Sie verlangsamte ihre Schritte und duckte sich in eine Gasse. Es war eine Abkürzung, die die Einheimischen häufig benutzten. Heute war die Gasse menschenleer bis auf eine weitere Frau, die mit einem kleinen Kind in den Armen auf sie zugeeilt kam. Als Sonea sich ihr näherte, schaute die Frau zu ihr auf. Sonea widerstand dem Drang, sich die Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen. Der Blick der Frau flackerte zu etwas hinter Sonea hinüber, und sie runzelte die Stirn, dann schaute sie hastig wieder zu Sonea, als sie vorbeiging.
War dieser Blick eine Warnung?
Sonea widerstand der Versuchung, sich umzudrehen, lauschte aber aufmerksam. Und tatsächlich, sie fing das leise Kratzen und Tappen von Schritten mehrere Meter hinter sich auf.
Werde ich verfolgt? Die Gasse wurde häufig benutzt, so dass es nicht allzu merkwürdig war, wenn jemand hinter ihr herging. Etwas anderes musste die Frau erschreckt haben. Vielleicht war sie von Natur aus misstrauisch, vielleicht nicht. Sonea konnte es sich nicht leisten, die Möglichkeit zu ignorieren, dass die Frau Grund zu ihrem Misstrauen gehabt hatte. Sie beschleunigte ihr Tempo.
Als sie das Ende der Gasse erreichte, ging sie nicht in die Richtung, in die sie hatte gehen wollen, sondern schlug die entgegengesetzte Richtung ein, überquerte die Straße und trat in eine weitere Gasse. Diese war breiter und voller Arbeiter aus den Werkstätten zu beiden Seiten. Vor den Mauern lag Holz für Brennöfen aufgestapelt. Fässer mit Öl und giftigen Flüssigkeiten, riesige, fest verschnürte Bündel von Lumpen und Holzkisten warteten darauf, hineingetragen zu werden. Die Menschen und die Hindernisse zwangen sie, einen gewundenen Weg zu nehmen und immer wieder auszuweichen, bis sie einen Turm von Kisten erreichte. Die Kisten waren mit irgendeiner Art von verwelkten Pflanzen gefüllt, die nach Meer rochen.
Sie schlüpfte dahinter und stellte den Korb ab. Einige Arbeiter weiter unten in der Gasse beäugten sie, aber als sie begann, sich den Rücken zu massieren, wandten sie höflich den Blick ab. Sie schaute wieder die Gasse entlang. Und tatsächlich, ein relativ kleiner, dünner Mann mit bösartigem Gesichtsausdruck kam auf sie zu. Die Arbeiter hielten inne, als sie ihn bemerkten, und machten einen großen Bogen um ihn. Genau wie sie selbst erkannten die Arbeiter den Gefolgsmann eines Diebes, wenn sie einen sahen.
Sonea musterte die Hindernisse zwischen sich selbst und ihrem Verfolger, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Sie sandte ein wenig Magie aus und hielt sie in der Schwebe. Dann drehte sie sich um und setzte ihren Weg durch die Gasse fort, wobei sie ihren eiligen Schritt beibehielt.
Sie zählte im Geist mit und versetzte, als es so weit war, den Kisten, an denen sie kurz zuvor vorbeigegangen war, einen magischen Stoß. Hinter sich hörte sie ein Krachen, dann Gebrüll und Flüche. Mit geheuchelter Überraschung blieb sie stehen, um sich umzudrehen. Der Weg ihres Verfolgers wurde jetzt von einem Holzhaufen blockiert, der anscheinend unter seinem eigenen Gewicht eingestürzt war. Sie wandte sich wieder um und eilte weiter.
Einige Straßen und eine weitere Gasse später und nachdem sie mehrmals stehen geblieben war, um sich umzuschauen, kam sie zu dem Schluss, dass sie nicht länger verfolgt wurde, und ging auf direktem Weg zu der Wäscherei, dem Süßigkeitenladen und dem Raum dahinter. Cery und Gol wirkten erleichtert, als sie eintrat.
»Entschuldigt die Verspätung«, sagte sie, während sie sich hinsetzte. »Ich musste mit einer Klette fertig werden.«
Cery zog die Augenbrauen hoch, dann lächelte er dünn. »Mit einer Klette? Niemand redet heute noch so.«
Gol gab einen erstickten Laut von sich. Sie schaute zwischen den Männern hin und her.
