»Warum ist er denn so scharf darauf, sich auf das Juwel einzustimmen? Damit er ein paar Unwetter heraufbeschwören kann? Himmel, dazu braucht er doch nur durch die Schatten zu wandern; dort kann er das Wetter bestimmen, wie es ihm gefällt.«
»Eine Person, die auf das Juwel eingestimmt ist, könnte es benutzen, um das Muster auszulöschen.«
»Oh? Und was passiert dann?«
»Die Welt, die wir kennen, geht unter.«
»Oh«, wiederholte Random und fuhr fort: »Woher weißt du das, zum Teufel?«
»Es ist eine lange Geschichte, und ich habe keine Zeit, sie dir zu erzählen. Jedenfalls stammt sie von Dworkin, und ich glaube das meiste, was er mir erzählt hat.«
»Den gibt es noch?«
»Ja«, sagte ich. »Aber davon später.«
»Na schön. Aber Brand muß verrückt sein, wenn er so etwas vorhat.«
Ich nickte.
»Ich glaube, er nimmt an, er könnte anschließend ein neues Muster schaffen und ein neues Universum, in dem er der führende Mann ist.«
»Wäre das denn möglich?«
»Theoretisch vielleicht. Aber selbst Dworkin hat gewisse Zweifel, daß sich diese Tat jemals wirksam wiederholen ließe. Die Kombination der Faktoren war irgendwie einzigartig . . . Ja, ich glaube wirklich, daß Brand geistesgestört ist. Wenn ich so in die Vergangenheit schaue, wenn ich an die Schwankungen in seiner Stimmung denke, an seine immer wiederkehrenden Depressionen, so scheint mir hier doch eine Art schizoides Verhalten vorzuliegen. Ich weiß nicht, ob ihn das Bündnis mit dem Feind jenseits der Grenze wirklich hat durchdrehen lassen oder nicht. Das ist im Grunde auch egal. Ich wünschte nur, er säße wieder in seinem Turm. Ich wünschte, Gérard wäre kein so guter Arzt.«
»Weißt du, wer mit dem Messer auf ihn losgegangen ist?«
»Fiona. Du kannst dir die Geschichte von ihr erzählen lassen.«
Er lehnte sich an meinen Grabspruch und schüttelte den Kopf. »Brand«, sagte er. »Verdammt! Jeder von uns hätte mehrfach nicht übel Lust gehabt, ihn umzubringen – in der alten Zeit. Doch sobald er uns genug gepiesackt hatte, änderte er sich. Nach einer Weile sagte man sich dann, daß er ja gar kein so übler Bursche war. Nur schade, daß er nicht einen von uns im falschen Augenblick ein wenig zu sehr gereizt hat . . .«
»Dann darf ich doch annehmen, daß jetzt keine Rücksicht mehr genommen wird«, sagte Martin.
Ich blickte ihn an. Die Muskeln um seinen Mund waren angespannt, seine Augen waren zusammengekniffen. Eine Sekunde lang huschten all unsere Gesichter über seine Züge, als würde ein Spiel unserer Familienkarten aufgeblättert. All unser Egoismus, Haß, Neid und Stolz schienen in jenem Augenblick vorüberzuströmen – dabei war er noch nicht einmal in Amber gewesen. Irgend etwas zerriß in mir, und ich packte ihn an den Schultern.
»Du hast guten Grund, ihn zu hassen«, sagte ich, »und die Antwort auf deine Frage lautet ›ja‹. Die Jagdsaison ist eröffnet. Die einzige Möglichkeit, mit ihm fertigzuwerden, scheint mir die totale Vernichtung zu sein. Ich habe ihn selbst gehaßt, solange er nur eine Abstraktion war. Doch jetzt ist das etwas anderes. Ja, wir müssen ihn töten. Aber dieser Haß soll nicht bestimmend sein für deine Aufnahme in unsere Gruppe. Es hat schon zuviel Haß zwischen uns gegeben. Ich sehe dein Gesicht – ich weiß nicht . . . Es tut mir leid, Martin. Im Augenblick passiert einfach zuviel. Du bist jung. Ich habe schon mehr gesehen. Einiges macht mir eben . . . anders zu schaffen. Das ist alles.«
Ich ließ ihn los und trat zurück.
»Erzähl mir von dir«, forderte ich ihn auf.
