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»Warum das?«

»Es neigt dazu, einen verzerrenden Einfluß auf Schatten auszuüben, wenn es sich zu lange dort befindet.«

»Verzerrend? In welcher Hinsicht?«

»Das kann man vorher nie sagen. Hängt völlig von der Umgebung ab.«

Wir kamen um eine Ecke und setzten unseren Weg durch die Dunkelheit fort.

»Was hat das zu besagen«, fuhr ich fort, »wenn man das Juwel trägt und sich ringsum alles zu verlangsamen beginnt? Fiona sagte mir, dies sei gefährlich, aber sie wußte nicht genau, wieso.«

»Die Erscheinung bedeutet, daß du die Grenzen deiner Existenz erreicht hast, daß deine Energien in Kürze erschöpft sein werden, daß du stirbst, wenn du nicht schleunigst etwas unternimmst.«

»Und das wäre?«

»Gewinne Energie aus dem Muster selbst – aus dem Ur-Muster im Innern des Juwels.«

»Wie macht man das?«

»Du mußt dich ihm ergeben, dich entspannen, deine Identität auslöschen, die Fesseln lösen, die dich von allem anderen trennen.«

»Hört sich an, als wäre so etwas leichter gesagt als getan.«

»Aber man kann es schaffen – und es ist der einzige Ausweg.«

Ich schüttelte den Kopf. Wir gingen weiter und erreichten endlich die große Tür. Dworkin löschte den Stab und lehnte ihn an die Wand. Wir traten ein, und er verschloß den Durchgang hinter uns. Der Greif hatte sich unmittelbar davor aufgebaut.

»Du mußt jetzt gehen«, sagte Dworkin.

»Aber ich habe noch viele Fragen, ich möchte dir noch so viel erzählen!«

»Meine Gedanken verlieren ihre Bedeutung, deine Worte wären nur verschwendet. Morgen abend oder der Tag danach oder der nächste. Beeil dich jetzt! Geh!«

»Warum die plötzliche Hast?«

»Vielleicht tue ich dir etwas an, wenn mich der Wechsel überkommt. Ich stemme mich im Augenblick mit voller Willenskraft dagegen. Geh!«

»Ich weiß nicht, wie. Ich weiß, wie ich hierherkomme, aber . . .«

»Im Tisch nebenan liegen alle möglichen besonderen Trümpfe. Nimm das Licht mit! Versetz dich irgendwohin! Verschwinde rasch von hier!«

Ich wollte schon einwenden, daß ich mich nicht vor Gewalttätigkeiten seinerseits fürchtete, als seine Züge wie Wachs zu zerfließen begannen und er plötzlich viel größer und schmalgliedriger wirkte. Ich packte die Lampe und floh aus dem Zimmer, von einem Gefühl der Kälte verfolgt.

. . . Zum Tisch. Ich zerrte die Schublade auf und nahm einige Trümpfe heraus, die in wirrem Durcheinander darin lagen. Nun hörte ich Schritte. Etwas betrat das Zimmer hinter mir, aus dem Raum kommend, den ich eben verlassen hatte. Die Schritte hörten sich nicht an, als würden sie von einem Menschen verursacht. Ich sah mich nicht um. Statt dessen hob ich die Karten vor meine Augen und betrachtete das Bild des obersten Trumpfes. Es war eine unbekannte Szene, doch ich öffnete sofort meine Gedanken in diese Richtung und griff danach. Eine Bergspitze, etwas Unbestimmtes dahinter, ein seltsam gefleckter Himmel, ein offener Sternhaufen links . . . Die Karte fühlte sich in meiner Hand abwechselnd heiß und kalt an, und ein heftiger Wind schien mir aus dem Bild entgegenzuwehen, als ich mich darauf konzentrierte und den Ausblick irgendwie umarrangierte.

Dicht hinter mir ertönte plötzlich die unheimlich veränderte, doch immer noch erkennbare Stimme Dworkins. »Dummkopf! Du hast dir das Land deines Verderbens ausgesucht!«

Eine riesige klauenähnliche Hand – schwarz, ledrig, verknöchert – griff mir über die Schulter, als wollte sie mir die Karte entreißen. Aber die Vision schien komplett zu sein, und ich stürzte mich hinein, drehte die Karte von mir fort, als ich erkannte, daß die Flucht gelungen war. Dann blieb ich stocksteif stehen, damit sich meine Sinne an die neue Umgebung gewöhnen konnten.

Und dann wußte ich Bescheid. Bruchstücke von Legenden, Teile des Familienklatsches kamen mir in den Sinn, außerdem wies mir mein Gefühl den Weg: Ich wußte, welchen Ort ich hier aufgesucht hatte. Gewißheit über meinen Aufenthaltsort erfüllte mich, als ich den Blick hob und auf die Höfe des Chaos blickte.

