Er verspürte eine vage Enttäuschung. Was habe ich erwartet? Dass sie mich in ihre Räume einlädt, für eine Nacht … Er schob den Gedanken hastig beiseite.
»Wenn ich etwas im Schilde führte, warum sollte ich es dir erzählen?«, konterte er.
Ihre Augen blitzten vor Ärger. Sie funkelte ihn an, dann erhob sie sich und ging auf die Tür zu. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er konnte sie so nicht gehen lassen!
»Ist das alles, was du mich fragen willst?«, rief er ihr nach.
»Ja«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen.
»Darf ich dir einige Fragen stellen?«
Sie verlangsamte ihren Schritt, dann blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Er winkte sie heran. Seufzend kam sie zu der Bank zurück, ließ sich darauf fallen und verschränkte abermals die Arme vor der Brust.
»Was denn?«, fragte sie.
Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Wie geht es dir? Ich habe dich seit Monaten nicht gesehen. Was musstest du für Rivas Familie tun?«
Sie musterte ihn nachdenklich, dann ließ sie die Arme sinken. »Mir geht es gut. Ich wäre natürlich lieber da draußen und würde etwas Sinnvolles tun, aber …« Sie zuckte die Achseln. »Rivas Familie lässt mich in den Abwassertunneln arbeiten.«
Er verzog das Gesicht. »Das kann weder angenehm noch interessant sein.«
»Sie denken, es ist die abscheulichste Aufgabe überhaupt, aber mir macht es nichts aus. Die Stadt braucht jemanden, der ihre Abwässer entfernt, ebenso wie sie Leute zur Verteidigung braucht, und als Sklave können einem viel unangenehmere Pflichten zugewiesen werden. Aber es ist langweilig. Für das allein werde ich es vielleicht am Ende hassen.«
»Du solltest uns mal auf der Krankenstation besuchen. Ich werde mich bemühen, dich zu unterhalten, obwohl ich nicht versprechen kann, dass es mehr sein wird als die dummen Fehler, die ein Fremder an einem unvertrauten Ort macht.«
Sie lächelte. »War es schwierig?«
Er breitete die Hände aus. »Manchmal, aber alle waren freundlich, und obwohl ich nie Heiler sein wollte, bin ich zumindest nützlich.«
Ihr Lächeln verschwand, und sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass sie dich in Kalias Hände geben würden, obwohl sie wissen, dass sie deinen Tod wollte.«
»Sie wissen, dass sie besser als jede andere ein Auge auf mich haben wird.«
»Und jetzt hast du sie zum Narren gemacht«, bemerkte sie.
»Arme Kalia«, sagte er ohne eine Spur von Mitgefühl.
»Dafür wird sie dir das Leben schwermachen.«
»Das tut sie sowieso.« Lorkin sah ihr in die Augen. »Du hast doch nicht von mir erwartet, dass ich versuchen würde, mich mit ihr anzufreunden, oder?«
»Ich habe dich für klug genug gehalten, um es zu vermeiden, ihr Vorwände zu liefern, die Leute gegen dich aufzubringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht erreichen, indem ich mich bedeckt halte und Schwierigkeiten aus dem Weg gehe.«
Sie sah ihn an, und ihre Augen wurden schmal. »Ein einzelner törichter kyralischer Junge kann die Verräterinnen nicht ändern, Lorkin.«
»Wahrscheinlich nicht, wenn sie es nicht wollen«, stimmte er ihr zu. »Aber mir scheint, dass die Verräterinnen es durchaus wollen. Ich habe den Eindruck, dass einige bedeutende Veränderungen definitiv ein Teil ihrer künftigen Pläne sind. Ich bin kein törichter Junge, Tyvara.«
Sie zog die Augenbrauen hoch, dann stand sie auf. »Ich muss gehen.« Sie drehte sich langsam um und verließ den Raum. Er beobachtete sie eindringlich und hoffte, dass ihr Anblick sich seinem Gedächtnis einprägen würde.
»Komm mich irgendwann mal besuchen«, rief er ihr nach. Sie schaute zurück und lächelte, sagte jedoch nichts. Dann war sie fort.
Augenblicke später begannen die Männer in den Raum zurückzukehren. Lorkin seufzte und sah sich um; Evar kam auf den Tisch zu. Der junge Magier setzte sich mit leuchtenden Augen hin.
»Oh, was täte ich nicht alles, um mit der da unter die Decke zu kommen«, sagte er leise.
Lorkin widerstand dem Drang, seinen Freund anzufunkeln. »Da bist du nicht der Einzige«, erwiderte er und hoffte, dass der junge Mann den Fingerzeig verstehen würde.
