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Julian stieg ab. Er sagte etwas zu den anderen Reitern; ich verstand die Worte nicht. Sie blieben in den Sätteln sitzen. Er betrachtete den noch zuckenden Manticora, blickte schließlich mich an und lächelte. Er näherte sich dem Ungeheuer, stellte ihm den Fuß in die Flanke, packte die Lanze mit einer Hand und riß sie aus dem Leib. Blut schoß aus der Wunde. Dann stieß er die Lanze in den Boden und band Morgenstern am Schaft fest. Er hob die Hand und tätschelte dem Pferd die Flanke, blickte wieder zu mir, machte kehrt und kam herüber.

Als er vor mir stand, sagte er: »Ich wünschte, du hättest Bela nicht umgebracht.«

»Bela?« fragte ich.

Er blickte zum Himmel. Ich folgte seinem Blick. Keiner der Vögel war zu sehen.

»Er war einer meiner Lieblinge.«

»Das tut mir leid«, sagte ich. »Ich wußte nicht, was hier los war.«

Er nickte.

»Na schön. Ich habe etwas für dich getan. Dafür kannst du mir erzählen, was passiert ist, seit ich den Palast verließ. Hat Brand es geschafft?«

»Ja«, erwiderte ich. »Doch in dieser Angelegenheit bist du aus dem Schneider. Er behauptet, der Messerstich wäre von Fiona gekommen. Und sie steht ebenfalls nicht für ein Verhör zur Verfügung. Wie du verschwand sie während der Nacht. Ein Wunder, daß ihr euch nicht über den Weg gelaufen seid.«

Er lächelte. »Etwas Ähnliches habe ich mir gedacht«, sagte er.

»Warum bist du unter so verdächtigen Umständen geflohen?« wollte ich wissen. »Das hat dich in einem wirklich schlechten Licht dastehen lassen.«

Er zuckte die Achseln.

»Wäre nicht das erstemal gewesen, daß man mich zu unrecht verdächtigt. Genau genommen bin ich so schuldig wie unsere kleine Schwester, wenn man die Absicht mitzählt. Ich hätt´s selbst getan, wenn ich rangekommen wäre. Ich hatte sogar das Messer parat an jenem Abend. Nur wurde ich zur Seite gedrängt, als er durchkam.«

»Aber warum?« fragte ich.

Er lachte.

»Warum? Ich habe Angst vor dem Schweinehund, das ist der Grund! Lange Zeit hatte ich angenommen, er wäre tot – jedenfalls hatte ich gehofft, daß er endlich von den finsteren Kräften verschlungen worden wäre, mit denen er sich einließ. Wieviel weißt du eigentlich über ihn, Corwin?«

»Wir haben uns lange unterhalten.«

»Und . . .?«

»Er gab zu, daß er und Bleys und Fiona Absichten auf den Thron hatten. Sie wollten Bleys krönen lassen, doch die eigentliche Macht sollte von den beiden ausgehen. Die drei spannten die Kräfte ein, die du eben erwähntest, um für Vaters Verschwinden zu sorgen. Brand sagte, er habe versucht, Caine für die Gruppe zu gewinnen, doch Caine habe sich für dich und Eric entschieden. Ihr drei hättet dann eine ähnliche Gruppe geformt mit dem Ziel, Eric auf den Thron zu bringen, ehe ihr soweit wart.«

Er nickte.

»Die Ereignisse stimmen, aber die Gründe nicht. Wir wollten den Thron gar nicht, zumindest nicht so plötzlich, jedenfalls damals nicht. Unsere Gruppe formierte sich als Gegenstück zur ihren; sie mußte sich konstituieren, um den Thron zu schützen. Zuerst konnten wir Eric nur dazu bringen, eine Art Protektorat zu übernehmen. Er hatte Angst, daß er nicht mehr lange zu leben hätte, wenn er in der damaligen Situation sich zum Herrscher krönen ließ. Plötzlich tauchtest du wieder auf, mit deinem durchaus rechtmäßigen Anspruch. Wir konnten es uns damals nicht leisten, dich im Nacken zu haben, denn Brands Truppe drohte gerade mit einem umfassenden Krieg. Wir waren der Meinung, daß die Gegenseite vielleicht weniger Lust zu diesem Schritt hätte, wenn der Thron bereits besetzt war. Dich hätten wir nicht krönen können, denn du hättest dich geweigert, die Marionette zu spielen, eine Rolle, die du hättest übernehmen müssen, da das Stück bereits im Gange war und du in zu vielen Punkten keine Ahnung hattest. Wir überredeten also Eric, das Risiko einzugehen und sich krönen zu lassen. Und so geschah es dann auch.«

»Und als ich auftauchte, ließ er mich blenden und warf mich rein zum Spaß ins Verlies?«

Julian wandte sich ab und blickte auf den toten Manticora.

»Du bist ein Dummkopf«, sagte er schließlich. »Du warst von Anfang an ein Werkzeug. Sie benutzten dich, um uns zum Handeln zu zwingen – und wie immer wir uns entschieden hätten, du standest in jedem Fall auf der Verliererseite. Wenn Bleys´ verrückter Angriff auf Amber Erfolg gehabt hätte, wärst du nicht lange am Leben geblieben. Und als der Angriff tatsächlich schiefging, verschwand Bleys und ließ dich allein zurück, als Verantwortlichen für den Umsturzversuch. Du hattest deinen Zweck erfüllt und mußtest sterben. In diesem Punkt ließ man uns keine große Wahl. Vom Gesetz her hätten wir dich töten müssen – und das weißt du auch.«

Ich biß mir auf die Unterlippe, hätte ich doch in diesem Augenblick so manches sagen können. Doch wenn seine Worte nur ungefähr der Wahrheit entsprachen, gab es eigentlich kein Gegenargument. Zunächst wollte ich mehr hören.

