Lilia hörte einen dumpfen Aufprall. Dies musste ein Signal gewesen sein, da Sonea die Klinke drehte und die Tür öffnete. Das Gästezimmer war jetzt leer.
Sonea schaute Lilia an. »Geht es Euch gut?«
»Ja.« Lilia nickte. Obwohl die Nachricht über Nakis Hinrichtung ein Schock gewesen war, fühlte sie sich besser, als sie erwartet hatte. Sie war nicht glücklich, akzeptierte jedoch den Gang der Dinge und hoffte, dass die Zukunft besser sein würde.
»Mir geht es gut«, sagte sie. »Danke. Danke, dass Ihr mir erlaubt, hier zu wohnen.«
Sonea lächelte. »Hoffentlich werden wir bald ein dauerhafteres Zuhause für Euch haben. In der Zwischenzeit macht es Euch hier bequem.«
Lorkin fuhr jäh aus dem Schlaf hoch.
Er schaute sich um und erkannte im schwachen Licht des Wageninneren seine »Retter« und Mitreisenden. Alle schliefen. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Die drei Meister hatten ihn bedrängt, Geschichten aus seiner Zeit bei den Verräterinnen zu erzählen, seit er sich ihnen angeschlossen hatte. Er hatte sich geweigert, sich selbst zu den nichtigsten Einzelheiten des Lebens der Verräterinnen zu äußern, und erklärt, er wage es nicht, irgendetwas zu sagen, bevor Botschafter Dannyl es ihm erlaubte. Glücklicherweise gingen ihre fortgesetzten Versuche, Informationen aus ihm herauszuholen, eher auf eine Art sportlichen Ehrgeiz zurück als auf das ernsthafte Verlangen, etwas Wichtiges zu finden. Sein Schweigen zu dem Thema war eine Herausforderung für sie, aber sie wollten nicht den Tadel jener riskieren, die weiter oben in der sachakanischen Hierarchie standen – und vor allem wollten sie den König nicht verärgern.
Die drei Männer waren entschlossen, Lorkin so schnell wie möglich nach Arvice zu bringen. Lorkin hoffte, dass ihr Motiv in dem Wunsch bestand, diejenigen zu sein, die die Anerkennung für seine Rettung und sichere Rückkehr einheimsten; dieses Motiv war ihm lieber als die andere Möglichkeit: dass sie erwarteten, dass der König Lorkin so schnell wie möglich in die Hände bekommen wollte, um ihn auszuhorchen. Meister Akami hatte den Sklaven befohlen, die Kutsche im höchsten Tempo zu fahren, das möglich war, ohne die Pferde zu ruinieren, und bei den Besitzen entlang des Weges Halt zu machen, um die Pferde gegen frische auszutauschen. Die Sklaven fuhren abwechselnd, wobei sich jene, die sich ausruhten, an den Außensitz am hinteren Teil der Kutsche banden, damit sie nicht herunterfielen, wenn sie einnickten.
Im Wagen hatte sich ein unangenehmer Geruch ausgebreitet, was nicht besser wurde durch den Gestank der Jägerkleider, die Lorkin trug. Sie hatten darauf bestanden, dass er den Kapuzenumhang wegwarf, aber als sie ihm typische sachakanische Gewänder anboten, hatte er dankend abgelehnt mit der Begründung, es sei passender, wenn seine nächsten frischen Kleider Gilderoben sein würden.
Als Lorkin nun aus dem Kutschenfenster schaute, sah er, dass das Land draußen in ein helles Licht getaucht war. Es beleuchtete Mauern zu beiden Seiten der Straße, und das konnte nur eines bedeuten.
Arvice! Wir haben die Stadt erreicht! In nur zwei Tagen und Nächten.
Es schien unglaublich, wenn man bedachte, wie lange er gebraucht hatte, um von der Stadt in die Berge zu kommen, aber er und Tyvara waren zu Fuß unterwegs gewesen, nicht in Kutschen, die im größtmöglichen Tempo fuhren und frische Pferde bekamen, wann immer die alten Tiere müde waren.
»Wir sind zurück«, sagte jemand. Lorkin schaute auf und stellte fest, dass Meister Akami wach war. Der junge Mann streckte Arme und Beine aus und gähnte gleichzeitig. Dann lächelte er, klopfte ans Dach der Kutsche und rief: »Zum Palast!«
Ein Schauder überlief Lorkin. »Direkt zum Palast?«, fragte er.
Akami nickte. »Wir sollten Euch so bald wie möglich abliefern.«
»Aber … ich habe darum gebeten, zum Gildehaus gebracht zu werden. Es wäre besser, wenn ich baden und Roben anziehen könnte, bevor ich mich dem König präsentiere.« Lorkin verzog das Gesicht. »Es ist noch früh, und wenn ich der König wäre, würde ich nicht im Morgengrauen geweckt werden wollen, nur um von einem verdreckten kyralischen Magier begrüßt zu werden.«
Akami runzelte die Stirn, während er darüber nachdachte.