»Nein. Die meisten Männer hier würden alles für eine Nacht mit ihr tun«, pflichtete Evar ihm bei. Er begriff nicht, was Lorkin meinte – oder tat so, als begreife er nicht. »Aber sie ist wählerisch. Will sich nicht binden. Sie ist noch nicht so weit.«
»Wozu ist sie noch nicht weit genug?«
»Für die Verbindung mit einem Mann. Sie will nicht aufhören, gefährliche Arbeit zu tun. Spionage. Mordanschläge.«
»Würde ein Mann sie daran hindern? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Männer hier Frauen an irgendetwas hindern könnten.«
Evar zuckte die Achseln. »Nein, aber wenn die Frauen lange Zeit fort sind und getötet werden könnten, wissen sie, dass es hart für einen Mann ist. Es ist gewiss hart für ihre Kinder.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich hat Tyvaras Vorsicht wahrscheinlich etwas mit ihrer Mutter zu tun, die in jungen Jahren bei einer Mission ums Leben gekommen ist. Ihr Vater war am Boden zerstört, und Tyvara musste sich um ihn kümmern. Sie war … oh. Ich denke, es wird Zeit.«
Lorkin folgte dem Blick seines Freundes zum Eingang des Raums. Eine junge Magierin stand dort und winkte ihn heran. Er tauschte einen mitfühlenden Blick mit Evar.
»Ich denke, du hast recht«, sagte er. »Viel Glück.«
»Gleichfalls.«
Sie standen auf und gingen zur Tür, Lorkin voran. Die Frau musterte ihn von Kopf bis Fuß und grinste. Lorkin vermutete, dass sie seine Fähigkeit abschätzte, ihr Ärger zu machen, konnte sich jedoch nicht gänzlich des Eindrucks erwehren, dass sie womöglich eher sein Potenzial erwog, ihr ein wenig Freude zu schenken.
»Die Tafel hat sich versammelt und euch beide vorgeladen. Du sollst als Erster hineingehen.« Sie nickte Lorkin zu. »Folgt mir.«
Sie setzten sich schweigend in Bewegung. Die Leute, an denen sie vorbeikamen, sahen sie kaum an, was den Eindruck verstärkte, dass niemand seinen Ausflug in die Höhlen der Steinemacher allzu ernst nahm. Schließlich erreichten sie den Eingang zum Ratssaal der Sprecherinnen und blieben stehen. Sieben Frauen saßen an dem runden Steintisch, aber die für das Publikum bestimmten Sitzreihen waren leer. Lorkin bemerkte, dass auch der mit Edelsteinen übersäte Stuhl für die Königin der Verräterinnen unbesetzt war, wie er erwartet hatte. Die alte Monarchin nahm nur an wirklich wichtigen Zeremonien teil, und er bezweifelte, dass sie an dieser hier auch nur das geringste Interesse hatte.
Die Vorsitzende der Tafel, Riaya, eine schmale, müde wirkende Frau, sah ihn und winkte ihn heran. Er ließ Evar und ihre Begleiterin stehen und ging auf die Sprecherinnen zu. Vor dem Tisch hielt er inne und wandte sich Riaya zu.
»Lorkin«, sagte Riaya. »Du bist hierhergerufen worden, um uns deine Anwesenheit in einer Höhle der Steinemacher vor drei Nächten zu erklären. Was hast du dort gewollt?«
»Ich wollte mir die Steine in den verschiedenen Stadien der Entwicklung ansehen«, antwortete er.
»Das ist alles?«
Er nickte. »Ja.«
»Warum wolltest du dir die Steine ansehen?«, fragte eine der Sprecherinnen.
Er drehte sich zu ihr um. Ihr Name war Yvali, und sie neigte dazu, sich auf die Seite von Kalia und der Gruppe unter den Verräterinnen zu stellen, die ihn für die Untaten seines Vaters hatten töten wollen. Aber sie unterstützte sie nicht immer, hatte er bemerkt.
»Neugier«, antwortete er. »Man hat mir so viel von diesen Steinen erzählt, von ihrer Schönheit und dem Talent, das ihre Fertigung verlangt, dass ich sie mit eigenen Augen sehen wollte. Ich habe noch nie zuvor etwas wie diese Steine gesehen.«
»Hast du alles in Erfahrung gebracht, was du in Erfahrung bringen wolltest?«
Er zuckte die Achseln. »Ich würde natürlich gern lernen, wie man sie macht, aber ich habe nicht erwartet, das zu lernen, indem ich sie mir anschaue. Evar hat mir versichert, es sei nicht möglich, und wenn er das nicht getan hätte, wäre ich nicht dort hingegangen. Geradeso wie ihr mein Recht respektiert, wertvolles Wissen, das mir anvertraut wurde, geheim zu halten, respektiere ich euer Recht darauf.«