6

Wo? Die Sinne sind unzuverlässige Helfer, und die meinen waren jetzt über ihr Leistungsvermögen hinaus beansprucht. Der Felsen, auf dem ich stand . . . Wenn ich den Versuch machte, den Blick darauf zu richten, sah er plötzlich aus wie ein Straßenpflaster an einem heißen Nachmittag. Das Gestein schien hin und her zu rücken und zu flimmern, obwohl ich meine Füße auf völlig ruhigem Boden wähnte. Außerdem wußte es nicht recht, in welchem Teil des Spektrums es zu Hause war. Es pulsierte und blitzte wie die Haut eines Leguans. Den Kopf hebend, erblickte ich einen Himmel, wie ihn meine Augen noch nie geschaut hatten. Im Augenblick war er in der Mitte geteilt – eine Hälfte im tiefsten Nachtschwarz liegend, worin die Sterne tanzten. Wenn ich von tanzen spreche, meine ich nicht, daß sie funkelten; sie sprangen herum und veränderten ihre Position und ihre Größe; sie zuckten hierhin und dorthin und umkreisten einander; sie flammten zur Helligkeit einer Nova auf und verblaßten ins Nichts. Es war ein erschreckendes Schauspiel, und mein Magen verkrampfte sich, während ich eine intensive Höhenangst erlebte. Als ich jedoch den Blick abwandte, verbesserte sich meine Lage nicht. Die andere Hälfte des Himmels erinnerte an eine Flasche mit farbigem Sand, der beständig geschüttelt wurde; orangerote, gelbe, rote, blaue, braune und purpurne Streifen drehten und dehnten sich; grüne, malvenfarbene, graue und grellweiße Punkte entstanden und verschwanden wieder, erlangten vorübergehend ebenfalls Streifenform, ersetzten oder verlängerten die anderen sich windenden Gebilde. Und auch diese Phänomene schimmerten und schwankten und erweckten unmögliche Empfindungen von Ferne und Nähe. Zuweilen schienen alle oder einige im wahrsten Sinne des Wortes himmelhoch über mir zu stehen, aber dann rückten sie heran und füllten die Luft vor mir, gazehafte, transparente Nebelwolken, durchschimmernde Schwaden oder feste Tentakel aus Farbe. Erst später ging mir auf, daß die Linie, die das Schwarz von der Farbe trennte, langsam von rechts herüberrückte, während sie auf meiner linken Seite nach hinten zurückwich. Es war, als rotierte das ganze Himmels-Mandala um einen Punkt, der sich direkt über mir befand. Was die Lichtquelle der helleren Hälfte anging, so war sie einfach nicht zu bestimmen. Ich rührte mich nicht vom Fleck und starrte nun auf eine Szene hinab, die mir zuerst wie ein Tal vorgekommen war, das mit unzähligen Explosionen von Farbe angefüllt zu sein schien; als jedoch die vorrückende Dunkelheit diese Erscheinung hinwegrückte, tanzten die Sterne nicht nur über mir, sondern auch in der Tiefe dieses Tals und erzeugten in mir den Eindruck eines bodenlosen Abgrunds. Es war, als stünde ich am Ende der Welt, am Ende des Universums, am Ende aller Dinge. Doch weit, weit von meinem Standort entfernt lauerte etwas auf einem Gebilde aus tiefstem Schwarz – selbst eine Schwärze, doch mit kaum wahrnehmbaren Lichtflecken eingefaßt und abgemildert. Ich vermochte seine Größe nicht abzuschätzen, denn Entfernung, Tiefe, Perspektive gab es hier nicht. Ein einzelnes Gebäude? Eine Gruppe? Eine Stadt? Oder nur ein Ort? Jedesmal wenn der Umriß neu von meiner Netzhaut wahrgenommen wurde, hatte er sich verändert. Nun trieben auch vage Nebelschwaden dazwischen und wanden sich wie in erhitzter Luft. Das Mandala stellte seine Drehung ein, sobald es sich umgekehrt hatte. Die Farben waren jetzt hinter mir, nur noch sichtbar, wenn ich den Kopf drehte, eine Bewegung, die ich nicht wünschte. Es war angenehm, einfach reglos hier zu stehen und zu der Formlosigkeit hinüberzustarren, aus der alle Dinge letztlich hervorgingen . . . Dieses Ding existierte sogar vor dem Muster. Das war mir im Kern meines Denkens bewußt, vage, aber mit Gewißheit. Ich wußte es, denn ich war überzeugt, daß ich schon einmal hier gewesen war. Als Kind des Mannes, der ich geworden war, so wollte mir scheinen, war ich eines fernen Tages schon einmal hierhergebracht worden – ich erinnerte mich nicht, ob von Vater oder Dworkin – und hatte an diesem Ort oder einem sehr ähnlichen Ort gestanden oder war hier festgehalten worden und hatte mir dieselbe Szene angeschaut, sicher mit einem ähnlichen Mangel an Verständnis und einem ähnlichen Gefühl der Angst. Meine Freude wurde durch nervöse Erregung beeinträchtigt, durch ein Gefühl des Verbotenen, einen Hauch dubioser Erwartung. Seltsamerweise stieg jetzt zugleich eine Sehnsucht nach dem Juwel in mir auf, das ich auf der Schatten-Erde hatte zurücklassen müssen, das Ding, dem Dworkin soviel Macht zugesprochen hatte. War es möglich, daß ein Teil von mir eine Gegenwehr oder zumindest ein Symbol des Widerstandes gegen den unbekannten Einfluß suchte, der sich dort draußen befand? Möglich immerhin.