»Schon gut«, sagte ich. »Ich verstehe dich schon.«
Er umarmte mich einen Augenblick lang, und auf meine Überzeugung, daß zwischen uns alles in Ordnung war, fiel lediglich der Schatten des Griffes jener kalten und tödlichen Finger an meiner Schultern.
Ganelon lachte und zog sich einen Stuhl herbei, den er auf der anderen Seite der Truhe aufstellte. Mein Zorn, daß er ein Thema angeschnitten hatte, das ich unter keinen Umständen hatte besprechen wollen, verrauchte beim Betrachten der Auswirkungen; ich konnte mich nicht erinnern, Benedict je bei besserer Laune gesehen zu haben. Ganelon freute sich offenbar, unsere Differenzen beigelegt zu haben.
Ich lächelte meinerseits und nahm Platz, wobei ich den Schwertgürtel öffnete und Grayswandir am Zeltmast aufhängte. Ganelon holte drei Gläser und eine Flasche Wein. Während er die Gläser vollschenkte, bemerkte er: »Um die Gastfreundschaft deines Zeltes zu erwidern, damals spätnachts in Avalon.«
Benedict nahm sein Glas zur Hand; es war kaum ein Klicken zu hören.
»Aber die Stimmung in diesem Zelt ist entspannter«, sagte er. »Nicht wahr, Corwin?«
Ich nickte und hob meinen Wein.
»Auf diese Entspannung. Möge sie ewig anhalten.«
»Zum erstenmal seit langer Zeit habe ich ausführlich mit Random sprechen können«, sagte Benedict. »Er hat sich ziemlich verändert.«
»Ja«, sagte ich.
»Ich bin jetzt eher geneigt, ihm zu trauen. Wir hatten Zeit für unser Gespräch, nachdem wir die Tecys verlassen hatten.«
»Wohin wart ihr unterwegs?«
»Martin hatte gegenüber seinen Gastgebern einige Bemerkungen fallen lassen, die darauf hindeuteten, daß er zu einem Ort tiefer in den Schatten unterwegs war, den ich kannte – die Blockstadt Heerat. Wir reisten dorthin und stießen in der Tat auf seine Spur.«
»Ich kenne Heerat nicht«, warf ich ein.
»Eine Stadt aus Adobe und Stein – ein Zentrum an der Kreuzung mehrerer Handelsstraßen. Random erhielt dort Nachrichten, die ihn nach Osten und vermutlich noch tiefer in die Schatten geführt haben. Wir trennten uns in Heerat, denn ich wollte nicht zu lange von Amber fort sein. Außerdem gab es da eine persönliche Angelegenheit, die ich weiterverfolgen mußte. Er hatte mir erzählt, er habe gesehen, wie Dara am Tag des großen Kampfes das Muster beschritt.«
»Das ist richtig«, sagte ich. »Sie hat es getan. Ich war auch dabei.«
Er nickte.
»Wie ich schon sagte, Random hatte mich beeindruckt. Ich war geneigt zu glauben, er habe die Wahrheit gesagt. Wenn das so war, bestand die Möglichkeit, daß du ebenfalls nicht gelogen hattest. Hiervon ausgehend, mußte ich den Behauptungen des Mädchens nachgehen. Da du nicht hier warst, habe ich Ganelon aufgesucht – vor mehreren Tagen schon – und mir von ihm alles erzählen lassen, was er über Dara weiß.«
Ich blickte Ganelon an, der leicht den Kopf neigte.
»Jetzt glaubst du also eine neue Verwandte entdeckt zu haben«, sagte ich. »Eine Lügnerin, gewiß, und möglicherweise ein Gegner – aber trotzdem eine Verwandte. Was hast du als nächstes vor?«
Er trank einen Schluck Wein.
»Ich würde ja gern glauben, daß sie mit mir verwandt ist«, sagte er. »Der Gedanke gefällt mir irgendwie. Mir geht es also darum, diesen Tatbestand zu bestätigen oder eben den Beweis für das Gegenteil zu finden. Wenn es sich erweist, daß wir wirklich verwandt sind, möchte ich gern die Motive ihres Tuns kennenlernen. Und ich möchte erfahren, warum sie sich mir nie direkt offenbart hat.« Er setzte das Glas ab, hob die künstliche Hand und bewegte die Finger. »Zunächst möchte ich aber von deinen Erlebnissen in Tirna Nog´th hören, soweit sie mich und Dara betreffen. Außerdem erfüllt mich brennende Neugier wegen dieser Hand, die mir das Gefühl verleiht, als sei sie für mich gemacht. Es ist meines Wissens zum erstenmal geschehen, daß jemand aus der Stadt am Himmel ein greifbares Objekt mitgebracht hat.« Er ballte die Faust, öffnete sie wieder, drehte das Handgelenk, streckte den Arm aus, hob ihn, legte ihn sanft auf das Knie. »Random hat mir das Ding gut anoperiert, meinst du nicht auch?« schloß er.
