»Dann muß ich meinen Höllenritt fortsetzen. Irgendwie muß ich ihm zuvorkommen.«
»Ich sehe, daß du Drum reitest«, stellte Julian fest. »Ein gutes Tier, ein leistungsfähiger Bursche. Hat so manchen Höllenritt mitgemacht.«
»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Was hast du jetzt vor?«
»Ich werde mich mit jemandem in Amber in Verbindung setzen und mich über die Dinge aufklären lassen, die wir hier nicht besprechen konnten – wahrscheinlich Benedict.«
»Sinnlos«, sagte ich. »Du wirst ihn nicht erreichen. Er ist zu den Höfen des Chaos aufgebrochen. Versuch es mit Gérard. Sag ihm, daß ich es ehrlich meine.«
»Die Rotschöpfe sind die einzigen Zauberer in unserer Familie – trotzdem will ich es versuchen . . . Hast du Höfe des Chaos gesagt?«
»Ja – aber ich habe jetzt keine Zeit mehr.«
»Natürlich. Zieh los. Wir haben später noch Zeit – hoffe ich wenigstens.«
Er hob die Hand und umfaßte meinen Arm. Ich blickte auf den Manticora, auf die Hunde, die ringsum Platz genommen hatten.
»Vielen Dank, Julian. Ich – du bist manchmal so schwer zu begreifen.«
»O nein. Ich glaube, der Corwin, den ich gehaßt habe, ist vor Jahrhunderten schon gestorben. Nun reite schon los. Wenn Brand sich hier sehen läßt, nagele ich sein Fell an einen Baum!«
Als ich aufstieg, rief er seinen Hunden einen Befehl zu, woraufhin sie sich über den toten Manticora hermachten und ihn knurrend zu zerfleischen begannen. Ich ritt an dem seltsamen breiten, menschenähnlichen Gesicht vorbei und sah, daß die Augen offenstanden, Augen, die inzwischen jedoch glasig geworden waren. Sie schimmerten blau, und der Tod hatte ihnen eine gewisse übernatürliche Unschuld nicht nehmen können. Entweder das oder der Blick war das letzte Geschenk des Todes; wenn es so war, eine sinnlose Ironie.
Ich lenkte Drum auf den Weg zurück und begann meinen Höllenritt.
10
Auf dem Weg reitend, in mäßigem Tempo, Wolken verdüsterten den Himmel, und Drums Wiehern der Erinnerung oder Vorfreude . . . Eine Wende nach links und bergauf . . . Der Boden braun, gelb, zurück zum Braun . . . Die Bäume ducken sich, wandern auseinander . . . Grasflächen wogen dazwischen im aufkommenden kühlen Wind . . . Ein schnell aufzuckendes Feuer am Himmel . . . Ein Donnergrollen schüttelt Regentropfen los . . .
Jetzt steil und felsig . . . Der Wind zupft an meinem Mantel . . . Hinauf . . . Hinauf an einen Ort, da die Felsen mit Silber durchzogen sind und die Bäume ihre Grenze gefunden haben . . . Die Grasflächen, grüne Brände, ersterben im Regen . . . Hinauf in die schroffen, funkelnden, regensauberen Höhen, wo die Wolken wie ein schlammiger Fluß bei Hochwasser dahinwallen . . . Der Regen schmerzt wie Schrotkörner, der Wind räuspert sich, will lossingen . . . Immer weiter steigen wir empor, und die Anhöhe kommt in Sicht wie der Kopf eines aufgeschreckten Bullen, mit Hörnern, die den Weg bewachen . . . Blitze zucken um die Spitzen, tanzen dazwischen . . . Der Ozongeruch, als wir diesen Ort erreichen und weiterstürmen, der Regen plötzlich gestoppt, der Wind abgelenkt . . .
Hinaus auf die andere Seite . . . Dort gibt es keinen Regen, die Luft steht still, der Himmel ist glatt und von einem sternenübersäten Schwarz . . . Meteore schneiden brennend ihre Bahn, verblassen zu vagen Narben, die immer mehr ausbleichen . . . Monde, wie eine Handvoll Münzen hingeworfen . . . Drei helle Zehner, ein matter Fünfziger, einige Pfennige, davon einer dunkel und zerkratzt . . . Nun hinab auf dem langen gewundenen Weg . . . Klare, metallisch klingende Hufschläge in der nächtlichen Luft . . . Irgendwo ein katzenhaftes Fauchen . . . Ein dunkler Umriß vor einem kleinen Mond, zerrissen, schnell . . .
