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Er führte sie, Anyi, Cery und Gol in ein halbzerstörtes, leeres Lagerhaus auf einem der weniger häufig benutzten Kais des Hafens. Anyi hatte ihr versichert, dass noch weitere von Cerys Leuten an der Sache beteiligt waren und in diskreter Entfernung folgten. Sie würden Plätze finden, von denen aus sie das Geschehen verfolgen konnten, Plätze, von denen sie schnell zu Hilfe eilen konnten, falls Cery mit einem Signal darum bat.

»Wo sollen wir uns postieren?«, fragte Anyi. Sie blickte auf. »Ein Jammer, dass wir nicht dort oben hinauf können.«

Lilia folgte dem Blick der jungen Frau. Das Grundgerüst des Lagerhauses – Außenmauer, Balken und Pfosten – war gut erkennbar, da die Zwischendecken und Wände, wo es welche gegeben hatte, inzwischen weitgehend fehlten. Und die starken Balken wirkten mehr als stabil genug, um das Gebäude noch für eine lange Zeit aufrechtzuerhalten. Am Ende des Baus hatte sich früher einmal ein Zwischengeschoss mit einer Reihe von Fenstern befunden, aber die Dielenbretter von dessen Boden waren verfault oder gestohlen worden. Sie konnte erkennen, warum Anyi der Platz an den Fenstern gefiel. Von dort aus würde man den Kai und das Hafenbecken überblicken können.

Der Mond schien durch die Fenster und machte es schwer, im Gegenlicht Einzelheiten der Fensterwand von innen zu erkennen. Als sie die Augen beschattete, sah Lilia, dass einer der großen Balken unterhalb der Fensteröffnungen an der Außenmauer entlanglief.

»Wenn wir hinaufkämen, könnten wir dann auf diesem Balken Halt finden?«, fragte Lilia.

Anyi trat neben sie, blickte noch einmal hinauf und zuckte die Achseln. »Ohne Weiteres.« Sie sah Cery und Gol an. »Was ist mit euch beiden?«

Cery erwiderte ihren Blick und lächelte. »Ich schätze, ich würde zurechtkommen. Gol?«

»Ich denke ja. Aber wie kommen wir dort hinauf?«

»Ganz einfach, mit Lilias Hilfe«, sagte Anyi. Lilia blickte zwischen Anyi und Gol hin und her und verbarg ein Lächeln. Dies war nicht das erste Mal, dass sie eine gewisse Rivalität zwischen den beiden wahrnahm. Sie folgte Anyi zu der Mauer mit den Fenstern im Zwischengeschoss. Die Frau drehte sich um und fasste Lilia an den Armen.

»Mach dein Ding, Lilia.«

Lilia schuf eine Scheibe aus Magie unter ihren Füßen und hob sie beide zu dem Balken empor. Anyi trat grinsend darauf, und Lilia schwebte wieder hinab.

Mit einem kaum merklichen Achselzucken ergriff Cery Lilias Arme. Sie ließ ihn mit sich zu dem Balken hinaufschweben, und als er sicher darauf stand und sich am Rahmen des nächstgelegenen Fensters festhielt, ließ sie sich wieder auf den Boden hinab.

Gol sah sie mit großen Augen an, dann schaute er zu Cery empor. Er trat einen Schritt zurück, die Hände in einer abwehrenden Geste.

»Ich werde nicht …«

»Komm hier rauf, Gol«, befahl Cery angespannt. Lilia blickte auf. Cery spähte durch eins der Fensterlöcher nach draußen.

Sie hörte, dass Gol wieder näher trat, und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf ihn. Er zögerte abermals. Dann hörte sie von draußen Schritte.

»Sofort«, zischte Cery.

Irgendjemand kam.

Lilia trat vor, packte Gol an den Armen und hoffte, dass er nicht vor Entrüstung oder Furcht aufschreien würde. Sie ließ sich mit ihm emporschweben. Er gab, das musste man ihm lassen, nur ein leises Aufjaulen der Überraschung von sich. Sie schwebte bis zu einer Stelle auf dem Balken, wo ein Pfosten ihm Halt geben würde, und er schlang sofort die Arme darum.

Sobald sie selbst auf dem Balken stand, dehnte sie die Scheibe aus, um einen Schild zu formen, der sie alle umschloss, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Schild unsichtbar zu machen.

Die Tür unter ihnen wurde geöffnet. Drei Männer traten ein.

»Still«, sagte einer von ihnen. »Die Angeln sind geölt worden.«

»Für das heutige Treffen oder für ein anderes?«

Niemand antwortete, und die drei schauten sich im Lagerhaus um. Einer sah sogar zu den Fenstern hinauf, schien sie aber nicht zu bemerken. Wahrscheinlich geblendet vom Mondlicht, so wie wir es waren.