»Lange Zeit hatte ich Angst vor Amber«, begann er, »und ich würde sagen, daß das noch immer so ist. Seit Brands Angriff auf mich habe ich in der Furcht gelebt, daß er mich noch irgendwo erwischen würde. Seit Jahren fühle ich mich verfolgt, habe ich wohl Angst vor euch allen. Die meisten von euch kannte ich nur als Bilder auf Karten – Bilder mit einem schlechten Ruf. Ich sagte Random -Vater –, daß ich euch nicht alle auf einmal kennenlernen wollte, und er schlug vor, zuerst mit dir zu sprechen. Keiner von uns wußte zu der Zeit, daß du dich besonders für gewisse Dinge interessieren würdest, die ich weiß. Nachdem ich dann davon gesprochen hatte, sagte Vater, ich müßte dich so schnell wie möglich sprechen. Er hat mir die Dinge geschildert, die hier im Gange sind und – ja, ich weiß etwas darüber.«
»Das ahnte ich schon – als nämlich vor nicht allzu langer Zeit ein bestimmter Name erwähnt wurde.«
»Die Tecys?« warf Random ein.
»Richtig.«
»Es ist schwierig, einen Anfang zu finden . . .«, sagte Martin.
»Ich weiß, daß du in Rebma aufgewachsen bist, das Muster beschritten hast und deine Macht über die Schatten benutzt hast, um Benedict in Avalon zu besuchen«, sagte ich. »Benedict erzählte dir mehr über Amber und die Schatten, lehrte dich den Gebrauch der Trümpfe, bildete dich an den Waffen aus. Später bist du aufgebrochen, um allein durch die Schatten zu ziehen. Und ich weiß, was Brand dir angetan hat. Das wär´ auch schon alles.«
Er nickte und starrte nach Westen.
»Nachdem ich Benedict verlassen hatte, bin ich jahrelang durch die Schatten gereist«, sagte er. »Es waren die glücklichsten Jahre, an die ich mich erinnern kann. Abenteuer, Spannung, neue Erkenntnisse, neue Bekanntschaften. In einem Winkel meines Gehirns nistete immer der Gedanke, daß ich eines Tages, wenn ich schlauer und härter – und erfahrener – sein würde, nach Amber reisen und meine anderen Verwandten kennenlernen wollte. Dann erwischte mich Brand. Ich lagerte an einem kleinen Hang, ruhte mich aus von einem langen Ritt und aß etwas zu Mittag. Ich war unterwegs zu den Tecys, die meine Freunde sind. Brand setzte sich mit mir in Verbindung. Ich hatte Benedict über seinen Trumpf erreicht, als er mich mit den Karten bekanntmachte. Er hatte mich sogar manchmal hindurchgeholt, so daß ich wußte, worum es sich handelte. Dieser Kontakt nun fühlte sich genauso an, und im ersten Augenblick dachte ich, es müsse Benedict sein. Aber nein. Brand rief mich an – ich erkannte ihn von seiner Karte. Er stand in der Mitte eines Gebildes, bei dem es sich offenbar um das Muster handelte. Ich war neugierig. Ich wußte nicht, wie er mich erreicht hatte, denn meines Wissens gab es für mich keinen Trumpf. Er redete eine Minute lang – ich habe seine Worte vergessen –, und als alles fest und klar war, da . . . stach er nach mir. Ich stieß ihn fort und riß mich los. Doch irgendwie hielt er den Kontakt. Ich hatte große Mühe, die Verbindung zu unterbrechen, und als es mir gelungen war, versuchte er mich wiederzufinden. Doch ich vermochte ihn abzublocken; Benedict hatte mir das beigebracht. Er versuchte es noch mehrmals, doch ich sperrte mich. Schließlich gab er es auf. Ich befand mich in der Nähe der Tecys. Irgendwie kam ich auf mein Pferd und schaffte es zu ihnen. Ich glaubte schon, ich müsse sterben, war ich doch noch nie so schwer verletzt gewesen. Nach einer gewissen Zeit aber begann ich mich zu erholen. Dann wuchs die Angst, Angst, daß Brand mich finden und – vollenden würde, was er begonnen hatte.«
»Warum hast du dich nicht bei Benedict gemeldet«, fragte ich, »und ihm alles berichtet – die Ereignisse und deine Befürchtungen?«
»Ich habe mich mit dem Gedanken beschäftigt«, sagte er, »und auch mit der Möglichkeit, daß Brand annahm, er habe Erfolg gehabt, und ich sei wirklich tot. Ich wußte zwar nicht, was für ein Machtkampf in Amber im Gange war, doch ich kam zu dem Schluß, daß der Mordversuch irgendwie damit zu tun hatte. Benedict hatte mir soviel von der Familie erzählt, daß ich als erstes auf diese Möglichkeit stieß. Und da überlegte ich mir, daß es vielleicht besser wäre, tot zu bleiben. Ich verließ die Tecys, ehe ich ganz wiederhergestellt war, und verlor mich in den Schatten.