»Sie muss müde sein«, murmelte die alte Frau, »wenn sie gedacht hat, irgendjemand würde ihr diese kleine Scharade abkaufen.«
»Nicht jeder ist so klug und wachsam, wie du es bist«, erwiderte Lorkin.
Die Augen der alten Frau leuchteten auf, als sie lächelte. »Nein. Wenn sie es wären, hätte man Kalia nicht gewählt.«
Lorkin konzentrierte sich darauf, den Puls und die Temperatur der alten Frau zu überprüfen, hörte ihre Lunge ab und untersuchte ihren Hals. Außerdem lauschte er verstohlen mit seinen magischen Sinnen, um seine Einschätzung zu bestätigen. Die darin bestand, dass die alte Frau – abgesehen von den Symptomen des Kältefiebers – überraschend gesund war. Er gab ihr Heilmittel und Anweisungen dazu, bevor er der alten Frau leise dankte.
Nicht lange nachdem er zum nächsten Patienten weitergegangen war, hörte er ein Raunen im Saal und sah sich um. Aller Augen waren auf den Eingang gerichtet, wo eine Bahre – gefolgt von einer Magierin – in den Raum schwebte. Die Frau versuchte erfolglos, sich ein Lächeln zu verkneifen. Als Lorkin die Bahre betrachtete, setzte sein Herz einen Schlag aus.
Evar!
Er hatte seinen Freund seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Im Männerraum ging das Gerücht, dass Evar eine Geliebte gefunden habe. Man hatte darauf gewettet, ob Evar irgendwann in den Männerraum zurückstolziert kommen würde, um seine Sachen zu holen, oder ob er mit einem gebrochenen Herzen hereinhumpeln würde. Keiner von ihnen hatte darauf gewettet, dass er bewusstlos auf einer Bahre zurückkehren würde.
Kalia hatte ihren Neffen bemerkt und eilte hinüber, um ihn zu untersuchen. Sie schlug achtlos die Decke zurück und entblößte den Blicken aller auf der Station einen vollkommen nackten Evar. Unterdrücktes Gekicher und Aufkeuchen kam aus allen Ecken. Ein Stich des Ärgers durchzuckte Lorkin, als Kalia sich nicht die Mühe machte, den jungen Mann wieder zuzudecken.
»Es ist nichts gebrochen«, erklärte die lächelnde Magierin.
»Lass mich das beurteilen«, erwiderte Kalia. Sie drückte und pikste, dann legte sie Evar eine Hand auf die Stirn. »Übermäßig entleert«, stellte sie fest. Sie schaute zu der Magierin auf. »Du?«
Die Frau verdrehte die Augen. »Wohl kaum. Es war Leota.«
»Sie sollte vorsichtiger sein.« Kalia rümpfte geringschätzig die Nase, dann blickte sie sich im Raum um. »Er ist nicht krank und sollte kein Bett mit Beschlag belegen. Legt ihn dort drüben hin, auf den Boden. Er wird sich zu gegebener Zeit schon erholen.«
Die Magierin und die Bahre bewegten sich in den hinteren Teil des Raums, wo Evar zu Lorkins Erleichterung hinter den Bettenreihen verborgen sein würde. Die Frau grinste, als sie hinausstolzierte, und hatte sich nicht die Mühe gemacht, Evar wieder zuzudecken. Kalia ignorierte den neuen Patienten und runzelte die Stirn, als Lorkin auf seinen Freund zugehen wollte.
»Lass ihn in Ruhe«, befahl sie.
Lorkin wartete ab. Irgendwann verschwand Kalia im Lagerraum, um weitere Heilmittel zu holen. Er schlüpfte zu Evar hinüber und war überrascht festzustellen, dass der junge Mann die Augen geöffnet hatte. Er lächelte Lorkin kläglich an.
»Mir geht es gut«, sagte er. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Lorkin deckte seinen Freund zu. »Was ist passiert?«
»Leota.«
»Sie hat schwarze Magie bei dir benutzt?«
»Sie hat mich in ihr Bett geholt.«
»Und?«
»Das ist das Gleiche. Nur dass es mehr Spaß macht.« Evars Stimme klang, als zucke er die Achseln. Sein Blick ging ins Leere. »Es hat sich gelohnt.«
»Dass dir all deine Energie entzogen wurde?« Lorkin konnte nicht verhindern, dass seine Ungläubigkeit und sein Ärger sich in seiner Stimme verrieten.
