Lilia starrte Sonea ungläubig an. Sie konnte nicht entscheiden, ob dies etwas Gutes oder etwas Schlechtes war. Es würde bequemer und weniger einsam sein als dieser Raum, und es deutete darauf hin, dass die Gilde ihr vielleicht hinreichend vertraute, um davon auszugehen, dass sie nicht noch einmal versuchen würde zu fliehen. Aber sie würde bei Sonea wohnen. Bei einer Schwarzmagierin.
Was genau das ist, was du ebenfalls bist, rief sie sich ins Gedächtnis.
Trotzdem fanden alle Novizen die beiden Schwarzmagier ein wenig beängstigend. Und sie hatte den Verdacht, dass es etlichen Magiern, die ihren Abschluss hatten, nicht viel anders erging. Sonea hatte schwarze Magie benutzt. Sie hatte damit getötet.
Nur zur Verteidigung Kyralias. Nicht wie Naki es getan hat.
Sonea winkte sie heran. »Kommt. Ich bringe Euch zu meinen Räumen.«
Lilia, die ihrer Stimme nicht traute, nickte nur und folgte der schwarz gewandeten Frau aus ihrem Gefängnis. Die beiden Wachen beäugten Sonea nervös, was Lilia nicht gerade ermutigte. Sie folgte Sonea gehorsam durch die Gänge und Flure der Universität und über den Innenhof zu den Magierquartieren.
In dem breiten Flur des Gebäudes kamen sie an zwei Alchemisten vorbei. Der Mann und die Frau nickten Sonea höflich zu, aber ihr Blick wanderte zu Lilia. Sie erwartete Missbilligung oder Argwohn. Stattdessen wirkten die beiden grimmig und mitfühlend.
Erst als sie oben an der Treppe angelangt war, kam sie dahinter, warum.
»Naki«, entfuhr es ihr.
Sonea sah sie an. »Ich habe auch sie betreffend Neuigkeiten. Aber kommt zuerst herein.«
Sofort erfüllte Lilia ein tiefes Grauen. Die Neuigkeiten werden nicht gut sein, dachte sie. Es sollte mir gleichgültig sein, was mit Naki geschehen ist, nach dem, was sie mir angetan hat. Aber sie wusste, dass es ihr nicht gleichgültig sein würde.
Sie blieben vor einer Tür stehen, die nach innen aufschwang. Sonea bedeutete Lilia voranzugehen. Lilia tat wie geheißen. Sie nahm die schlichte, aber luxuriöse Umgebung wahr und stellte fest, dass jemand vor den Stühlen im Gästezimmer stand. Als sie die Frau erkannte, machte ihr Herz einen Satz.
»Anyi!«
Die junge Frau lächelte, trat vor und umarmte Lilia schnell. »Lilia«, sagte sie. »Ich musste sehen, wie es dir geht.« Sie blickte Sonea an. »Habt Ihr es ihr schon gesagt?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Ich wollte es gerade tun.« Sie schaute Lilia in die Augen, ihre Miene ernst und mitfühlend. »Ihr hattet recht: Der König hat Naki keinen Gnadenerlass gewährt. Sie ist gestern am späten Abend hingerichtet worden.«
Obwohl Lilia es erwartet hatte, war die Nachricht dennoch ein Schock. Sie setzte sich auf den ihr am nächsten stehenden Stuhl. Für eine Weile konnte sie nichts anderes tun, als zu atmen.
Tot. Naki ist tot. Sie war so jung. Wie sie sagen, hatte sie großes Potenzial. Aber vielleicht ist es etwas Gutes, dass ihr Potenzial ungenutzt geblieben ist. Wer weiß, wie viele weitere Menschen sie getötet hätte?
Jemand legte ihr eine Hand auf den Rücken. Ihr wurde bewusst, dass Anyi neben ihr saß. Die junge Frau lächelte, aber ihre Augen waren voller Sorge.
»Ich werde schon zurechtkommen«, sagte Lilia.
»Ich lasse euch beide jetzt allein, damit ihr miteinander reden könnt«, meldete Sonea sich zu Wort. Dann öffnete sie die Tür und schlüpfte hinaus.
Lilia starrte auf die Tür.
»Was ist los?«, fragte Anyi.
»Sie hat mich allein hier zurückgelassen.«
»Allein? Ich bin hier.«
Lilia schüttelte den Kopf. »Entschuldigung. Ich meinte, unbewacht. Von Magiern.« Sie sah Anyi mit schmalen Augen an. »Es sei denn, es gibt da etwas, das du mir nicht erzählt hast.«
Anyi lachte. »Es gibt immer etwas, das ich irgendjemandem nicht erzähle. Das ist Teil meiner Arbeit. Aber nein, ich bin keine Magierin. In mir ist kein Funken Magie. Ich habe mich einmal testen lassen, als ich noch ein Kind war. Ich dachte, wenn ich in die Gilde aufgenommen würde, wäre das eine großartige Methode, um Cery eins auszuwischen.«
»Um Cery eins auszuwischen? Warum sollte dir das gelingen, indem du der Gilde beitrittst?«
Überraschung zeichnete sich in Anyis Zügen ab, dann Begreifen. Sie fluchte und schlug sich mit der Hand an die Stirn.
