Lilia ergriff ihre Tasche und folgte ihnen langsam, wobei sie ihnen einen gewissen Vorsprung ließ. Als sie aus dem Novizenquartier trat, entdeckte sie Naki sofort, und augenblicklich hellte sich ihre Stimmung auf. Die späte Sonne zeichnete goldene Strähnen in das Haar ihrer Freundin und ließ ihre blasse Haut leuchten. Auch andere Novizen umschmeichelten die Sonnenstrahlen. Aber keinem steht es so gut wie Naki. Die Hälfte der Jungen hier draußen starrt sie an. Ich kann nicht glauben, dass jemand, der so schön und so beliebt ist, meine Freundin sein will.
Naki entdeckte sie und lächelte. Lilia wurde warm ums Herz, aber gleichzeitig flatterte ihr Magen unbehaglich, wie er das getan hatte, seit Naki sie zu sich nach Hause eingeladen hatte. Ich sollte besser nichts tun, was sie verärgern könnte, denn ich habe weder das gute Aussehen noch den Charme, die sie hat, um sicherzustellen, dass ich immer Leute haben werde, die darauf warten, mein Freund zu sein.
»Vaters Kutsche wartet auf uns«, sagte Naki, als sie einander gegenüberstanden.
»Oh! Entschuldige. Ich bin wohl zu spät dran.«
»Nein, eigentlich nicht.« Naki zuckte die Achseln und wandte sich dem Pfad zu, der durch die Gärten führte. »Er schickt die Kutsche oft ziemlich früh. Es ist ärgerlich, da nur eine begrenzte Anzahl an Kutschen vor der Universität Platz hat und es immer zu Staus kommt. Was willst du heute Abend machen? Ich finde, wir sollten dir das Haar aufstecken.«
Lilia versuchte, nicht zusammenzuzucken. Ihre Mutter hatte kunstvolle Dinge mit ihrem Haar gemacht, als sie noch klein gewesen war, und sie hatte das Zupfen und Zwicken gehasst, genau wie den Juckreiz, den die Spangen verursachten. Naki blickte Lilia an und runzelte die Stirn.
»Was ist los?«
»Nichts.« Lilia sah Ungläubigkeit in den Zügen des anderen Mädchens. »Meine Mutter hat es zu besonderen Anlässen gemacht. Es haben immer Haare geziept oder Nadeln gepiekst.«
»Keine Sorge. Ich verspreche dir, dass nicht ein einziges Haar ziepen wird. Es wird Spaß machen.«
»Ich werde dich beim Wort nehmen.«
Naki lachte – ein kehliges, tiefes Lachen, bei dem sich etliche Köpfe drehten. Sie plauderten weiter miteinander, während sie durch die Gärten gingen. Als sie die Auffahrt erreichten, waren schon zahlreiche Kutschen vorgefahren. Naki griff nach Lilias Arm und führte sie zielstrebig zum Wagen ihrer Familie. Der Kutscher sprang vom Bock, um ihnen den Schlag zu öffnen.
Der Stau der Kutschen draußen hielt sie eine Weile auf, aber Lilia bemerkte es kaum. Sie war zu beschäftigt damit, das Gespräch mit Naki zu genießen. Sie begannen mit dem Austausch erheiternder Geschichten über Begegnungen zwischen Dienern und ihren Herren, dann folgte eine Anekdote über eine Dienerin, mit der Naki aufgewachsen war. Als Naki mit ihrer Geschichte fertig war, hielt sie inne und sah Lilia nachdenklich an.
»Weißt du, du erinnerst mich stark an sie. Ich wünschte, ihr hättet einander kennenlernen können.«
»Sie arbeitet nicht mehr für euch?«
»Nein.« Nakis Miene verdüsterte sich. »Vater hat sie weggeschickt.«
Er scheint in all ihren Geschichten der Böse zu sein, ging es Lilia durch den Kopf.
»Du magst ihn nicht, oder?«, fragte sie vorsichtig, nicht sicher, wie Naki auf eine persönliche und vielleicht heikle Frage reagieren würde.
Mit Nakis Gesicht ging eine dramatische Veränderung vor. Ihr Blick verfinsterte sich, und ihre Züge zeigten Anspannung. »Nicht sehr. Und er hasst mich.« Sie seufzte und schüttelte sich, als versuche sie, etwas Unangenehmes loszuwerden. »Es tut mir leid. Ich wollte nichts sagen, damit du dich nicht davor fürchtest, ihn kennenzulernen.«
»Mir macht man so leicht keine Angst«, versicherte Lilia ihr.
