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. . . Weiter hinab. In engen Kehren durch die Düsternis. Die durch Fackeln und Laternen erhellte Wachstation wirkte wie ein Bühnenbild. Ich erreiche den Boden und näherte mich dem Posten.

»Guten Abend, Lord Corwin«, sagte die ausgemergelt wirkende Gestalt, die an einem Lagerregal lehnte und mich angrinste, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

»Guten Abend, Roger. Wie stehen die Dinge in der Unterwelt?«

»Eine Ratte, eine Fledermaus, eine Spinne. Sonst rührt sich hier nicht viel. Friedlich ist es.«

»Gefällt Euch diese Aufgabe?«

Er nickte.

»Ich schreibe gerade eine philosophische Liebesgeschichte, durchdrungen von Elementen des Horrors und der Morbidität. An diesen Aspekten arbeite ich hier unten.«

»Das paßt ja nun wirklich«, sagte ich. »Ich brauche eine Laterne.«

Er nahm eine aus dem Regal und zündete sie an seiner Kerze an.

»Wird Eure Geschichte ein glückliches Ende haben?« wollte ich wissen.

Er zuckte die Achseln.

»Jedenfalls werde ich glücklich sein.«

»Ich meine, siegt das Gute, und geht der Held mit der weiblichen Hauptperson ins Bett? Oder laßt Ihr sie zum Schluß beide umkommen?«

»Das wäre kaum fair.«

»Na, egal. Vielleicht darf ich die Geschichte eines Tages mal lesen.«

»Vielleicht.«

Ich ergriff die Laterne, wandte mich ab und schritt in die Richtung, die ich seit langer Zeit nicht mehr eingeschlagen hatte. Ich stellte fest, daß ich die Echos noch immer auszumessen verstand.

Nach kurzer Zeit näherte ich mich der Wand, machte den richtigen Korridor aus und betrat ihn. Nun ging es nur noch darum, die Schritte zu zählen. Meine Füße kannten den Weg.

Die Tür zu meiner alten Zelle stand halb offen. Ich stellte die Laterne ab und gebrauchte beide Hände, um sie ganz zu öffnen. Sie ruckte widerstrebend auf und stieß dabei ein Ächzen aus. Dann hob ich die Laterne und trat ein.

Schauder überliefen mich, und mein Magen zuckte krampfartig. Ich begann zu zittern. Ich mußte gegen den starken Wunsch ankämpfen, die Flucht zu ergreifen. Auf diese Reaktion war ich nicht gefaßt gewesen. Am liebsten hätte ich mich gar nicht von der schweren, eisenbeschlagenen Tür entfernt, aus Angst, daß irgend jemand sie hinter mir zuschlagen und verriegeln könnte. Die kleine schmutzige Zelle löste in mir etwas aus, das nacktem Entsetzen sehr nahe kam. Ich zwang mich dazu, Einzelheiten zu betrachten – das Loch, das meine Toilette gewesen war, die geschwärzte Stelle, wo ich am letzten Tag das Feuer entzündet hatte. Mit der linken Hand betastete ich das Innere der Tür und erkundete die Rillen, die ich in meiner Verzweiflung mit dem Löffel geschabt hatte. Ich dachte daran, was diese Arbeit für meine Hände bedeutet hatte. Ich bückte mich und betrachtete die Spuren. Nicht annähernd so tief, wie es mir damals vorgekommen war, nicht wenn man die Gesamtdicke der Tür bedachte. Ich erkannte, wie sehr ich meine schwachen Befreiungsbemühungen damals überbewertet hatte. Ich ging weiter und betrachtete die Mauer.

Undeutlich zu erkennen. Staub und Feuchtigkeit hatten sich bemüht, die Zeichnung auszulöschen. Doch noch immer vermochte ich die Umrisse des Leuchtturms von Cabra auszumachen, umrahmt von vier Strichen meines alten Löffelgriffs. Der Zauber war noch vorhanden, die Kraft, die mich schließlich in die Freiheit versetzt hatte. Ich spürte sie, ohne sie gerufen zu haben.

Ich machte kehrt und sah mir die gegenüberliegende Wand an.

Die Zeichnung, die hier zu finden war, hatte die Zeit nicht so gut überstanden wie der Leuchtturm, doch schließlich war sie in äußerster Hast im Lichte meiner letzten Streichhölzer entstanden. Ich vermochte nicht einmal mehr alle Einzelheiten zu erkennen, wenn auch meine Erinnerung ein paar dazutat, die jetzt verborgen waren: der Blick in ein Arbeitszimmer oder eine Bibliothek, Bücherregale an den Wänden, ein Tisch im Vordergrund, ein Globus neben dem Tisch. Ich überlegte, ob ich es riskieren durfte, die Zeichnung abzuwischen.