»Er hat recht.«
Lorkin drehte sich um und stellte fest, dass auch Meister Chatiko jetzt wach war. Der Mann rieb sich die Augen. »Man wird den Palast über die Rückkehr von Lord Lorkin verständigen müssen, aber er braucht nicht dort herumzulungern, bis der König auftaucht.« Chatiko gähnte. »Und wahrscheinlich würden alle ihre Zeit verschwenden, da Lord Lorkin vermutlich verpflichtet ist, sich mit dem Botschafter zu beraten, bevor er mit dem König spricht.«
Akami blickte nachdenklich drein. Er stieß Meister Voriko mit dem Fuß an, und der dritte junge Meister tauchte widerstrebend aus dem Schlaf auf.
»Was denkst du, Vori? Bringen wir Lorkin zum Palast oder zum Gildehaus?«
Voriko musste dreimal gefragt werden, bevor er wach genug war, um zu verstehen. Er schaute zwischen Lorkin und Akami hin und her, wobei er die Augenbrauen hochzog, als hielte er seinen Freund für einen Idioten.
»Wir bringen ihn natürlich zum Gildehaus. Sie werden ihn in seinem Zustand gar nicht erst in den Palast hineinlassen. Vielleicht würden sie ihn nicht einmal erkennen.«
Akami zuckte die Achseln, dann nickte er. Er klopfte erneut ans Dach. »Bringt uns zum Gildehaus.«
Als die Kutsche wendete, konnte Lorkin einen Blick auf die Kreuzung werfen, auf die sie zugefahren waren. Die Bäume und Blumen waren vertraut. Es war die Prachtstraße, die direkt zum Palast führte. Das war knapp.
Er hoffte, dass er nicht allzu erleichtert wirkte.
Eine stille Wartezeit folgte, in der alle außer Lorkin und Akami wieder einschliefen. Als die Kutsche endlich das Tor des Gildehauses passierte, stieß Lorkin einen – wie er hoffte, stummen – Seufzer der Erleichterung aus.
»Da wären wir, Lord Lorkin«, sagte Akami, bevor er den Wagenschlag mit Magie öffnete. Die anderen erwachten und richteten sich auf. »Willkommen daheim.«
»Danke«, erwiderte Lorkin. »Und danke, dass Ihr mich hergebracht habt.«
Akami lächelte und tätschelte Lorkin die Schulter, der bereits aus der Kutsche stieg. »Wir werden im Palast Bescheid geben, dass Ihr zurück seid.«
Lorkin drehte sich um und schaute der abfahrenden Kutsche nach. Die Sklaven des Gildehauses schoben die Tore hinter der Kutsche zu. Als er sich umwandte, sah er zwei Sklaven mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Einer war der Türsklave. Er erinnerte sich an den Mann.
»Steht auf«, befahl er.
Die beiden Sklaven erhoben sich, hielten den Blick jedoch gesenkt. Er verspürte lange vergessenen Abscheu und Ärger über ihre Situation, gefolgt von Neugier. War einer dieser Männer vielleicht ein Spion der Verräterinnen?
»Ich bin Lord Lorkin, Botschafter Dannyls Assistent«, sagte er. »Bringt mich zu Botschafter Dannyl.«
»Botschafter Dannyl ist nicht hier«, sagte der Türsklave.
»Oh. Nun. Bringt mich hinein. Ich würde mich gern waschen und saubere Roben anziehen.«
Der Türsklave winkte und ging auf das Gildehaus zu. Lorkin folgte ihm. Beim Anblick des Herrenzimmers und der sanft gekrümmten Wände bemächtigten sich seiner machtvolle, sentimentale Empfindungen.
Ich habe es geschafft. Ich bin endlich wieder dort, wo alles begonnen hat.
Der Mann, der ihn durchs Haus geführt hatte, blieb stehen, um mit einer Sklavin zu flüstern. Sie nickte und eilte davon. Eine weniger angenehme Erinnerung setzte ihm zu, als der Türsklave ihn in seine alten Räume führte: die Erinnerung an eine tote Frau, die nackt auf seinem Bett lag. Dieser Raum war dunkel. Der Sklave führte ihn zu einem anderen Schlafzimmer in dieser Gruppe von Räumen, dann warf er sich zu Boden. Lorkin schickte ihn weg.
Er schuf eine Lichtkugel, schaute sich um und nickte. Es war sehr rücksichtsvoll von dem Sklaven gewesen, einen anderen Raum auszuwählen.