»Eure Stimme macht klar, daß Ihr nicht als solcher gelten wollt.«
Ich schloß die Augen, schloß sie, um zu ihr in die Dunkelheit zu treten, um mich vorübergehend an die Welt zu erinnern, wo andere Eindrücke als Lichtwellen den ersten Rang einnahmen. Ich wußte, daß sie mit meiner Stimme recht hatte. Warum hatte ich das Wort Pflicht so energisch abgetan, kaum daß es geäußert worden war? Ich möchte gelobt werden, wenn ich tatsächlich anständig, edel und mutig gewesen bin, und manchmal auch dann, wenn ich es nicht verdient habe – darin unterscheide ich mich nicht von meinen Mitmenschen. Was störte mich aber an dem Gedanken an eine Pflicht in Amber? Nichts. Was dann?
Vater.
Ich schuldete ihm nichts mehr, und schon gar kein Pflichtbewußtsein. In letzter Konsequenz war er für den jetzigen Status Quo verantwortlich. Er hatte eine große Nachkommenschaft in die Welt gesetzt, ohne eine konkrete Thronfolge festzulegen. Er hatte unsere diversen Mütter ziemlich unfreundlich behandelt und anschließend unsere Ergebenheit und Unterstützung erwartet. Er hatte einige seiner Kinder bevorzugt und möglicherweise sogar gegeneinander ausgespielt. Schließlich geriet er in eine Sache, mit der er nicht fertig wurde, und hinterließ das Königreich in schlimmem Zustand. Sigmund Freud hatte schon vor langer Zeit meinem normalen, allgemeinen Groll auf die Familie den Stachel genommen. In dieser Beziehung habe ich mit niemandem ein Hühnchen mehr zu rupfen. Tatsachen sind aber etwas anderes. Ich lehnte meinen Vater nicht nur deswegen ab, weil er mir keinen Grund gegeben hatte, ihn zu mögen; eher kam es mir vor, als habe er auf das Gegenteil hingewirkt. Genug. Ich erkannte, was mir an der Pflicht mißfieclass="underline" der, dem gegenüber sie erfüllt wurde.
»Ihr habt recht«, sagte ich, öffnete die Augen und sah sie an. »Ich bin froh, daß Ihr mir davon erzählt habt.« Ich stand auf. »Gebt mir die Hand«, sagte ich.
Sie streckte die rechte Hand aus, und ich hob sie an die Lippen. »Vielen Dank«, sagte ich. »Es war ein köstliches Mahl.«
Ich drehte mich um und ging zur Tür. Als ich zurückblickte, sah ich, daß sie rot geworden war und lächelte, die Hand noch immer ein Stück erhoben. Da begann ich die Veränderung zu verstehen, die mit Random vor sich gegangen war. Sie war eine fabelhafte Frau.
»Viel Glück für Euch«, sagte sie, als meine Schritte verstummten.
». . . Und für Euch«, sagte ich und verließ hastig das Zimmer.
Eigentlich hatte ich nun vorgehabt, Brand aufzusuchen, doch ich brachte es nicht über mich. Zum einen wollte ich nicht mit ihm zusammenkommen, solange mein Gehirn vor Müdigkeit vernebelt war. Zum anderen war mein Gespräch mit Vialle das erste angenehme Ereignis seit langer Zeit gewesen, und zur Abwechslung wollte ich einmal aufhören, solange ich die Nase vorn hatte.
Ich erstieg die Treppe und ging durch den Korridor zu meinem Zimmer, wobei ich an die Nacht der Messer dachte, während ich den neuen Schlüssel in das neue Schloß steckte. In meiner Schlafkammer zog ich die Gardinen zu, sperrte das Licht des Nachmittags aus, zog mich aus und ging zu Bett. Wie es oft passiert, wenn man sich nach großer Anspannung ausruht und weitere Mühen vor sich weiß, konnte ich nicht sofort einschlafen. Lange Zeit warf ich mich auf dem Lager hin und her und durchlebte noch einmal die Ereignisse der letzten Tage und weiter zurückliegender Perioden. Als ich endlich einschlummerte, waren meine Träume eine Mischung aus demselben Stoff, einschließlich einer kurzen Zeit in meiner alten Zelle, die ich damit verbrachte, an der Tür herumzukratzen.
Es war dunkel, als ich erwachte. Ich fühlte mich tatsächlich erfrischt. Die Spannung hatte meinen Körper verlassen, meine Gedanken strömten viel gelassener. Tatsächlich zuckte sogar ein winziger Funke freudiger Erregung durch einen Winkel meines Gehirns. Es war ein Vorhaben, das ich unter der Schwelle des Bewußtseins wußte, ein vergrabener Plan, der . . .
Ja!
Ich setzte mich auf, griff nach meiner Kleidung, begann mich anzuziehen. Ich gürtete Grayswandir um, faltete eine Decke zusammen und klemmte sie mir unter den Arm. Natürlich . . .
