Der Nebeneingang auf der anderen Seite der Halle wurde geöffnet. Ein Novize spähte nervös in den Raum, doch als sein Blick auf Sonea fiel, richtete er sich auf. Er zeigte auf sie, dann auf Lilia, dann winkte er sie heran.
Ihr Herz verkrampfte sich. Hatte Kallen irgendwelche Probleme mit Naki?
Sonea sah Lilia an, die den Novizen offensichtlich bemerkt hatte und besorgt wirkte.
»Kommt mit mir«, sagte Sonea.
Das Summen der Stimmen verebbte, als sie durch die Halle gingen. Der Novize war ein hochgewachsener, schlaksiger junger Mann, der sich verneigte und dann vorbeugte, um Sonea ins Ohr zu flüstern.
»Der Administrator möchte, dass Ihr Lilia in sein Büro bringt, Schwarzmagierin Sonea.«
Sonea nickte. Sie ging, gefolgt von Lilia, zur Tür und schlüpfte hinaus in die Große Halle.
Die Stille dieses Raums war dramatisch nach dem Lärm in der Gildehalle. Sonea bedeutete Lilia, neben sie zu treten, dann ging sie zur Stirnseite der Universität. Als sie die Eingangshalle erreichten, eilte sie durch den Bogengang zu ihrer Rechten und blieb vor Osens Tür stehen. Sie schwang auf ihr Klopfen hin nach innen auf.
Zu ihrer Erleichterung standen Kallen und Naki gelassen da. Kallen fing ihren Blick auf, aber er sah ebenso neugierig und besorgt aus wie sie selbst. Naki wirkte gelangweilt.
»Schwarzmagierin Sonea«, begann Osen. »Ich habe gerade etwas sehr Interessantes erfahren, und es hat eine Frage aufgeworfen, die ich beantwortet wissen will, bevor die Anhörung beginnt.« Er wandte sich an Kallen. »Bitte, nehmt Naki den Ring ab.«
Sofort weiteten sich Nakis Augen. Sie presste die Hände auf die Brust, so dass eine die andere bedeckte, und blickte zwischen Osen und Kallen hin und her.
»Nein! Es ist der Ring meines Vaters. Das einzige Erinnerungsstück, das ich von ihm habe.«
Osen zog die Augenbrauen hoch. »Abgesehen von einem ganzen Herrenhaus und all seinen Besitztümern – abgesehen von einem gewissen Buch, das Anweisungen über schwarze Magie enthält.«
Kallen ergriff Nakis Arm. Sie widersetzte sich, als er die verborgene Hand unter der anderen hervorzog. Etwas fing das Licht auf und warf es zurück. Sonea hörte, wie Lilia scharf die Luft einsog. Sie drehte sich zu dem Mädchen um.
»Was ist los?«
»Das ist der Ring, der mit dem Buch in dem Schrank war.« Sie sah Sonea an. »Sie hat gesagt, er habe ihrer Großmutter gehört und besitze magische Eigenschaften.«
Kallen zog Naki den Ring vom Finger und reichte ihn Osen. Der Administrator untersuchte ihn eingehend. Er streifte ihn selbst über, und ein Ausdruck der Konzentration glitt über seine Züge, dann zuckte er die Achseln und nahm den Ring ab.
»Ich kann nichts Magisches daran spüren.«
»Natürlich nicht«, sagte Naki und bedachte ihn mit einem gezwungenen Lächeln. »Sie war eine verrückte alte Frau, die gern Geschichten für Kinder gesponnen hat.«
Osen betrachtete sie, sein Blick hart und abschätzend, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Dann schaute er zu Kallen hinüber.
»Lest ihre Gedanken.«
Sowohl Kallen als auch Naki erstarrten. Kallen wirkte überrascht; Naki wurde langsam weiß. Sie erholte sich als Erste.
»Nein«, sagte sie zornig und zog an der Hand, die sie noch immer am Arm festhielt. »Wie viele Male muss ich es noch zulassen, dass jemand in meinen Kopf eindringt?«
Die beiden Männer tauschten einen Blick. Osens Miene verhärtete sich, und er nickte zum Zeichen, dass Kallen fortfahren solle. Kallen zog Naki näher heran.
»Wartet!«, rief sie, Panik in ihrer Stimme. »Ist es nicht genug, dass ein Dieb mich entführt und gezwungen hat, für ihn zu arbeiten? Ist es nicht genug, dass … dass mein Vater ermordet wurde?« Sie deutete mit der freien Hand auf Lilia. »Von ihr. Ihr solltet noch einmal in ihre Gedanken schauen. Ihr solltet …«
»Falls es in Euren Gedanken nichts Neues zu sehen gibt, dann erlaubt Kallen, sie zu lesen«, erwiderte Osen.