»Er wird absolut höflich zu dir sein. Schließlich bist du ein Mitglied der Gilde. Er muss dich wie jemanden behandeln, der ihm ebenbürtig ist. Nun, jedenfalls wie eine Novizin. Er könnte jedoch den Lehrer herauskehren.«
»Damit werde ich fertig.«
»Und wir brauchen ihm fürs Erste nicht zu erzählen, dass du aus einer Dienstbotenfamilie stammst«, sagte Naki ängstlich. »Er ist ein wenig … nun ja, eben so.«
»Das ist in Ordnung. Was zählt, ist, dass du nicht so bist. Ich weiß das zu schätzen.«
Naki lächelte. »Und was ich an dir mag, ist die Tatsache, dass du uns nicht hasst wie die anderen … du weißt schon …«
Lilia zuckte die Achseln. »Meine Familie arbeitet für eine nette, anständige Familie. Es ist schwer, Menschen zuzustimmen, die sagen …«
»Sieh mal! Wir sind da.«
Naki deutete eifrig auf das Fenster der Kutsche. Lilia spähte hinaus und schaute in die Richtung, in die ihre Freundin deutete. Sie hielten vor einem riesigen Gebäude. Sie hatte gewusst, dass Naki aus einem reichen, mächtigen Haus stammte, aber bis zu diesem Moment hatte sie es nicht wirklich verinnerlicht. Sie versuchte, ihre Nervosität und Aufregung zu unterdrücken.
»Keine Sorge«, sagte Naki, die Lilias Stimmung irgendwie auffing. »Entspann dich, und überlass alles mir.«
An die nächste Stunde konnte sie sich später nur noch vage erinnern. Naki führte sie ins Haus. Zuerst stellte sie Lilia ihrem Vater vor, Lord Leiden, der sie auf eine reservierte und geistesabwesende Art willkommen hieß. Dann gingen sie in eins der oberen Stockwerke in die geräumige Flucht von Zimmern, die Naki bewohnte. Abgesehen von ihrem eigentlichen Zimmer gab es dort einen Raum voller Kleider und Schuhe und ein eigenes Bad. Naki erfüllte ihr Versprechen, Lilia das Haar aufzustecken; sie kämmte zuerst eine spezielle Creme hinein, dann benutzte sie glatte Silbernadeln, die sie irgendwie so arrangierte, dass sie nicht an Lilias Haaren zerrten oder an ihrer Kopfhaut kratzten. Anschließend gingen sie zum Abendessen wieder nach unten.
Nakis Vater saß allein am Tisch. Als Lilia auf all die verschiedenen Arten von Besteck hinabblickte, die um jeden der Essplätze aufgelegt waren, stieg für einen Moment Panik in ihr auf. Dann kam ein Bote, und Lord Leiden erhob sich. Er entschuldigte sich dafür, dass sie allein essen mussten, und verließ den Raum.
Als die Tür des Speisezimmers sich hinter ihm schloss, grinste Naki Lilia an. Ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf, schlich leise zur Tür, öffnete sie vorsichtig und lauschte. Ein fernes Geräusch drang an Lilias Ohren.
»Er ist weg«, erklärte Naki. »Schnapp dir dein Glas.« Sie griff nach ihrem eigenen Glas, das gerade mit Wein gefüllt worden war, dann ging sie zu der Tür, durch die die Diener hereingekommen waren. An der Tür angelangt öffnete Naki, und eine Dienerin, die ein Tablett mit kleinen Schalen in Händen hielt, blieb auf der Türschwelle stehen.
»Wir kommen runter«, sagte Naki. Die Frau lächelte und nickte, dann drehte sie sich um und verschwand auf dem Weg, auf dem sie gekommen war.
Es war Lilia mittlerweile gelungen, ihr Glas zu ergreifen und sich von ihrem Platz gleiten zu lassen. Naki winkte sie heran, dann folgten sie der Dienerin. Sie kamen durch einen kurzen Flur mit einer Bank und Schränken an einer Wand, in denen Geschirr, Besteck und Gläser aufbewahrt wurden. Am Ende des Flurs gingen sie eine Treppe hinunter.
»Ich esse unten, wann immer Vater nicht hier ist«, erklärte Naki. »Dann brauchen sie das Essen nicht auf dem feinen Geschirr zu servieren, und ich habe Freunde, mit denen ich plaudern kann.«
Die Treppe war so lang, dachte Lilia, dass sie sich hier unten vermutlich zwei Stockwerke unter dem Esszimmer befanden. Sie kamen in eine Küche nicht unähnlich der in dem Haus ihrer Kindheit. Drei Frauen und ein Junge waren an der Arbeit; sie hatten die Ärmel hochgekrempelt und trugen auf dem Kopf Kappen mit Riemen, die sie hinter den Ohren zubinden konnten. Als Kind hatte Lilia selbst solche Kappen getragen.
Naki begrüßte sie mit einer Zuneigung, die sie nicht zu überraschen schien. Nachdem sie Lilia die Diener vorgestellt hatte, ging sie zu einem abgenutzten alten Tische und setzte sich auf einen der Hocker, die dort standen. Lilia nahm auf dem neben ihr Platz. Sie lauschte auf das Geplänkel zwischen Naki und ihren Dienern und fühlte sich zum ersten Mal seit drei Jahren heimisch.