Die Männer gingen. Lilia stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte, und schob sich an eines der Fenster. Glas und Fensterkreuz hatten diese schon vor langer Zeit eingebüßt. Sie spähte vorsichtig an der Kante des Fensterlochs vorbei, und was sie draußen sah, ließ ihr Herz aussetzen.

Ein Fischerboot hatte am Kai festgemacht. Die drei Männer, die das Lagerhaus in Augenschein genommen hatten, gingen auf vier weitere Personen zu, die paarweise zusammenstanden. Einer davon war ein schlanker, alter Mann, den sie für Enka hielt, weil ihr Führer in das Lagerhaus, Enkas Leibwächter, sich dicht bei ihm hielt.

Das andere Paar bestand aus einem ziemlich fetten, gut gekleideten Mann und einer schlanken Frau, die im Mondschein noch schöner zu sein schien als bei Tageslicht. Lilia hatte das Gefühl, als beginne ihr das Herz im Leib zu glühen.

Naki! Endlich habe ich sie gefunden!

Weitere Männer hielten sich im Hintergrund. Lilia vermochte nicht zu erkennen, ob sie zu Nakis Dieb oder zu Enka gehörten.

Es spielt keine Rolle, dachte sie. Sie sind keine Magier. Sie können mich nicht aufhalten. Sie stieg mit einem Fuß auf das Fenstersims, dann hielt sie inne.

»Dein Einsatz«, wisperte eine Stimme neben ihr. Sie drehte sich um und sah, dass Anyi sich über den Balken ebenfalls an das Fensterloch geschoben hatte. »Cery sagt, du sollst daran denken, Enka und seinen Helfer zu beschützen.«

Lilia nickte dankbar, dann zog sie Magie in sich hinein und sandte sie aus, um Cerys Verbündete und Naki mit ihrem Schutz zu umgeben. Sie stieg ganz auf das Sims, zog den Kopf ein, um sich unter dem Fenstersturz hindurchzuducken, und trat auf die Scheibe, die sie direkt vor dem Fenster mit ihrer Magie schuf.

Die Menschen draußen bemerkten nicht, dass sie zu Boden schwebte, aber Naki schaute sich um – sie hatte den Schild um sie herum wahrgenommen, als er gegen ihren eigenen gestoßen war. Oh, gut, dachte Lilia. Sie kann sich selbst schützen. Sie ließ den Schild fallen. Irgendetwas an Nakis Schild beunruhigte sie jedoch. Halb verborgen hinter den drei Männern, die das Lagerhaus untersucht hatten, ging sie auf Naki zu.

»Hier ist ein weiterer Magier«, sagte Naki mit warnender Stimme.

Sofort schauten alle Übrigen sich um und entdeckten Lilia. Die drei Männer wichen angstvoll und unsicher zurück, als Lilia zwischen ihnen hindurchschritt.

»Naki«, sagte Lilia lächelnd. Ihre Freundin starrte sie überrascht an. »Es ist so schön, dich wiederzusehen. In was für Schwierigkeiten hast du dich diesmal gebracht?«

»Lilia.« Naki sprach den Namen zu Lilias Erleichterung nicht hasserfüllt oder anklagend aus. Aber es lag auch keine Zuneigung in ihrer Stimme. »Warum bist du hier?«

»Um dir zu helfen.«

Naki sandte einen Lichtblitz durch ihren Schild. »Wie du erkennen kannst, brauche ich deine Hilfe nicht.«

Lilia sah ihre Freundin an und begriff, was sie beunruhigt hatte. Sie hat recht. Sie braucht meine Hilfe nicht. Sie hat Magie. Irgendwie hat sie oder jemand anders ihre Blockade entfernt. Das ist es, was so seltsam an ihrem Schild war – sie sollte nicht in der Lage sein, einen heraufzubeschwören. Und dann traf sie die wahre Bedeutung hinter Nakis Worten mit voller Wucht.

Naki will nicht gerettet werden. Sie ist völlig zufrieden, für einen Dieb zu arbeiten. Tatsächlich ist sie wahrscheinlich mit Absicht verschwunden. Es sei denn …?

Dann ging Lilia ein Risiko ein. Sie benutzte ihre Gedankenstimme, so leise wie möglich und in der Hoffnung, dass niemand in der Gilde es hören würde.

Wirst du erpresst?

Naki lachte. »Nein, du begriffsstutzige Närrin. Genau das habe ich die ganze Zeit geplant: von der Gilde und ihren Regeln wegzukommen, von ihrem erstickenden Urteil, und die Freiheit zu haben, zu tun, was immer ich will.«