»Werden wir den Ausflug, den du vorgeschlagen hast, noch machen?«, erkundigte sich Lorkin so beiläufig wie möglich.
Evar nickte. »Wenn du es dir nicht anders überlegt hast.« Er beugte sich etwas dichter zu Lorkin hinüber. »Einige der Steinemacherinnen arbeiten länger«, murmelte der junge Magier. »Wir müssen ihnen Zeit lassen, ihre Arbeit fertigzustellen und heimzugehen.«
Lorkin spürte leichten Aufruhr in seinen Eingeweiden. »Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«, fragte er, während sie mit ihren Tellern zu einem der langen Esstische hinübergingen und sich dort – etwas abseits von den anderen, die bereits aßen – einen Platz suchten.
Evar schlürfte etwas Suppe, schluckte und bedachte Lorkin dann mit einem beruhigenden Lächeln. »Nichts, was ich dir zeige, ist geheim. Jeder, der es sich ansehen will, kann das ohne Weiteres tun, solange er sich still verhält und niemandem in die Quere kommt. Was dir ebenfalls gelingen sollte.«
»Aber ich bin nicht irgendjemand.«
»Du bist angeblich einer von uns. Der einzige Unterschied ist, dass man dir gesagt hat, dass du nicht fortgehen darfst. Ich bezweifle, dass ich, wenn ich fortzugehen versuchte, ohne Erlaubnis weit käme und dass man mir eine solche Erlaubnis geben würde. Sie sehen es nicht gern, wenn sich viele von uns außerhalb der Stadt aufhalten. Jeder Spion stellt ein Risiko dar, selbst mit den Steinen, die vor dem Gedankenlesen schützen. Denn was nützt dir ein Stein in der Hand, wenn dir die Hand abgeschlagen wird?«
Lorkin verzog das Gesicht. »Trotzdem bezweifle ich, dass irgendjemand darüber glücklich sein wird, dass ich dort bin«, bemerkte er und wandte sich wieder dem eigentlichen Thema zu. »Oder darüber, dass du mich hinbringst.«
Evar schluckte den letzten Bissen seiner Mahlzeit herunter. »Wahrscheinlich nicht. Aber meine Tante Kalia liebt mich.« Lorkin hatte Kalia zwar nie mit Evar plaudern sehen, aber sie schien ihren Neffen tatsächlich zu schätzen. »Willst du das noch essen?«
Lorkin schüttelte den Kopf und schob die Reste seines Mahls beiseite. Er war zu nervös, um viel zu essen. Evar betrachtete stirnrunzelnd den halbvollen Teller, sagte jedoch nichts und aß den Rest einfach selbst. Da die landwirtschaftlichen Flächen im Tal knapp waren, sahen die Verräterinnen Verschwendung nicht gern. Und Evar war ständig hungrig. Die beiden erhoben sich, säuberten das Geschirr, das sie benutzt hatten, räumten es weg und verließen dann den Männerraum. Lorkin spürte, wie ihm seine Nervosität den Magen zusammenschnürte, aber gleichzeitig war er ungeduldig und voller Erwartung.
»Wir werden durch einen der hinteren Gänge gehen«, murmelte Evar. »Dort ist die Gefahr geringer, dass man dich bemerken wird, wenn du hineingehst.«
Während sie unterwegs waren, überlegte Lorkin sich noch einmal, was er eigentlich durch seinen Besuch der Höhlen herauszufinden hoffte. Die Gilde hielt schon jahrhundertelang daran fest, dass es keine wahren magischen Gegenstände gab, nur gewöhnliche Dinge, denen durch Magie strukturelle Integrität oder verbesserte Eigenschaften verliehen wurden – wie zum Beispiel durch Magie verstärkte Gebäude oder die Mauern, die in der Universität leuchteten –, weil sie aus Materialien bestanden, in denen Magie langsamer wirkte als gewöhnlich, so dass ihr Effekt noch erhalten blieb, lange nachdem ein Magier seine Arbeit daran beendet hatte. Selbst den gläsernen Blutsteinen, die die Gedankenrede zwischen dem Träger und dem Schöpfer des Rings kanalisierten, und zwar auf eine Art und Weise, die verhinderte, dass andere Magier sie hören konnten, gestand man keine eigene Magie zu.
