Ich ging zur Einfriedung, in der die Pferde standen. Kurze Zeit später ritt ich los. Ganelon grüßte mich mit einer Handbewegung, die ich erwiderte. Benedict kniete neben Gérard.
Ich ritt zum nächsten Weg, der nach Arden führte. Das Meer lag hinter mir. Garnath und die schwarze Straße links, Kolvir rechts. Ich mußte ein gutes Stück zurücklegen, ehe ich mit dem Stoff der Schatten arbeiten konnte. Der Tag erstreckte sich hell und klar vor mir, sobald ich nach mehreren Erhebungen und Senken Garnath nicht mehr sehen konnte. Ich erreichte den Weg und folgte seiner weiten Biegung in den Wald, wo feuchte Schatten und leiser Vogelgesang mich an die langen Zeiten des Friedens erinnerten, die wir einst hier erlebt hatten, und an die seidigschimmernde Gegenwart des mütterlichen Einhorns. Wie lange war das her.
Der pulsierende Schmerz ging im Rhythmus des Rittes unter, und ich beschäftigte mich noch einmal mit der Auseinandersetzung. Gérard zu verstehen war nicht schwierig, hatte er mir seinen Verdacht doch offen dargelegt und mir eine Warnung zukommen lassen. Doch störte mich sein Eingreifen in einem dermaßen ungünstigen Augenblick nach Brands Verschwinden, daß ich hierin nur einen weiteren Versuch sehen konnte, mich entweder aufzuhalten oder völlig aus dem Verkehr zu ziehen. Mein Glück, daß Ganelon zur Stelle, bei Kräften und in der Lage gewesen war, seine Fäuste im richtigen Augenblick an die richtige Stelle zu setzen. Ich fragte mich, wie sich Benedict verhalten hätte, wenn wir nur zu dritt gewesen wären. Ich ahnte, daß er gewartet und vielleicht erst im letzten Augenblick eingegriffen hätte, um zu verhindern, daß Gérard mich umbrachte. Unser Verhältnis stimmte mich noch nicht glücklich, wenn es auch gegenüber dem früheren Zustand eine klare Verbesserung darstellte.
Meine Gedanken führten mich schließlich zu der Frage, was aus Brand geworden war. Waren Fiona oder Bleys endlich zu ihm vorgestoßen? Hatte er die vorgeschlagenen Morde allein durchführen wollen und war auf Gegenwehr gestoßen, war er womöglich durch den Trumpf eines seiner Opfer gezogen worden? Hatten sich seine alten Verbündeten aus den Höfen des Chaos irgendwie zu ihm durchgekämpft? Oder war schließlich einer seiner hornhändigen Turmwächter zu ihm vorgedrungen? Oder war es so gewesen, wie ich Gérard hatte einreden wollen – eine versehentliche Selbstverletzung während eines Wutanfalls, gefolgt von einer Flucht im Zorn, in der Absicht, seinen finsteren Gedanken und Plänen an einem anderen Ort nachzuhängen?
Wenn ein einzelnes Ereignis so viele Fragen auslöst, läßt es sich selten mit reiner Logik klären. Trotzdem mußte ich mir alle Möglichkeiten vor Augen halten, damit ich etwas Konkretes hatte, sobald weitere Tatsachen hervortraten. Zunächst überdachte ich noch einmal gründlich die Dinge, die er mir gesagt hatte, und prüfte seine Behauptungen im Licht jener Informationen, die ich inzwischen erlangt hatte. Mit einer Ausnahme zweifelte ich die Tatsachen im wesentlichen nicht an. Er hatte ein zu raffiniertes Bauwerk errichtet, als daß man es nun einfach umstürzen konnte – immerhin hatte er viel Zeit gehabt, sich all diese Dinge zu überlegen. Nein, es war die Art seiner Darstellung der Ereignisse, die etwas verbarg. Sein neuester Vorschlag gab mir praktisch die Gewähr dafür.
Der alte Weg wand sich, wurde breiter, dann wieder schmaler, schwang sich nach Nordwesten und bergab in den dichter werdenden Wald hinein. Der Wald selbst hatte sich kaum verändert. Es schien sich um denselben Pfad zu handeln, auf dem ein junger Mann vor Jahrhunderten geritten war, nur so zum Spaß, fasziniert das gewaltige grüne Reich erkundend, das sich über den größten Teil des Kontinents erstreckte. Es wäre schön, mal wieder einen solchen Ritt zu unternehmen, aus keinem anderen Grund, als sich zu vergnügen.
Nach etwa einer Stunde hatte ich mich ziemlich weit in den Wald vorgearbeitet. Die Bäume waren riesige schwarze Türme; das bißchen Sonnenlicht, das noch zu sehen war, verfing sich wie Phoenixnester in den höheren Ästen, eine ewig feuchte, dämmrige Weichheit ließ die Umrisse von Stämmen, Stümpfen, Ästen und moosbewachsenen Felsen verschwimmen. Ein Hirsch verließ sich nicht auf die Deckung des Dickichts zu meiner Rechten und sprang vor mir über den Weg. Vogelstimmen erschallten ringsum, doch niemals in der Nähe. Von Zeit zu Zeit kreuzte ich die Spuren anderer Reiter. Einige waren noch ziemlich frisch, doch sie blieben nicht lange auf dem Weg. Kolvir war seit längerer Zeit außer Sicht.
