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Sonea?

Die Schwarzmagierin eilte an Lilia vorbei, ohne sie zu beachten. Lilia drehte sich um und sah, dass Sonea sich neben Naki auf die Knie geworfen hatte; Naki lag auf dem Kai, und Sonea hielt den Kopf des Mädchens umfangen, der in einem ungewöhnlichen Winkel vom Körper abstand.

Vor ihren Augen bewegte sich der Kopf langsam wieder zurück in eine natürliche Position, und die Farbe kehrte in Nakis Züge zurück. Das Mädchen stöhnte und öffnete die Augen. Als sie zu Sonea aufschaute, stöhnte sie abermals.

»Ja. Ich.« Der erleichterte Ausdruck in Soneas Zügen verschwand, und an seine Stelle trat Grimm. Sie stand auf. »Ihr werdet es mir vermutlich nicht danken, dass ich Euch das Leben gerettet habe.«

Naki richtete sich auf und rieb sich den Hals. »Warum sollte ich? Ihr hättet mich beinahe getötet.«

Sonea sah sie an, als wolle sie mehr sagen, besann sich aber eines anderen. Sie griff Naki am Arm und zog sie auf die Füße, bevor sie sich Lilia zuwandte. »Cery versichert mir, dass Ihr jetzt freiwillig in die Gilde zurückkehren werdet.«

Lilia folgte ihrem Blick und sah, dass Cery, Anyi und Gol direkt hinter ihr standen, zusammen mit zwei in grüne Roben gekleideten Magiern, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.

»Ja«, erwiderte Lilia. »Jetzt, da ich sie gefunden habe.«

Anyi streckte die Hand aus und half Lilia auf die Füße. »Irgendetwas gebrochen?«, murmelte sie.

»Nur mein Stolz.«

»Und dein Herz, denke ich.«

Lilia starrte Anyi an, die sie mit einem wissenden Blick bedachte, bevor sie zurücktrat. »Nun wirst du wohl in die Gilde zurückkehren. Komm ab und zu mal vorbei. Du wirst immer willkommen sein.«

Lilia zuckte die Achseln. »Ich denke nicht, dass ich viel Gelegenheit bekommen werde, irgendjemanden zu besuchen.«

Anyis Lächeln verblasste. »Nun denn … in dem Fall werden wir einfach bei dir vorbeikommen müssen.«

Sonea blickte nachdenklich zwischen Anyi und Lilia hin und her, bevor sie sich an Cery wandte. »Wir beide müssten mal ein Wort miteinander reden.«

Er lächelte. »Jederzeit gern. Aber jetzt würde ich lieber warten, bis du nicht mehr alle Hände voll zu tun hast, und die Gilde wird bestimmt erpicht darauf sein, dieses Früchtchen hier wieder in die Finger zu bekommen.« Er deutete mit dem Kopf auf Naki.

Sie nickte. »Das ist gewiss richtig. Gut, dann bis bald.«

Er nickte und trat mit einer höflichen Geste zurück. »Gute Nacht.«

Als die Schwarzmagierin sich zum Gehen wandte, tätschelte Anyi Lilias Schulter. »Sie sollen dich besser gut behandeln, oder ich werde persönlich kommen, um dich rauszuholen.«

»Ich werde schon zurechtkommen«, erwiderte Lilia, aber sie war sich keineswegs sicher, ob dem wirklich so war.

Als sie sich Sonea, Naki und den anderen Magiern anschloss, machten Cery, Gol und Anyi sich auf den Weg zurück in das Lagerhaus. Plötzlich kam Lilia ein Gedanke. Sie hatte das Trio ja dort oben zurückgelassen. »Wie seid ihr von dem Balken heruntergekommen?«, rief sie ihnen nach.

Anyi blieb stehen, drehte sich um und grinste. »Ich mit weniger Mühe und Flüchen als die anderen.«

Dann verschwand sie in der Dunkelheit, und Lilia fragte sich, ob sie ihre Retterin jemals wiedersehen würde.

25

Geben und Zurückhalten

Die Gegend außerhalb des Sanktuariums hatte sich seit Lorkins Ankunft dort so sehr verändert, dass es fast schien, das Tal sei auf unerklärliche Weise in eine völlig andere Umgebung versetzt worden. Alles war schneebedeckt. Der Schnee sammelte sich in hohen Wechten und klebte an den felsigen Hängen. Eiszapfen hingen von jedem Vorsprung und jedem vom Wind verkrümmten Baum.

