»Du!« rief er. »Ist das die Klinge Grayswandir?«
»Ja«, gab ich zurück.
Er setzte seine Musterung fort, und irgend etwas in mir suchte nach Worten der Erklärung, fand aber nichts und rannte hilflos durch die Nacht davon.
»Was willst du hier?« fragte er.
»Zurück nach Hause.«
Ein leises Zischen ertönte, als sein Bolzen ein gutes Stück links von mir auf die Felsen traf.
»Dann geh«, sagte er. »Dies ist ein gefährlicher Ort für dich.«
Er wendete sein Pferd in die Richtung, aus der er gekommen war. – Ich senkte Grayswandir.
»Ich werde dich nicht vergessen«, sagte ich.
»Nein, vergiß mich nicht«, erwiderte er, ohne sich umzuwenden.
Dann galoppierte er davon, und Sekunden später trieb der vage Nebelstreifen ebenfalls weiter.
Ich stieß Grayswandir in die Scheide und trat einen Schritt vor. Die Welt begann sich wieder um mich zu drehen; von links rückte das Licht vor, rechts wich die Dunkelheit zurück. Ich suchte nach einer Möglichkeit, den Felshang hinter mir zu erklimmen. Er schien nur dreißig oder vierzig Fuß hoch zu sein, und ich hoffte, daß ich von weiter oben einen besseren Ausblick hätte. Der Felsvorsprung, auf dem ich stand, erstreckte sich nach rechts und links. Doch als ich mich ernsthaft damit befaßte, stellte ich fest, daß der Weg nach rechts schmaler wurde, ohne mir eine Aufstiegsmöglichkeit zu bieten. Ich drehte um und wanderte nach links.
Dort, hinter einem Felsvorsprung, wo der Weg ebenfalls ziemlich schmal wurde, erreichte ich einen zerklüfteten Teil der Wand. Ich suchte das Gestein mit den Blicken ab: Ein Aufstieg schien möglich. Ich warf einen vorsichtigen Blick nach hinten, um weitere Gefahren auszuspähen. Die gespenstische Straße war noch weiter fortgetrieben; da sich keine weiteren Reiter näherten, begann ich zu klettern.
Der Aufstieg war nicht schwierig, obwohl der Hang höher war, als er von unten ausgesehen hatte. Wahrscheinlich ein Symptom der räumlichen Verzerrungen, die meine Augen hier verschiedentlich wahrgenommen hatten. Nach einer gewissen Zeit richtete ich mich an einer Stelle auf, die mir einen besseren Blick über den Abgrund ermöglichte.
Wieder einmal nahm ich die chaotischen Farben wahr, die rechts von der Dunkelheit bedrängt wurden. Das Land, über dem sie tanzten, war mit Felsen übersät und voller Krater, keine Spur von Leben erkennbar. Mitten hindurch führte jedoch schwarz und gewunden ein Streifen, der sich vom fernen Horizont bis zu einem Punkt irgendwo rechts von mir erstreckte: Dies konnte nur die schwarze Straße sein.
Nach weiteren zehn Minuten Kletterei hatte ich eine Stelle gefunden, von der aus ich den Endpunkt der Straße sehen konnte. Sie führte durch einen breiten Paß in den Bergen geradewegs zum Rand des Abgrunds. Dort verschmolz ihre Schwärze mit der, die diesen Ort füllte, jetzt nur noch an der Tatsache erkennbar, daß keine Sterne hindurchschimmerten. Ich orientierte mich an dieser Verdeckung und gewann den Eindruck, daß sie sich bis zu dem schwarzen Gebilde fortsetzte, um das die Nebelstreifen wallten.
Ich legte mich flach hin, um auf den Konturen des niedrigen Hügels keinen Anhaltspunkt zu bieten für unsichtbare Augen, die diesen Teil der Berge beobachten mochten. In dieser Position dachte ich darüber nach, wie der schwarze Weg geöffnet worden war. Der Schaden, den das Muster erlitten hatte, war für diesen Einfluß zur Pforte nach Amber geworden, wofür – das nahm ich an – mein Fluch das auslösende Element gewesen war. Zwar spürte ich inzwischen, daß die Katastrophe wohl auch ohne mich geschehen wäre, doch ich war überzeugt, meinen Beitrag dazu geleistet zu haben. Die Schuld lastete noch immer auf mir, wenn auch nicht mehr mit ganzer Schwere, wie ich zunächst angenommen hatte. In diesem Augenblick mußte ich an Eric denken, der sterbend auf dem Kolvirberg gelegen hatte. Obwohl er mich haßte, hatte er gesagt, er wolle seinen Sterbefluch den Gegnern Ambers entgegenschleudern. Mit anderen Worten: diesem Einfluß, diesen Gestalten. Ironisch. Mein Tun galt heute im wesentlichen dem Bemühen, den Todeswunsch des von mir am wenigsten geliebten Bruders zu erfüllen. Sein Fluch sollte meinen Fluch aufheben, durch mein Einwirken. Irgendwie war das sogar richtig so.