Ich stellte die Laterne auf den Boden und kehrte zu der Zeichnung an der anderen Wand zurück. Mit einer Kante meiner Decke wischte ich vorsichtig etwas Staub von einer Stelle am Fuß des Leuchtturms. Die Linie wurde deutlicher. Ich wischte weiter und drückte diesmal ein wenig fester zu. Dabei löschte ich einen Zoll der Linie völlig aus.

Ich trat zurück und riß einen breiten Streifen von der Seite der Decke ab. Den Rest faltete ich zu einem Kissen zusammen und setzte mich darauf. Langsam und vorsichtig begann ich am Leuchtturm zu arbeiten. Ich mußte mich mit der Arbeit vertraut machen, ehe ich die andere Darstellung zu säubern versuchte.

Eine halbe Stunde später stand ich auf und streckte mich; dann bückte ich mich und massierte meine Beine, die eingeschlafen waren. Die Zeichnung des Leuchtturms war wieder sauber. Leider hatte ich etwa zwanzig Prozent des Bildes zerstört, ehe ich mich an die Struktur der Wand gewöhnt und die richtige Wischbewegung gefunden hatte. Ich nahm nicht an, daß ich meine Technik noch verbessern konnte.

Die Laterne begann zu flackern, als ich sie umsetzte. Ich entfaltete die Decke, schüttelte sie aus, und riß einen frischen Streifen ab. Dann machte ich mir ein neues Kissen, kniete mich vor der anderen Zeichnung hin und ging an die Arbeit.

Kurz darauf hatte ich die Reste des Bildes freigelegt. Den Schädel auf dem Tisch hatte ich vergessen, bis eine vorsichtige Bewegung ihn wieder zutage förderte – ebenso den Winkel der gegenüberliegenden Wand und einen hohen Kerzenhalter . . . ich beugte mich zurück. Weiterzureiben konnte riskant sein. Wahrscheinlich war es auch überflüssig. Die Zeichnung kam mir so komplett vor, wie sie gewesen war.

Wieder flackerte die Lampe. Ich fluchte auf Roger, der es versäumt hatte, den Petroleumstand zu prüfen, stand auf und hielt das Licht in Schulterhöhe nach links. Dann konzentrierte ich mich so fest ich konnte auf die vor mir liegende Szene.

Während ich hinschaute, gewann das Bild bereits an Tiefe. Gleich darauf war es völlig dreidimensional und hatte sich über mein ganzes Blickfeld ausgebreitet. Da endlich trat ich vor und stellte die Laterne auf dem Tisch ab.

Ich sah mich um. An allen vier Wänden ragten Bücherregale empor. Fenster gab es nicht. Zwei Türen am entgegengesetzten Ende des Zimmers, sich links und rechts gegenüberliegend, die eine Tür zu, die andere halb geöffnet. Ich sah neben der geöffneten Tür einen langen niedrigen Tisch voller Bücher und Papiere. Bizarre Objekte standen an leeren Stellen in den Regalen und in seltsamen Wandnischen – Knochen, Steine, Töpfereiwaren, Schrifttafeln, Linsen, Stäbe, Instrumente, deren Zweck mir unbekannt war. Der riesige Teppich erinnerte mich an einen Ardebil. Ich machte einen Schritt in das Zimmer, und die Laterne flackerte ein drittesmal. Ich drehte mich um und griff danach. Im gleichen Augenblick verlöschte das Licht.

Ich brummte einen Fluch und senkte die Hand. Dann drehte ich mich langsam um und suchte nach möglichen Lichtquellen. Auf einem gegenüberliegenden Regal schimmerte etwas, das an einen Korallenzweig erinnerte; außerdem war am Fuße der geschlossenen Tür ein bleicher Lichtstreifen zu sehen. Ich ließ die Laterne stehen und durchquerte das Zimmer.

Ich öffnete die Tür, so leise es ging. Der benachbarte Raum war leer, ein kleiner fensterloser Wohnraum im schwachen Licht eines noch glimmenden Herdfeuers. Die Wände bestanden aus Stein und ragten hoch über mir auf. Die Feuerstelle sah aus wie eine natürliche Vertiefung in der Wand zu meiner Linken. In der Wand gegenüber entdeckte ich eine breite Metalltür; ein großer Schlüssel war halb herumgedreht.

Ich trat ein, nahm von einem Tisch in der Nähe eine Kerze und ging zur Feuerstelle, um sie anzuzünden. Als ich niederkniete und in die Glut blies, um eine Flamme zu entfachen, hörte ich leise Schritte von der Tür her. Ich drehte mich um und entdeckte ihn auf der Schwelle. Etwa fünf Fuß groß, bucklig. Haar und Bart waren noch länger, als ich sie in Erinnerung hatte. Dworkin trug ein Nachthemd, das bis zu den Knöcheln herabhing. In der Hand hielt er eine Öllampe, seine dunklen Augen starrten an ihrem rußigen Aufsatz vorbei.