Der Weg stieg wieder an, und ich wußte, daß ich in Kürze eine kleine Erhebung erreichen und zwischen einigen Felsen hindurchkommen würde, woraufhin es dann wieder bergab ging. Der Baumbestand wurde zum Kamm hin dünner, bis ich schließlich sogar den Himmel zu Gesicht bekam. Die Himmelsfläche nahm weiter zu, und als ich die Anhöhe erreichte, hörte ich den fernen Ruf eines Raubvogels.
Ich hob den Kopf und erblickte einen großen dunklen Umriß, der sich in weiten Kreisen am Himmel bewegte. Ich erreichte die Felsbrocken und trieb Drum zu schnellerer Gangart an, als der Weg klar vor mir lag. Wir stürmten den Hang hinab, bestrebt, in die Deckung der großen Bäume zurückzukehren.
Wieder schrie der Vogel, doch wir erreichten unbehindert den Schatten, die Dämmerung. Ich ließ das Pferd allmählich wieder langsamer gehen und hielt die Ohren offen, doch es waren keine beunruhigenden Laute zu hören. Die Umgebung hatte große Ähnlichkeit mit dem Wald auf der anderen Seite der Erhebung, bis auf einen kleinen Wasserlauf, dem wir eine Zeitlang folgten, ehe wir ihn an einer flachen Furt überquerten. Dahinter erweiterte sich der Weg, und ein wenig mehr Licht drang durch das Blätterdach und umschwebte uns etwa eine halbe Meile weit. Unsere Entfernung von Amber reichte fast aus, daß ich mit jenen kleinen Manipulationen der Schatten beginnen konnte, die mich auf den Weg zu meinem früheren Exil führen konnten, der Schatten-Erde. Allerdings war so etwas hier noch ziemlich schwierig, weiter entfernt würde es mir leichter fallen. Ich beschloß, mir und meinem Tier die Mühe zu ersparen, indem ich einen besseren Ausgangspunkt suchte. Bisher war im Grunde noch nichts Bedrohliches passiert. Der Vogel mochte ein Raubtier sein, weiter nichts.
Nur ein Gedanke machte mir zu schaffen.
Julian . . .
Arden war Julians Reich, von seinen Reitern bewacht, Heimat mehrerer seiner Truppenabteilungen – Ambers innere Grenzwache, sowohl gegen natürliche Feinde als auch gegen jene Dinge, die an den Grenzen zu den Schatten auftauchen mochten.
Wohin war Julian verschwunden, als er in der Nacht des Überfalls auf Brand den Palast so plötzlich verließ? Wenn er sich nur verstecken wollte, hätte er nicht weiter zu fliehen brauchen als bis hierher. Hier war er stark, unterstützt von seinen Männern, in einem Bezirk, den er besser kannte als wir alle zusammen. Durchaus möglich, daß er sich im Augenblick gar nicht weit entfernt aufhielt. Außerdem liebte er die Jagd. Er hatte seine Höllenhunde, seine Vögel . . .
Eine halbe Meile, eine Meile . . .
Und plötzlich hörte ich den Laut, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte. Der weittragende Ton eines Jagdhorns durchstieß das Grün und das Schattendunkel. Noch weit entfernt . . . meinem Gefühl nach links hinter mir.
Ich trieb mein Pferd in den Galopp, und die Bäume links und rechts wurden zu verwischten Streifen. Der Weg lag gerade und eben vor mir, das machten wir uns zunutze.
Plötzlich hörte ich ein Brüllen – eine Art dröhnenden, widerhallenden, knurrenden Laut, der aus einer resonanzstarken Brust zu kommen schien. Ich wußte nicht, wer einen solchen Ton ausstoßen konnte, jedenfalls handelte es sich nicht um einen Hund. Nicht einmal ein Höllenhund vermochte so zu bellen. Ich warf einen Blick über die Schulter, doch Verfolger waren nicht in Sicht. Ich beugte mich vor und redete Drum gut zu.
Nach einer Weile hörte ich ein Krachen im Wald zu meiner Rechten, doch das Brüllen wiederholte sich nicht. Mehrmals sah ich mich um, doch ich vermochte nicht zu erkennen, was den Lärm erzeugte. Gleich darauf hörte ich wieder das Horn, schon viel näher, und diesmal wurde es von dem Bellen und Knurren beantwortet, das ich nur zu gut kannte. Die Höllenhunde kamen – schnelle, kampfstarke, bösartige Monstren, die Julian in irgendeinem Schatten gefunden und zur Jagd abgerichtet hatte.