»Was ist los? Du hast gerade etwas verraten, nicht wahr?« Lilia dachte über Anyis Worte nach. »Du hast Cery schon gekannt, als du noch ein Kind warst.« Kein Wunder, dass Anyi so loyal war. Nur dass sie früher einmal den Wunsch gehabt hatte, ihm eins auszuwischen. Als ob … »Er ist dein Vater!«
Anyi stieß ein Stöhnen aus und nickte. »Ich bin als Leibwächterin offensichtlich viel besser als in der Wahrung von Geheimnissen.«
»Warum sollen die Leute nicht wissen, dass dein Vater ein Dieb ist?«
Anyi verzog das Gesicht. »Skellin hat Cerys zweite Ehefrau und meine Halbbrüder ermorden lassen.«
»Oh.« Lilias Befriedigung darüber, die Wahrheit erraten zu haben, schmolz dahin. »Also hast du Angst, dass er, wenn er herausfindet, dass du Cerys Tochter bist, versuchen wird, auch dich zu töten.«
Anyi zuckte die Achseln. »Er würde mich ohnehin töten, wenn er die Chance bekäme, weil ich Cerys Leibwächterin bin. Wenn er herausfände, dass wir verwandt sind, ist es wahrscheinlicher, dass er mir etwas antun wird, um Cery zu verletzen oder zu erpressen.«
»Nun … dein Geheimnis ist bei mir sicher. Obwohl, wenn Kallen oder Sonea jemals meine Gedanken lesen sollte …«
»Sonea weiß es. Kallen dagegen …« Anyi runzelte die Stirn, dann zog sie eine Augenbraue hoch und sah Lilia an. »Ich nehme nicht an, dass du Lust hättest, mit mir davonzulaufen? Mit Cerys Hilfe kann ich dich an einen Ort bringen, an dem die Gilde dich niemals finden würde.«
Lilias Herz schlug einen Purzelbaum. »Nein. Es ist verlockend, aber hierzubleiben ist … es ist einfach das Richtige. Früher war es mir nie allzu wichtig, das Richtige zu tun, aber heute sehe ich das anders.«
»Selbst wenn sie dich wieder in den Ausguck sperren? Wie kann das richtig sein? Es wäre eine Verschwendung.«
»Nein.« Lilia schüttelte den Kopf. »Ich habe ein Gesetz gebrochen und meinen Schwur. Ich habe es aus Dummheit getan, nicht aus Bosheit, aber die anderen Magier müssen sehen, dass ich bestraft werde, damit Novizen wie Naki nicht ebenfalls die Dinge tun, die sie getan hat.« Sie schauderte. »Die Gilde kann es sich eigentlich nicht leisten, Zeit und Magie auf mich zu verschwenden, während sie alle ihre Kräfte benötigt, um Skellin und Lorandra zu finden.«
Aber wenn ich doch fortginge, dachte Lilia plötzlich, könnte ich helfen, Anyi zu beschützen. Und Cery. Ich könnte mich für die Dinge erkenntlich zeigen, die sie für mich getan haben …
Anyi nickte langsam. »Nun, es ist deine Entscheidung.« Sie ergriff Lilias Hand und drückte sie. »Ich hoffe, sie sperren dich nicht ein, denn ich mag dich inzwischen recht gern. Ich würde mich freuen, wenn ich dich wiedersehen könnte.«
Lilia lächelte dankbar. »Mir geht es genauso.«
Ein Klopfen an der Tür erregte ihre Aufmerksamkeit. Anyi ließ Lilias Hand los und stand gerade in dem Moment auf, als Sonea eintrat.
»Entschuldigt die Störung«, sagte Sonea und sah Anyi an. »Ich habe gerade eine ziemlich rätselhafte Nachricht von Cery erhalten.« Sie reichte der jungen Frau einen kleinen Zettel. »Ich denke, er möchte, dass du zurückkehrst.«
Anyi las die Notiz und nickte. »Er will, dass ich unterwegs ein paar süße Brötchen besorge.« Anyi drehte sich wieder zu Lilia um und lächelte. »Viel Glück.«
Zu Lilias Erheiterung winkte Sonea und führte sie in ein kleines Schlafzimmer. Dann schloss sie die Tür.
»Hier werdet Ihr schlafen«, erklärte Sonea. Sie beugte sich zur Tür vor, offensichtlich um zu lauschen. »Cery nimmt immer einen anderen Weg als den Flur, um in den Raum zu gelangen, und ich vermute, Anyi hat dieselbe Methode benutzt«, fuhr sie fort. »Ich will nicht wissen, wie, für den Fall, dass jemals jemand meine Gedanken lesen sollte.«