Als sie die Stadt verlassen hatten, hatte Tyvara ihm eine Augenbinde umgelegt und ihn durch einen langen Flur aus einem weiteren geheimen Eingang ins Freie geführt. Sobald sie draußen waren, hatten sie sich an die Täler gehalten und den trügerischen Schnee auf den Bergen gemieden, der wahrscheinlich dem Druck eines Fußes nicht standgehalten hätte. Auch ihr Transportmittel war ein anderes. Jeder von ihnen hatte ein glattes Brett, das vorn gebogen war, während auf dem hinteren Teil Vorräte festgezurrt waren. Darauf hügelabwärts zu gleiten war berauschend und eindeutig besser, als die Schlitten durch den Schnee bergauf hinter sich herzuziehen.

Drei Tage waren sie so gereist und langsam, aber stetig vorangekommen. In jeder Nacht rollten sie die Matratzen aus, die Teil der Reiseausrüstung einer Verräterin waren, und schliefen unter den Sternen, wobei sie sich mit Magie warm hielten. Von Zeit zu Zeit redeten sie miteinander, wenn das Schlittenfahren oder die Anstrengung, durch den Schnee zu stapfen, sie nicht daran hinderte, aber bei Nacht waren sie beide zu erschöpft für Gespräche.

Am dritten Tag waren sie noch nicht lange unterwegs, als der Himmel sich verdunkelte und ein immer heftigerer Wind sie zu beuteln begann. Die Schneeflocken verdichteten sich bald zu einem wirbelnden Vorhang, der ihre Sicht auf einige wenige Schritte beschränkte. Tyvara führte ihn auf einen schmalen Pfad, der an einer Felswand entlang hinabging. Sie mussten die Schlitten tragen, was den Abstieg noch gefährlicher machte. Er fragte sich, warum Tyvara nicht stehen blieb und ein geschütztes Plätzchen suchte, wo sie den Sturm abwarten konnten, aber bevor er diesen Vorschlag machen konnte, waren sie am Eingang zu einer Höhle angelangt.

Ohne zu zögern, traten sie in die Dunkelheit und den Schutz der Höhle. Tyvara hielt kurz inne, um eine Lichtkugel zu schaffen, in deren Schein sie Einzelheiten erkennen konnten. Die Höhle war langgestreckt, fast tunnelartig, und eine ihrer Wände bestand aus Eis. Dies ist wahrscheinlich ein Überhang, dachte Lorkin, während er Tyvara folgte. Sie ging auf einen flachen Bereich der Höhle zu und stellte dort ihren Schlitten ab. Er ließ seinen neben ihren fallen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Wir können hierbleiben, bis das Wetter besser wird«, sagte sie.

Lorkin nickte zustimmend. Während Tyvara die Schlafmatratzen auf dem Boden ausrollte, hob sich seine Stimmung langsam. Zumindest konnten sie jetzt ein wenig Zeit miteinander verbringen, in der sie nicht entweder erschöpft waren oder damit beschäftigt, ihre nächste Reiseetappe zu bewältigen. Und es würde den Moment hinauszögern, in dem sie sich trennen mussten.

Er setzte sich auf seine Matratze und machte sich daran, ein wenig Wasser zu erhitzen und Raka zu kochen. Sie lächelte, als er ihr einen dampfenden Becher reichte.

»Dies ist der Beginn eines größeren Tals, das sich bis in das sachakanische Flachland hinab erstreckt«, erklärte sie. »Du wirst mühelos hinuntergelangen, auf die Straße.«

»Dann wirst du mich also nur bis hierher begleiten?«

Sie sah ihn mit undeutbarer Miene an. »Ja.«

Was dann?, fragte er sich. Werden wir einander jemals wiedersehen? Wird sie mich überhaupt vermissen? Eine Mischung von Gefühlen stieg in seiner Kehle auf: Sehnsucht, Zweifel, Bedauern, sogar Verbitterung. Er wollte ihr das alles irgendwie übermitteln, aber dann erinnerte er sich daran, was Chari über Tyvara gesagt hatte. Sie wollte nicht belastet werden. Wenn er sie an sich zu binden versuchte, würde er sie damit nur vertreiben.

»Ich …«, begann sie. Er wartete darauf, dass sie weitersprach, aber sie runzelte die Stirn und verfiel in Schweigen.

»Ja?«, fragte er. Jemanden nicht an sich zu binden ist eine Sache, aber ihn mit geheimnisvollen, unvollendeten Sätzen davonkommen zu lassen, eine ganz andere.

Tyvara schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass dies geschehen würde. Ich wollte mich nicht an dich binden, weil ich wusste, wenn ich es täte, würde dich irgendetwas mir wegnehmen.«

Plötzlich konnte er nicht mehr aufhören zu lächeln. Sie blickte auf und runzelte die Stirn.

»Was ist daran so komisch?«

»Ich liebe dich auch«, sagte er.

Sie starrte ihn an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihren Zügen aus. »Ich mache das nicht besonders gut, oder?«