Abwärts . . . Zu beiden Seiten senkt sich das Land . . . Tief unten Dunkelheit . . . Ritt auf einer unendlich hohen gekrümmten Mauer, der Weg hell im Mondlicht . . . Der Weg krümmt sich, faltet sich, wird durchsichtig . . . Gleich darauf treibt er gazehaft, durchsichtig dahin, Sterne darunter wie darüber . . . Sterne zu beiden Seiten . . . Land ist nicht mehr zu sehen. Nur die Nacht ist noch vorhanden, die Nacht und der dünne, durchscheinende Weg, auf dem ich zu reiten versucht hatte, um zu wissen, wie es sich anfühlte – so etwas konnte später einmal nützlich sein . . .
Es ist jetzt absolut still, und jeder Bewegung haftet die Illusion der Langsamkeit an . . . Allmählich fällt der Weg unter mir fort, und wir bewegen uns dahin, als schwämmen wir in unvorstellbarer Tiefe unter Wasser, als wären die Sterne helle Fische . . . Die Freiheit, die Macht des Höllenritts vermittelt mir ein Hochgefühl, das nichts und doch alles mit der Tollkühnheit zu tun hat, wie sie einen manchmal im Kampf überkommt, die Kühnheit des Risikos, das Gefühl des Rechthabens, das sich einstellt, sobald man für einen Vers das richtige Wort gefunden hat . . . Diese Empfindungen erfüllen mich, und der Anblick der Umgebung – reitend, reitend, reitend – vielleicht aus dem Nichts in das Nichts, über und zwischen den Mineralien und Feuern der Leere, frei von Erde und Luft und Wasser . . .
Wir rasen mit einem großen Meteor um die Wette, wie berühren seine Masse . . . Wir hasten über seine narbige Oberfläche, herum und wieder hoch . . . Er dehnt sich zu einer großen Ebene, wird heller, gelber . . .
Sand ist es, Sand unter unserer Bewegung . . . Die Sterne verblassen, als sich die Dunkelheit in einem Morgen voller Sonnenaufgang auflöst . . . Schattenbahnen vor uns, darin Wüstenbäume . . . Auf die Dunkelheit zureiten . . . hindurchbrechen . . . Helle Vögel schwingen sich empor, kehren klagend zurück . . .
Zwischen den dichter stehenden Bäumen hindurch . . . Dunkler nun der Boden, enger der Weg . . . Palmenwedel schrumpfen auf Handgröße, Baumrinde wird dunkler . . . Eine Wende nach rechts, wo der Weg breiter wird . . . Unsere Hufe locken Funken aus Basaltsteinen . . . Der Weg vergrößert sich weiter, wird zu einer baumgesäumten Straße . . . winzige Reihenhäuser zucken vorbei . . . Helle Fensterläden, marmorne Treppen, bunte Türen und farbige Sonnenblenden zwischen Plattenwegen . . . Wir überholen einen Pferdewagen mit frischem Gemüse . . . zu Fuß gehende Menschen drehen sich um, starren uns nach . . . Leises Stimmengemurmel . . .
Weiter . . . Unter einer Brücke hindurch . . . Am Bach entlang, bis er sich zu einem Fluß verbreitert, der zum Meer führt . . .
Mit pochenden Hufen über den Strand unter einem zitronenfarbenen Himmel mit blauen Wolken . . . Das Salz, das Wrack, die Muscheln, die glatte Anatomie des angeschwemmten Holzes . . . Weiße Fische auf dem limonengrünen Meer . . .
Im Galopp zu der Stelle, da die Welt des Wassers an einer Erhebung endet . . . Hinauf, jede Stufe hinter uns abbröckelnd und in die Tiefe dröhnend, ihre Identität verlierend, im Brausen der Brandung untergehend . . . Hinauf, hinauf, auf die flache, baumbestandene Ebene, auf der eine goldene Stadt wie eine Vision schimmert . . .
Die Stadt wächst, wird dunkler unter einem schattenhaften Regenschirm, die grauen Türme recken sich empor, Glas und Metall blitzen hell durch das Zwielicht . . . Die Türme beginnen zu schwanken . . .
Als wir vorbeireiten, sinkt die Stadt lautlos in sich zusammen . . . Türme stürzen ein, Staub wallt auf, wird durch eine tiefstehende Lichtquelle rosa angestrahlt . . . Ein leises Geräusch wie von einer ausgelöschten Kerze . . .
Ein Staubsturm, schnell aufgekommen, wird von Nebel abgelöst . . . Durch das Nichts der Lärm von Autohupen . . . Ein Dahintreiben, ein Anheben, ein Bruch in den grauweißen perligen Wolken . . . Unsere Hufabdrücke auf dem Bankett einer Autobahn . . . Nach rechts endlose Reihen von Fahrzeugen . . . Perlweiß, grauweiß, von neuem treibend . . .