Ich hielt Ausschau nach Reihen schimmernder Reiter, die sich auf der Straße bewegten oder sammelten – doch zu meiner Freude war nichts festzustellen. Wenn eine neue Armee der Angreifer nicht bereits unterwegs war, schwebte Amber nicht in unmittelbarer Gefahr. Trotzdem machte mir eine Reihe von Dingen zu schaffen. In erster Linie fragte ich mich, warum nicht tatsächlich längst ein neuer Angriff stattgefunden hatte, wenn sich die Zeit an diesem Ort wirklich so seltsam verhielt, wie es Daras mögliche Herkunft andeutete. Jedenfalls reichte die inzwischen verstrichene Zeit mehr als aus, um sich zu erholen und eine neue Attacke vorzubereiten. War kürzlich, nach amberianischer Zeit, etwas geschehen, das die gegnerische Strategie verändert hatte? Wenn ja, was? Meine Waffen? Brands Rückkehr? Oder etwas anderes? Ich fragte mich außerdem, wie weit Benedict seine Posten vorgeschoben hatte. Jedenfalls nicht bis hierher, sonst wäre ich informiert worden. War er überhaupt jemals hier gewesen? Hatte irgend einer der anderen in der jüngeren Vergangenheit hier gestanden, über den Höfen des Chaos, etwas wissend, das mir nicht bekannt war? Ich beschloß, Brand und Benedict danach zu fragen, sobald ich zurück war.
Dies alles brachte mich auf die Überlegung, wie sich wohl die Zeit in bezug auf mich verhalten würde, in diesem Augenblick. Am besten blieb ich nicht länger als unbedingt nötig an diesem Ort. Ich blätterte die anderen Trümpfe durch, die ich aus Dworkins Schublade mitgenommen hatte. Sie waren zwar alle interessant, zeigten aber keine bekannten Szenen. Daraufhin nahm ich mein eigenes Spiel zur Hand und zog Randoms Trumpf. Vielleicht war er derjenige, der mich vorhin hatte sprechen wollen. Ich hob seine Karte und betrachtete sie.
Nach kurzer Zeit begann sie vor meinen Augen zu verschwimmen, und ich blickte auf ein undeutliches Kaleidoskop von Bildern mit einem vagen Eindruck von Random in der Mitte. Bewegung, sich verzerrende Perspektiven . . .
»Random«, sagte ich. »Hier Corwin.«
Ich spürte seinen Verstand, doch er antwortete nicht. Mir ging auf, daß er mitten in einem Höllenritt steckte und sich voll darauf konzentrierte, den Stoff der Schatten ringsum zu beherrschen. Er konnte nicht antworten, ohne die Kontrolle zu verlieren. Ich bedeckte den Trumpf mit der Hand und brach auf diese Weise den Kontakt.
Darauf zog ich Gérards Karte heraus. Sekunden später hatte ich Verbindung. Ich richtete mich auf.
»Wo bist du, Corwin?« fragte er.
»Am Ende der Welt«, sagte ich. »Ich möchte nach Hause.«
»Komm.«
Er streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie und trat hindurch.
Wir befanden uns im Erdgeschoß des Palastes von Amber, in dem Wohnzimmer, in das wir uns am Abend von Brands Rückkehr zurückgezogen hatten. Es schien früh am Morgen zu sein. Im Kamin brannte ein Feuer. Wir waren allein.
»Ich habe dich vorhin zu erreichen versucht«, sagte er. »Dasselbe vermute ich von Brand, aber ich weiß es nicht genau.«
»Wie lange bin ich überhaupt fort gewesen?«
»Acht Tage.«
»Da bin ich nur froh, daß ich mich beeilt habe. Was gibt´s«
»Nichts Besonderes«, erwiderte er. »Ich weiß nicht, was Brand will. Er fragte immer wieder nach dir, und ich konnte dich nicht erreichen. Daraufhin habe ich ihm einen Satz Karten gegeben und ihm anheimgestellt, es selbst zu versuchen. Offenbar ist es ihm nicht besser gegangen.«
»Ich war abgelenkt«, sagte ich. »Außerdem war der Unterschied im Zeitfluß enorm.«
Er nickte.
»Seitdem er außer Gefahr ist, gehe ich ihm aus dem Weg. Er steckt mal wieder in einer seiner finsteren Stimmungen und ist überzeugt, daß er sich allein versorgen kann. Damit hat er natürlich recht; mir ist es ja auch egal.«
»Wo ist er jetzt?«
»In seinen Räumen, dort war er wenigstens vor einer Stunde – in finstere Gedanken versunken.«