»Wie redet niemand mehr? Du meinst, in der Gossensprache?«
»Ja«, erwiderte Cery und erhob sich. »Zumindest sagt meine Tochter das.«
»Wo ist sie eigentlich?«
Er verzog das Gesicht. »Unterwegs, um für mich zu spionieren.«
Soneas Herz machte einen Satz. »Du hast ihr erlaubt …?«
»Bei Anyi geht es nicht wirklich darum, ihr etwas zu erlauben.« Er seufzte. »Sie hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir seit Monaten keine anderen Ideen hatten.« Er ging rechts von ihr einige Schritte auf und ab. »Sie hat die Absicht, ihren Arbeitgeber – wer immer das sein mag – davon zu überzeugen, dass sie sich wahrhaft gegen mich gestellt hat, indem sie meinen Aufenthaltsort verrät.« Er hielt inne und wanderte auf die linke Seite des Raums. »Natürlich werden Gol und ich mit knapper Not entkommen.« Er drehte sich zu ihr um. »Das ist der Punkt, an dem du ins Spiel kommen wirst.«
»Ach ja?«
»Ja.« Er schüttelte den Kopf und machte sich nicht die Mühe, seine Sorge und seine Zweifel zu verbergen. »Du wirst der Faktor sein, den sie nicht einplanen konnte.«
»Ich verstehe.«
Cery begann erneut umherzuwandern. »Ich hatte gehofft, dich und Regin für diese Aufgabe gewinnen zu können, so dass, wenn einer es nicht schafft, der andere einspringen könnte …«
»Warte einige Tage ab, dann werde ich einen Ersatz für Regin haben.«
»Wirklich?« Cery blieb stehen. »Wer ist es?«
»Dorrien. Rothens Sohn.«
»Ich dachte, er lebt auf dem Land.«
»Das hat er auch getan, bis er sich in den Kopf setzte, in die Stadt zu ziehen, damit seine Tochter sich hier einleben kann, bevor sie ihr Studium an der Universität beginnt.«
Cery lachte leise. »Ich wette, Rothen weiß nicht, ob er sich freuen oder entsetzt sein soll.«
Sie lächelte und nickte. »Ich wünschte, wir müssten ihn da nicht mit hineinziehen. Ich wünschte, du müsstest Anyi nicht darin verwickeln.«
»Es ist die Lebensaufgabe unserer Kinder, uns Sorgen zu bereiten«, erwiderte Cery trocken. Dann blickte er auf. »Hast du etwas von Lorkin gehört?«
Ein Stich des Schmerzes durchzuckte sie, aber es war mehr ein dumpfer Schmerz als das scharfe Entsetzen, das sie direkt nach seinem Verschwinden erfüllt hatte. »Nein. Ich schätze, ich sollte dankbar dafür sein, dass er nicht in diese Sache hineingezogen wird.«
Er nickte. »Vielleicht sollte ich Anyi nach Sachaka schicken.« Plötzlich wurde seine Miene distanziert und nachdenklich. Er schüttelte den Kopf und sah Sonea an. »Gibt es sonst noch etwas?«
»Nein. Und bei dir?«
»Nichts. Ich werde eine Nachricht an das Hospital schicken, wenn ich weiß, was Anyi vorhat. Könntest du für eine Weile hierbleiben, nur für den Fall, dass du verfolgt worden bist?«
»Sicher. Ich bin die Klette losgeworden.«
»Natürlich bist du das«, sagte er beschwichtigend.
»Du bezweifelst meine Fähigkeit, eine Klette abzuschütteln?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ganz und gar nicht.«
Sie sah ihn mit schmalen Augen an. Er heuchelte Unschuld. Hinter ihm schob Gol ein Paneel in der Wand auf.
»Kommst du?«, fragte er.
Cery lächelte und wandte sich ab. Sonea schaute kopfschüttelnd zu, wie die beiden in die Dunkelheit schlüpften und das Paneel sich wieder schloss. Dann setzte sie sich hin und wartete, bis Cery und Gol eine gewisse Entfernung zwischen sich selbst und den Laden gebracht hatten, bevor sie sich auf den Rückweg zum Hospital machte.
Mit vollem Magen und einem angenehmen Brennen im Mund von den Gewürzen, die er zu sich genommen hatte, nippte Dannyl zufrieden an seinem Wein. Es tat gut, einmal vom Gildehaus wegzukommen. Heutzutage war das einzige sachakanische Haus, das Dannyl von innen zu sehen bekam, das von Achati. Es entsprach dem typischen Muster, aber die Wände waren im Innern in einer sanfteren Farbe gestrichen als dem traditionellen, grellen Weiß. Die Teppiche und Zierstücke waren schlicht und elegant, und er bevorzugte das weiche Licht von Lampen mit magischen Kugellichtern.
Dannyl hatte Varn, Achatis Quellsklaven und Liebhaber, seit ihrer gemeinsamen Suche nach Lorkin nicht mehr gesehen. Achati hatte seither auch nicht mehr davon gesprochen, dass sein Interesse an Dannyl über bloße Freundschaft hinausgehe – zumindest nicht direkt. Dannyl war sich nicht sicher, ob der Ashaki die Hoffnung auf eine solche Liaison aufgegeben hatte und jetzt damit zufrieden war, ihre Freundschaft zu genießen, oder ob der Mann Dannyl Zeit gab, um über die Idee nachzudenken.