Evar sah ihn an. »Wie sonst soll ich in das Bett einer Frau kommen, hm? Sieh mich an. Ich bin dürr und ein Magier. Kaum gutes Zuchtmaterial, und niemand vertraut männlichen Magiern.«
Lorkin seufzte und schüttelte den Kopf. »Du bist nicht dürr – und wo ich herkomme, würde der Umstand, dass du ein Magier bist, und dazu noch ein natürlicher, dich zu sehr begehrenswertem Zuchtmaterial machen.«
»Und doch bist du fortgegangen«, bemerkte Evar. »Und du hast dich dafür entschieden, für den Rest deines Lebens hierzubleiben.«
»In Augenblicken wie diesen frage ich mich, ob man mir eine Lüge verkauft hat. Eine auf Gleichberechtigung beruhende Gesellschaft, wahrhaftig. Wird man diese Leota bestrafen?«
Evar schüttelte den Kopf. Dann leuchteten seine Augen auf. »Ich habe mich bewegt. Das habe ich seit Stunden nicht mehr getan.«
Mit einem neuerlichen Seufzer erhob sich Lorkin. »Ich muss wieder an die Arbeit.«
»Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Ein wenig Schlaf, und es wird mir wieder gutgehen.« Als Lorkin sich entfernte, rief er ihm nach: »Ich finde immer noch, dass es die Sache wert war. Wenn du mir nicht glaubst, geh und sieh sie dir an. Ohne Kleider.«
Der Zwischenfall mit den Heilmitteln war ärgerlich gewesen, aber daran war Lorkin gewöhnt. Was man Evar angetan hatte, erfüllte ihn mit einem siedenden Zorn. Seit Tyvara ihn aufgefordert hatte, etwaige Einladungen in das Bett einer Magierin abzulehnen, hatte er mehr Anträge als gewöhnlich erhalten. Zumindest hatte er jetzt eine bessere Vorstellung davon, welche Magierinnen zu Kalias Gruppe gehörten.
Für wie dumm halten sie mich eigentlich? Auf diese Weise hat Riva versucht, mich zu töten. Plötzlich hatte er Gewissensbisse. Ich hätte Evar warnen sollen. Aber ich habe nicht gedacht, dass sie Kalias Neffen Schaden zufügen würden. Nun, sie hatten ihm keinen Schaden zugefügt: Sie – Leota – hatte Evar bis an den Punkt der Hilflosigkeit geleert und ihn dann gedemütigt, indem sie seinen Fehler öffentlich machte.
Trotzdem, Evar hätte es besser wissen müssen. Er hatte gewusst, dass sie eine Möglichkeit finden würden, ihn dafür zu bestrafen, dass er Lorkin in die Höhlen der Steinemacher geführt hatte. Gewiss war offensichtlich gewesen, was Leota vorhatte, als sie ihn in ihr Bett einlud?
Lorkin schüttelte den Kopf. Vielleicht war Evar einfach zu vertrauensvoll, was seine eigenen Leute anging. Es stieß Lorkin ab, dass dies die Art war, wie sie sein Vertrauen vergolten hatten, und für den Rest des Tages war er hin- und hergerissen zwischen den Fragen, ob es klug von ihm gewesen war, ins Sanktuarium zu kommen, und ob die Verräterinnen jemals dazu gebracht werden konnten, einzusehen, wie ungleich ihre Gesellschaft wirklich war.
Der Winter zog seinen Griff um Imardin langsam fester. Stehendes Wasser gefror über Nacht. Das Knirschen von Eis unter ihren Füßen war seltsam befriedigend und brachte Kindheitserinnerungen zurück. Man musste den tieferen Pfützen ausweichen, dachte Sonea, da sie gewöhnlich nur mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren, und wenn einem das Wasser darunter in die Schuhe lief, taten einem den ganzen Tag von der Kälte die Füße weh.
Wasser in die Schuhe zu bekommen war seit vielen Jahren kein Problem mehr gewesen. Die für Magier gefertigten Stiefel waren die besten in der Stadt. Sobald sie auch nur die geringsten Spuren von Abnutzung zeigten, schafften Diener Ersatz herbei. Was ärgerlich ist, wenn man sie gerade erst eingelaufen hat. Bedauerlicherweise waren die Schuhe, die sie jetzt trug, weder wasserdicht, noch passten sie ihr richtig. Irgendjemand hatte sie aussortiert – sie waren Teil der Maskerade, die sie trug, wenn sie sich in die Stadt hinauswagte, um sich mit Cery zu treffen.
Der Korb mit Wäsche in ihren Armen war voller und schwerer als gewöhnlich. Sie hatte bereits einmal stehen bleiben und Laken auflesen müssen, als sie vom Stapel im Korb auf den Boden gefallen waren. Natürlich konnte sie keine Magie benutzen, um sie festzuhalten oder aufzufangen. Das hätte verraten, dass sie mehr war als eine Dienstmagd.