»Was geschieht, wenn ein Stein bricht?«, fragte er.
»Er kann in viele Stücke zerbrechen«, sagte sie und hielt die Finger beider Hände hoch. »Oder er könnte Risse bekommen. Wenn Magie darin gelagert ist, kann sie auf viele Arten freigesetzt werden. Vielleicht so, wie es dem Zweck des Steins entspricht, vielleicht ungeformt, vielleicht auf eine andere Weise geformt.«
Dannyl nickte. Also hat man entweder ein warmes Leuchten in sich oder wird in Fetzen geschnitten und verbrannt. Hübsch. Mir scheint, dass diese Steine uns viel mehr Möglichkeiten geben, Schaden anzurichten, als Gutes zu tun.
»Wie viel wissen die Verräterinnen über die Herstellung von Steinen?«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Alles, was wir wissen, und noch mehr. Sie haben früher mit uns gehandelt, aber unser Vertrauen missbraucht, indem sie uns unsere Geheimnisse genommen haben.«
Dannyl nickte mitfühlend. Es entsprach der Wahrheit. Er dachte darüber nach, was er als Nächstes fragen sollte. Er wollte wissen, wie einfach oder zeitaufwendig die Herstellung der Steine war, aber er vermutete, dass er damit zu sehr in die Einzelheiten gehen würde. Wenn die Herstellung der Steine schwierig war, könnte dieses Wissen gegen die Duna benutzt werden. Nein, wenn er irgendwelche neuen Fragen stellen wollte, sollte er die Gelegenheit nutzen, um nach etwas zu suchen, mit dem er sein Buch ergänzen konnte.
»Was glauben die Duna, wie das Ödland geschaffen wurde?«
»Wir wissen nur das, was Ihr uns erzählt habt«, sagte sie achselzuckend. »Vorher wussten wir nur, dass die Gilde es geschaffen hat.«
Was sonst konnten ihm diese Leute über die Geschichte der Magie erzählen? Er würde gern mehr über ihre Ursprünge erfahren. Vielleicht konnten sie ihm auch etwas über die alten Völker erzählen, die in den Bergen gelebt hatten. Vielleicht über das, das einst die Ruinen von Armje in Elyne bewohnt hatte.
»Ich würde gern mehr über das Volk erfahren, von dem Ihr gesprochen habt, das Volk, das vor langer Zeit in den Bergen lebte.«
»Was wir wissen, sind nur Geschichten«, warnte sie ihn.
»Trotzdem, sie sind alles, was wir aus diesen Zeiten haben, und Geschichten, die so lange überdauern, sind im Allgemeinen gute Geschichten.«
Sie lächelte. »Also schön.« Dann sah sie Yem an. »Aber es gibt sehr viele Geschichten. Vielleicht werde ich sie Euch ein andermal erzählen.«
»Nachdem dieses Treffen beendet ist«, pflichtete Yem ihr bei. Er sah Dannyl abschätzend an. »Es gibt noch mehr, was wir Euch zu erzählen wünschen«, fuhr er fort. »Andere Dinge als die Antworten auf Eure Fragen.«
Dannyl schaute die alten Männer an, die ihn jetzt alle aufmerksam beobachteten. »Ja?«
»Ihr wisst, dass die Verräterinnen uns unsere Geheimnisse gestohlen haben. Heute wissen sie mehr, als wir jemals gewusst haben. Wir sind in der Lage, Steine zu machen, die einen Magier daran hindern, Gedanken zu lesen. Sie haben Steine, die diesen Magier dazu bringen können, Gedanken zu sehen, die er erwartet.«
Dannyls Herz setzte einen Schlag aus. Auf diese Weise vermeiden Spione also eine Entdeckung und halten ihre wahre Heimat geheim! Dann durchströmte ihn ein Gefühl der Kälte. Wenn Achati dies erführe … er würde es seinem König erzählen und dann vielleicht noch anderen Ashaki. Sie würden ihre Sklaven nach Steinen durchsuchen und sie ihnen abnehmen. Sie würden Tausende von Sklaven töten – nachdem sie ihre Gedanken gelesen hatten. Das Bollwerk der Verräterinnen würde gefunden und vernichtet werden – und Lorkin mit ihm.
Was bedeutete, dass er es Achati nicht erzählen konnte. Selbst wenn Lorkin in Sicherheit gewesen wäre, hätte Dannyl nicht die Verantwortung für den Tod so vieler Menschen tragen können. Eine derart wichtige Entscheidung steht ohnehin nicht mir zu. Eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Erleichterung überkam ihn. Es muss der Gilde überlassen bleiben, und sie würde sich wahrscheinlich den Wünschen des kyralischen Königs unterwerfen, wenn nicht den Wünschen aller Regenten der Verbündeten Länder.