»O ja«, sagte ich.
»Erzählst du mir deine Geschichte?«
Ich nickte und trank aus meinem Weinglas.
»Es geschah im Palast des Himmels«, sagte ich. »Der Ort war voller tintenschwarzer, zuckender Schatten. Ich verspürte den Drang, den Thronsaal aufzusuchen. Das tat ich auch, und als die Schatten zur Seite wichen, sah ich dich rechts vom Thron stehen und diesen Arm tragen. Als sich das Bild weiter aufhellte, erblickte ich Dara auf dem Thron. Ich trat vor und berührte sie mit Grayswandir, was mich für sie sichtbar machte. Sie erklärte, ich sei doch schon seit Jahrhunderten tot, und forderte mich auf, in mein Grab zurückzukehren. Als ich nach ihrer Herkunft fragte, erwiderte sie, sie stamme von dir und dem Höllenmädchen Lintra ab.«
Benedict atmete tief, sagte aber nichts. Ich sprach weiter.
»Die Zeit, sagte sie, bewegte sich an ihrem Geburtsort dermaßen schnell, daß dort inzwischen mehrere Generationen vergangen wären. Sie sei die erste gewesen, die dort wie ein Mensch ausgesehen hätte. Wieder forderte sie mich auf, zu gehen. Während dieses Gesprächs hattest du dir Grayswandir angesehen. Du gingst auf mich los, um die Gefahr von ihr abzuwenden, und wir kämpften miteinander. Meine Klinge konnte dich berühren und deine Hand mich. Das war alles. Ansonsten handelte es sich um eine Auseinandersetzung zwischen Gespenstern. Als der Himmel zu verblassen und die Sonne aufzugehen begann, hattest du mich mit der Hand da gepackt. Ich schlug mit Grayswandir den Arm los und floh. Das Ding kehrte mit mir zurück, weil es sich noch in meine Schulter verkrampft hatte.«
»Seltsam«, sagte Benedict. »Bisher wußte ich nur, daß der Ort da oben falsche Prophezeiungen liefert – eher ein Bild der Ängste und verborgenen Sehnsüchte des Besuchers als eine klare Darstellung der Dinge, die da kommen werden. Doch zugleich macht Tir-na Nog´th oft unbekannte Wahrheiten sichtbar. Und wie bei den meisten Dingen ist es schwierig, das Wahre vom Überflüssigen zu trennen. Wie hast du die Ereignisse gedeutet?«
»Benedict«, sagte ich, »ich neige dazu, Dara die Geschichte ihrer Herkunft abzunehmen. Im Gegensatz zu mir hast du sie nie gesehen. Sie ähnelt dir irgendwie. Was das übrige angeht . . . so ist es zweifellos so, wie du sagst: Man muß es mit Vorsicht genießen.«
Er nickte langsam, und ich erkannte, daß er nicht überzeugt war, daß er mich aber nicht weiter bedrängen wollte. Er wußte so gut wie ich, was der Rest bedeutete. Wenn er seinen Anspruch auf den Thron weiter verfolgte und vielleicht sogar durchsetzte, mochte es sein, daß er eines Tages zu Gunsten seines einzigen Nachkommen abdankte.
»Was willst du tun?«
»Tun?« fragte er. »Was tut Random auf seiner Suche nach Martin? Ich werde sie suchen, sie finden, mir die Geschichte aus ihrem Munde anhören und dann eine eigene Entscheidung fällen. Aber das alles kommt erst, wenn die Sache mit der schwarzen Straße geklärt ist. Das ist ein anderes Thema, das ich mit dir besprechen möchte.«
»Ja?«
»Wenn die Zeit sich in der gegnerischen Festung so völlig anders verhält, hat man dort ausreichend Zeit gehabt, einen neuen Angriff vorzubereiten. Ich möchte nicht warten und mich dem Feind in Schlachten entgegenstellen, die letztlich zu nichts führen. Ich spiele mit dem Gedanken, der schwarzen Straße an ihren Ausgangspunkt zu folgen und unsere Gegner auf eigenem Gebiet anzugreifen. Das täte ich gern mit deinem Einverständnis.«
»Benedict«, sagte ich, »hast du die Höfe des Chaos gesehen?«
Er hob den Kopf und starrte an das Zeltdach.
»Vor langer, langer Zeit, als ich jung war«, sagte er, »unternahm ich einen Höllenritt so weit es ging, bis zum Ende des Seins. Dort, unter einem geteilten Himmel, starrte ich in einen furchterregenden Abgrund. Ich weiß nicht, ob der gesuchte Ort dort liegt oder die Straße überhaupt so weit geht, doch wenn das so ist, bin ich bereit, diesen Weg erneut zu beschreiten.«
»Es ist so«, sagte ich.
»Woher weißt du das?«