir in unserer Manipulation der Schatten nicht zu steuern vermögen. Tatsächlich liegt hier sogar der Aspekt, durch den wir erkennen, ob einer von uns nur ein Schatten oder er selbst ist. Deshalb war Flora auf der Schatten-Erde so lange im Ungewissen: Meine Persönlichkeit hatte sich sehr verändert.«
»Ich beginne zu verstehen«, sagte sie. »Euch geht es nicht nur um Amber, sondern um diesen Ort und alles andere.«
»Dieser Ort und alles andere . . . Das ist Amber.«
»Ihr sagt, Euer Haß sei mit Eric gestorben, und Euer Streben nach dem Thron sei durch neue Kenntnisse abgekühlt worden, die Ihr inzwischen erlangt habt.«
»Richtig.«
»Dann glaube ich zu verstehen, was Euch motiviert.«
»Mich treibt der Wunsch nach Stabilität«, sagte ich, »und eine Art Neugier – und Rachegefühle gegenüber unseren Feinden . . .«
»Die Pflicht«, sagte sie. »Natürlich.«
Ich schnaubte durch die Nase.
»Es wäre tröstend, könnte man der Sache dieses Mäntelchen umhängen«, sagte ich. »Doch wie die Dinge nun mal liegen, möchte ich nicht als Heuchler dastehen. Ich bin wahrlich kein pflichtbewußter Sohn Ambers oder Oberons.«