Meine Gedanken waren klar, und die Wunde hatte aufgehört zu schmerzen. Ich wußte nicht, wie lange ich geschlafen hatte, und hielt es auch nicht für erforderlich, die Zeit in Erfahrung zu bringen. Ich mußte einer Sache nachgehen, die weitaus wichtiger war, etwas, das mir schon längst hätte einfallen müssen – und das mir sogar schon durch den Kopf gegangen war. Ich hatte einmal sogar direkt darauf gestarrt, doch der Ansturm der Zeit und der Ereignisse hatte das Detail aus meinem Gehirn vertrieben. Bis jetzt.
Ich verschloß das Zimmer hinter mir und ging zur Treppe. Kerzen flackerten, und der verblaßte Hirsch, der seit Jahrhunderten auf dem Wandteppich zu meiner Rechten im Sterben lag, starrte auf die verblaßten Hunde, die ihn ungefähr ebenso lange verfolgt hatten. Manchmal gelten meine Sympathien dem Hirsch; doch meistens bin ich ganz Hund. Irgendwann muß ich das Ding mal restaurieren lassen.
Die Treppe hinab. Kein Geräusch von unten. Muß also ziemlich spät sein. Gut. Ein neuer Tag, und wir sind immer noch am Leben. Vielleicht sogar ein bißchen klüger. Klug genug, um zu erkennen, daß es noch viele Dinge gibt, die wir in Erfahrung bringen müssen. Und die Hoffnung, jawohl. Etwas, das mir fehlte, als ich in der verdammten Zelle hockte, die Hände vor die zerstörten Augen gepreßt, weinend. Vialle . . . Ich wünschte, ich hätte mich damals ein paar Minuten lang mit Euch unterhalten können. Doch ich mußte durch eine harte Schule gehen, und selbst ein rücksichtsvollerer Lehrplan hätte mir wahrscheinlich niemals Eure Anmut verliehen. Trotzdem . . . man weiß nie. Ich hatte immer das Gefühl, mehr Hund als Hirsch zu sein, mehr Jäger als Opfer. Ihr hättet mir vielleicht etwas beigebracht, das die Bitterkeit abgeschwächt, den Haß gemäßigt hätte. Aber wäre das wirklich besser gewesen? Der Haß erstarb mit seinem Ziel, und auf ähnliche Weise ist die Bitterkeit vergangen – aber rückblickend muß ich mich doch fragen, ob ich es ohne die Hilfe dieser Gefühle geschafft hätte. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich meine Gefangenschaft ohne diese häßlichen Begleiter überstanden hätte, die mich immer wieder ins Leben zurückholten und wieder zur Vernunft brachten. Heute kann ich mir den Luxus eines gelegentlichen Gedankens an den Hirsch leisten, aber damals hätte so etwas tödlich sein können. Ich weiß ehrlich keine Antwort darauf, freundliche Dame, und möchte bezweifeln, ob ich sie jemals finde.
Stille auch im ersten Stockwerk. Einige Laute von unten. Schlaf gut, Dame. Herum und weiter nach unten. Ich fragte mich, ob Random Dinge von großer Wichtigkeit herausgefunden hatte. Wahrscheinlich nicht, sonst hätten er oder Benedict sich längst mit mir in Verbindung gesetzt. Es sei denn, es gab Ärger. Aber nein. Es ist lächerlich, sich die Sorgen aus den Ecken herzusuchen. Die Realität macht sich zu gegebener Zeit von allein bemerkbar, und ich hatte mehr als genügend andere Sorgen.
Erdgeschoß.
»Will«, sagte ich, und: »Rolf.«
Die beiden Wächter hatten Haltung angenommen, als sie meine Schritte vernahmen. Ihre Gesichter verrieten mir, daß alles in Ordnung war; der guten Ordnung halber fragte ich trotzdem.
»Ruhig, Lord, ruhig ist es«, erwiderte der Dienstältere.
»Sehr gut«, sagte ich und setzte meinen Weg fort. Ich betrat und durchquerte den mit Marmor ausgekleideten Speisesaal.
Es würde klappen, davon war ich überzeugt, wenn Zeit und Feuchtigkeit nicht sämtliche Spuren getilgt hatten. Und dann . . .
Ich betrat den langen Korridor, der bedrängt wurde von staubigen Wänden. Dunkelheit, Schatten, meine Schritte . . .
Ich erreichte die Tür am anderen Ende, öffnete sie, trat auf die Plattform hinaus. Dann von neuem in die Tiefe, die Wendeltreppe hinab, hier ein Licht, dort ein Licht, hinab in die Höhlen des Kolvir. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, daß Random recht hatte: Wenn man den Berg bis hinab zur Ebene jenes fernen Bodens abtrug, bestand eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem, was übrig war, und der Umgebung des Ur-Musters, das wir heute früh besucht hatten.