»Eric«, fuhr er fort, »rechnete sich aus, daß du nach einer gewissen Zeit dein Augenlicht wiedererlangen würdest, kannte er doch die regenerativen Kräfte unserer Familie. Er war in einer schwierigen Lage. Sollte Vater eines Tages zurückkehren, konnte Eric den Thron räumen und all seine Handlungen zur allgemeinen Zufriedenheit belegen – nur deinen Tod hätte er nicht rechtfertigen können. Das wäre ein zu klarer Schritt gewesen zur Absicherung seiner Position über die derzeitigen Unruhen hinaus. Und ich sage dir ganz offen, daß er dich eigentlich nur einschließen und vergessen wollte.«

»Von wem kam dann der Einfall mit der Blendung?«

Er schwieg lange. Dann sprach er leise weiter; seine Stimme war fast ein Flüstern. »Hör mich bitte bis zu Ende an. Ich hatte den Einfall, und vielleicht verdankst du dieser Idee dein Leben. Unser Vorgehen gegen dich mußte dem Tod gleichzusetzen sein, sonst hätte der Gegner bestimmt nachgehakt. Du konntest den dreien nicht mehr nützen, doch wärst du frei und am Leben gewesen, hätte die Möglichkeit bestanden, daß du später wieder zur Gefahr wurdest. Sie hätten deinen Trumpf verwenden können, um sich mit dir in Verbindung zu setzen und dich zu töten; sie hätten die Karte auch einsetzen können, um dich zu befreien und dich in einem neuen Schachzug gegen Eric zu opfern. Da du nun aber blind warst, bestand keine Veranlassung, dich zu töten. Die Blendung war also deine Rettung, weil du dadurch lange Zeit aus dem Verkehr gezogen wurdest; sie ersparte uns außerdem eine durchgreifendere Maßnahme, die man uns eines Tages vorwerfen konnte. So wie wir die Dinge sahen, hatten wir keine Wahclass="underline" Wir mußten es tun. Auch konnten wir dich nicht offiziell begnadigen, um uns nicht dem Verdacht auszusetzen, wir hätten etwas mit dir vor. Sobald es so ausgesehen hätte, wärst du ein toter Mann gewesen. Wir konnten höchstens beide Augen schließen, sobald Lord Rein deine Lage zu verbessern versuchte. Das war alles.«

»Ich sehe nun klarer«, sagte ich.

»Ja«, stimmte er mir zu, »du hast viel zu früh wieder sehen können. Niemand ahnte, daß deine Augen so schnell gesunden würden und du fliehen könntest. Wie hast du das nur gemacht?«

»Das werde ich dir nicht auf die Nase binden. Was weißt du über Brands Gefangenschaft?«

Er sah mich offen an.

»Mir ist nur bekannt, daß es in der Gruppe Streit gab. Die Einzelheiten kenne ich natürlich nicht. Aus irgendeinem Grunde hatten Bleys und Fiona Angst, ihn zu töten; andererseits wollten sie ihn nicht frei herumlaufen lassen. Als wir ihn aus dem Kompromiß – seiner Gefangenschaft – befreiten, hatte Fiona anscheinend mehr Angst davor, ihn in Freiheit zu wissen.«

»Und du hattest genug Angst vor ihm, um Anstalten zu machen, ihn umzubringen. Warum das, nach all der Zeit, wo doch die Ereignisse längst Geschichte sind und die Machtverhältnisse sich erneut verändert haben? Er war schwach und geradezu hilflos. Welchen Schaden kann er heute noch anrichten?«

Er seufzte.

»Ich verstehe die Kräfte nicht, die er besitzt«, sagte er, »aber sie sind beträchtlich. So weiß ich, daß er mit dem Verstand durch die Schatten wandern kann; daß er ein Objekt in den Schatten ausfindig machen und es dann durch reine Willenskraft zu sich holen kann, ohne sich aus seinem Stuhl zu erheben; außerdem vermag er sich auf ähnliche Weise physisch durch die Schatten zu bewegen. Er richtet seinen Geist auf den Ort, den er besuchen möchte, bildet eine Art gedankliche Tür und tritt einfach hindurch. Analog dazu nehme ich an, daß er manchmal deuten kann, was ein anderer denkt. Es ist fast, als wäre er selbst eine Art lebendiger Trumpf. Ich weiß von diesen Dingen, weil ich selbst beobachtet habe, wie er so etwas tut. Während wir ihn im Palast unter Beobachtung hielten, entwischte er uns auf diese Weise – etwa zu der Zeit, da er auf die Schatten-Erde reiste und dich in ein Institut einliefern ließ. Als wir ihn wieder eingefangen hatten, blieb einer von uns stets bei ihm. Damals wußten wir allerdings noch nicht, daß er Wesen durch die Schatten holen konnte. Als er erfuhr, daß du entkommen warst, beschwor er ein entsetzliches Ungeheuer herauf, das Caine angriff, der gerade sein Leibwächter war. Dann setzte er sich wieder auf deine Fährte. Offenbar haben ihn Bleys und Fiona kurz darauf in ihre Gewalt gebracht, ehe wir an ihn herankamen; ich bekam ihn erst wieder an jenem Abend in der Bibliothek zu Gesicht, als wir ihn zurückholten. Ich habe Angst vor ihm, da er über gefährliche Kräfte verfügt, die ich nicht begreife.«