»Nein!«, schrie Naki. Sie wand sich, um von Kallen wegzukommen. »Ich bin in Trauer! Ich will nicht, dass Ihr das seht! Lasst mich in Ruhe!« Sie schlug sich die freie Hand vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Kallen runzelte die Stirn. Zu Soneas Überraschung sah er fragend zu ihr herüber. Sie begegnete seinem Blick und bemerkte das Widerstreben in seinen Augen. Als sie sich zu Osen umdrehte, überlief sie ein kleines Frösteln, weil in seinen Zügen keinerlei Mitgefühl lag. Er griff nach Nakis freier Hand und zog sie von ihrem Gesicht.
Da waren keine Tränen. Naki starrte die Männer einen nach dem anderen an, die Augen vor Angst geweitet.
»Tut es, Kallen«, sagte Sonea leise. Naki bekämpfte ihn mit Magie, aber der Kampf währte nicht lange. Als er ihren Kopf ergriff, sah Sonea Lilia an, besorgt darüber, dass das Mädchen Angst haben könnte, aber Lilia beobachtete das Geschehen mit gelassener Eindringlichkeit.
Nach einem langen Schweigen ließ Kallen Naki mit einem Laut des Abscheus los. Er wandte sich an Osen.
»Ihr hattet recht. Der Ring verbirgt die wahren Gedanken und Erinnerungen des Trägers.«
Osen blickte auf den Ring hinab, und seine Lippen verzogen sich in grimmigem Triumph. »Was hat sie verborgen?«
Kallen holte tief Luft und stieß den Atem wieder aus. »Sie hat tatsächlich schwarze Magie gelernt, bevor sie Lilia begegnet ist – mit Absicht. Sie verübelte die Einschränkungen, die ihr Vater und die Gilde ihr auferlegt hatten, und wollte frei sein zu tun, was immer ihr beliebte.« Seine Miene verdüsterte sich. »Sie hat sich mit Lilia angefreundet und sie dazu verleitet, schwarze Magie zu erlernen, damit sie Leiden töten konnte und ein anderer unter Verdacht geraten würde – außerdem hat sie Lilia Drogen eingeflößt und Blut auf ihre Hände gestrichen, damit sie schuldig wirkte.« Er sah Lilia mitfühlend an, dann richtete er den Blick wieder auf Osen. »Inspiriert hat sie Skellin, den sie bewundert hat, weil er sich so lange einer Gefangennahme entziehen konnte. Die Blockade ihrer Magie war etwas, das sie nicht eingeplant hatte, aber es war einfach, daran vorbeizukommen – ich vermute, dass bei einem Schwarzmagier keine gewöhnliche Blockade wirkt. Dann fand Naki einen Dieb, der bereit war, sie zu lehren, wie man in der Unterwelt überlebte – als Gegenleistung für magische Dienstleistungen.« Kallen drehte sich voller Verachtung zu Naki um. »Er hat ihr Leute gebracht, die niemand vermissen würde, so dass sie deren Kraft nehmen konnte, und er hat dafür gesorgt, dass die Leichen niemals gefunden wurden.«
Sonea starrte das Mädchen an, während ihre Entrüstung über deren grausame Manipulationen und die Ermordung des eigenen Vaters sich in Entsetzen verwandelte. Wie konnte sie das tun? Menschen töten, die ihr nichts Böses wollten … Naki stand jetzt mit steifem Rücken und vor der Brust verschränkten Armen da, ihre Lippen in mürrischem Trotz verzogen. Alles, damit sie tun konnte, was ihr gefiel.
»Sonea«, sagte Osen.
Sie riss den Blick von Naki los und sah ihn an. Er hielt den Ring hoch.
»Ich möchte, dass Ihr versucht, meine Gedanken zu lesen.«
Sie blinzelte überrascht, dann verstand sie, als er den Ring wieder überstreifte. Sie trat vor, legte ihm beide Hände an die Schläfen und schloss die Augen.
Nachdem sie ihren Geist ausgesandt hatte, schlüpfte sie an den Schutzwällen seines Geistes vorbei und suchte nach seinen Gedanken. Sie nahm ein starkes Gefühl seiner Persönlichkeit wahr, aber die wenigen Gedanken, die sie auffing, waren vage und bruchstückhaft. Sie zog ihr Bewusstsein zurück und öffnete die Augen.
»Das ist … seltsam. Eure Gedanken waren unzusammenhängend, als hättet Ihr Mühe, Euch zu konzentrieren.«