Wenn den Männern und der Hüterin der Legende Dannyls Überraschung und Erschrecken aufgefallen waren, so machten sie keine Bemerkung darüber.
»Vor einem halben Mondzyklus kamen die Verräterinnen in unsere Steinhöhlen und zerbrachen alle Steine«, fuhr Yem fort. Dannyl schaute auf, begegnete dem Blick des alten Mannes und begriff, was das für die Duna bedeuten musste. »Wir fürchten, dass sie planen, einen Krieg zu führen. Vielleicht gegen Duna. Vielleicht gegen die Ashaki.«
»Warum sollten sie Eure Steine zerbrechen, wenn sie einen Bürgerkrieg mit den Ashaki beginnen wollen?«
»Um sicherzustellen, dass keine magischen Steine gegen sie benutzt werden können.«
»Wenn sie in Duna einfielen, würden die Ashaki etwas dagegen unternehmen.«
Yem nickte. »Ein Kampf mit Duna ist ein Kampf mit den Ashaki, ob wir es wünschen oder nicht.«
Dannyl bedachte diese Neuigkeiten. Gewiss würden die Verräterinnen sich nicht die Mühe machen, in Duna einzumarschieren, bevor sie die Ashaki angriffen. Aber vielleicht gab es einen strategischen Grund dafür, das zu tun … Er würde darüber nachdenken müssen. Die Motive der Duna waren jedoch klar.
»Habt Ihr mir von den Steinen erzählt, die verhindern, dass man die Gedanken ihres Besitzers lesen kann, damit ich den sachakanischen König warne?«, fragte er.
»Nein«, sagte Yem entschieden. »Wir suchen Freundschaft mit Kyralia und den Verbündeten Ländern.«
Dannyl schaute überrascht in die Runde. Alle Anwesenden erwiderten erwartungsvoll seinen Blick.
Yem nickte. »Wir haben lange darüber debattiert. Die Ashaki haben gelernt, dass ein Einmarsch in Duna einen hohen Preis hat. Die Verräterinnen wissen das nicht. Aber die Ashaki sind grausamer als die Verräterinnen. Wir wissen, wen wir als Nachbarn bevorzugen, aber sie wollen uns nicht.« Er lächelte grimmig. »Falls Kyralia und Elyne zustimmen, können wir einander vielleicht helfen.«
Dannyl sah den alten Mann an, der seinen Blick fest erwiderte, während er über all die Dinge nachdachte, die ihm angeboten und ausgesprochen worden waren. Ein Bündnis. Mit einem Volk, das über Kenntnisse in der Herstellung von Steinen verfügt. Er lächelte.
»Es wäre mir eine Ehre, ein solches Bündnis auszuhandeln«, erklärte er. »Und es würde mir große Freude machen, wenn ich eine solche Freundschaft zwischen unseren Völkern schmieden könnte.«
Das Lächeln, mit dem der alte Mann ihm antwortete, war breit und zeigte seine Zahnlücken.
Und während sie besprachen, wie ihre Völker einander helfen könnten, stellte Dannyl fest, dass eine Reise, die ausschließlich Forschungszwecken hatte dienen sollen, sich plötzlich um alles drehte, was seine Aufgaben als Botschafter umfasste.
Keiner der Magier im Büro des Administrators gab einen Laut von sich, als Lilia zu sprechen aufhörte. Sie sah sich schnell um. Einige von ihnen starrten sie an, andere wirkten distanziert und nachdenklich.
Jetzt, nachdem sie alles berichtet hatte, was sich zugetragen hatte, seit sie zum ersten Mal mit der Frau im Ausguck gesprochen hatte, fühlte sie sich vollkommen erschöpft. Ihre Müdigkeit kam nicht von magischer Erschöpfung, da ihre Kräfte sich nach dem Kampf mit Naki zum größten Teil erholt hatten. Sie war auch nicht körperlicher Natur, da sie Heilung benutzt hatte, um gegen die aus Schlafmangel resultierende Müdigkeit zu kämpfen. Sie fühlte sich ausgelaugt von all der Hoffnung, der Furcht, der Kränkung, den Schuldgefühlen, der Wut, der Erleichterung und der Dankbarkeit, die sich im Laufe des vergangenen Tages ihrer bemächtigt hatten.
Jetzt schwankte ihre Stimmung zwischen Ergebenheit und einem dumpfen Sichabfinden. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr egal war, was die Gilde tun würde, um sie dafür zu bestrafen, dass sie aus dem Ausguck geflohen und eine wilde Magierin geworden war, oder ob sie sich einfach nicht dazu überwinden konnte, darüber nachzudenken. Sie war der Geheimnisse müde und dankbar, dass sie sich ihrer entledigen konnte.