Er vermutete nun, dass einige der Edelsteine im Sanktuarium tatsächlich Magie enthielten. Die meisten davon waren allerdings eher wie Blutsteine – es wurde Magie hineingegeben, die dann von dem Stein zu einem bestimmten Zweck umgeformt wurde. Alle Verräterinnen, die sich aus ihrem geheimen Zuhause herauswagten, trugen einen winzigen Stein unter der Haut, der es ihnen nicht nur gestattete, ihren Geist zu schützen, falls ein sachakanischer Magier ihre Gedanken las, sondern es ihnen auch ermöglichte, einen Gedankenleser stattdessen unschuldige, sichere Gedanken sehen zu lassen. Die Flure und Räume innerhalb der Stadt wurden mit Edelsteinen beleuchtet, die Licht spendeten. Die Krankenstation, auf der Lorkin sich um die Patienten kümmerte, barg mehrere Steine mit nützlichen Eigenschaften, angefangen von der Schaffung eines warmen Leuchtens oder einer sanften Vibration, um verkrampfte Muskeln zu lockern, bis hin zu Steinen, die Wunden ausbrennen konnten.
Falls die historischen Unterlagen, auf die Lorkin und Dannyl gestoßen waren, korrekt waren, dann war es auch möglich, in einem Edelstein unermessliche Mengen von Magie zu lagern. Vor vielen hundert Jahren hatte es einen Lagerstein in der sachakanischen Hauptstadt Arvice gegeben. Chari, die Frau, die ihm und Tyvara geholfen hatte, sicher bis zum Sanktuarium zu gelangen, behauptete, die Verräterinnen wüssten von Lagersteinen, hätten jedoch keine Ahnung, wie man sie herstellte. Vielleicht hatte sie die Wahrheit gesagt, vielleicht aber auch gelogen – möglicherweise, um ihre eigenen Leute zu schützen.
Falls es Kenntnisse über die Fertigung solcher Lagersteine gab, könnte es die Gilde der Notwendigkeit entheben, einigen Magiern zu gestatten, schwarze Magie zu erlernen für den Fall, dass es erneut zu einer Invasion sachakanischer Magier kam. Stattdessen könnte Magie in den Steinen gelagert werden, um sie für die Verteidigung des Landes zu benutzen.
Das war der Grund, warum er es riskierte, die Höhlen der Steinemacher zu besuchen. Er war nicht darauf aus zu lernen, wie die Steine hergestellt wurden, er wollte sich nur versichern, dass sie das Potenzial besaßen, das er sich von ihnen erhoffte. Denn dann könnte er vielleicht ein Tauschgeschäft zwischen der Gilde und den Verräterinnen aushandeln: die Kunst des Steinemachens gegen die Kunst der Heilung mittels Magie. Es wäre ein Tausch, von dem beide Seiten profitierten.
Er wusste, dass es harter Arbeit bedürfen würde, die Verräterinnen dazu zu bewegen, einen solchen Tausch überhaupt in Erwägung zu ziehen. Nachdem sie sich schon jahrhundertelang vor den Ashaki versteckten, waren sie sehr rigoros, was den Schutz ihres geheimen Zuhauses und ihrer Lebensweise anging. Sie gestatteten ihren Leuten keinerlei Gebrauch der Gedankenrede, um jede Möglichkeit auszuschließen, auf ihre Stadt und deren Lage aufmerksam zu machen. Mit wenigen Ausnahmen waren die einzigen Verräterinnen, die das Tal verlassen und wieder zurückkehren durften, die Spioninnen.
Aber während er Evar tiefer in das unterirdische Netzwerk von Gängen folgte, fragte sich Lorkin, ob es nicht zu früh für ihn war, die Höhlen aufzusuchen. Er wollte den Verräterinnen keinen Grund geben, ihm zu misstrauen.
Aber als einem Fremdländer würden sie ihm vielleicht ohnehin nie voll und ganz trauen. Und es reichte ihm auch so viel Vertrauen, dass er sie dazu bringen konnte, mit der Gilde und den Verbündeten Ländern Handel zu treiben. Und über kurz oder lang wird ihnen auffallen, dass sie versäumt haben, mir offiziell einen Besuch in den Höhlen zu verbieten, und sie werden das schleunigst nachholen. Ich muss also jetzt die Gelegenheit nutzen.
Evar hatte ihn noch auf einen weiteren Aspekt ihres Plans hingewiesen. »Die Verräterinnen treffen ihre Entscheidungen selbst – oder besser: Sie schätzen es nicht, wenn andere eine Entscheidung für sie treffen. Wenn du willst, dass sie etwas tun, musst du sie glauben machen, dass es sich um ihre eigene Idee handelt. Wenn uns jemand bei der Besichtigung der Höhlen entdeckt, dann hast du sie immerhin mit dem Kopf darauf gestoßen, dass sie etwas haben, das der Gilde wohl die Weitergabe der magischen Heilkunst wert sein könnte.«
»Da wären wir«, sagte Evar und drehte sich zu Lorkin um.
Der Flur war hier so schmal, dass sie nicht mehr nebeneinander gehen konnten. Evar war vor einem Durchgang stehen geblieben. Über Evars Schulter sah Lorkin, dass er in einen hell erleuchteten Raum führte.