Das erste Mal, als sie ihn in der Küche bei Bekannten gesehen hatte, führte er gleichzeitig ein Gespräch auf seinem Handy, stopfte sich Chips in den Mund und zappte sich mit der Fernbedienung durch die Teletext-Schlagzeilen. Als Milly sich ein Glas Wein einschenkte, hielt er ihr sein Glas auch hin, lächelte sie in einer Gesprächspause an und bedankte sich.
»Übrigens, die Party findet nebenan statt«, hatte Milly ihn aufgeklärt.
»Schon klar«, hatte Simon erwidert, die Augen wieder auf den Fernseher gerichtet. »Ich komme gleich!« Und Milly hatte die Augen verdreht und ihm den Rücken gekehrt, ohne sich nach seinem Namen zu erkundigen. Aber später an diesem Abend, als er sich wieder zu der Party gesellte, wandte er sich ihr zu, stellte sich charmant vor und entschuldigte sich für sein Verhalten in der Küche.
»Es ging da bloß um geschäftliche Nachrichten, die für mich von besonderem Interesse sind.«
»Gute Nachrichten oder schlechte?«, fragte Milly, nippte an ihrem Wein und registrierte, dass sie reichlich angesäuselt war.
»Kommt darauf an, wer man ist.«
»Aber ist das nicht immer so? Jede gute Nachricht ist für jemand anderen eine schlechte. Sogar …« Sie hatte ihr Glas vage in der Luft herumgeschwenkt. »Sogar der Weltfrieden. Schlechte Nachrichten für die Waffenhersteller.«
»Ja«, hatte Simon bedächtig erwidert. »Schätzungsweise schon. Von der Warte habe ich das noch nie betrachtet.«
»Tja, wir können nicht alle große Denker sein«, hatte Milly versetzt und ein Kichern unterdrückt.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken besorgen?«, hatte er gefragt.
»Nein danke. Aber wenn Sie wollen, können Sie mir eine Zigarette anzünden.«
Er neigte sich zu ihr und schützte die Flamme dabei sorgfältig mit einer Hand, und ihr fielen seine kräftigen Finger und seine glatte, gebräunte Haut auf, und dass er ein angenehmes Aftershave benutzte. Dann, als sie an der Zigarette zog, hatte er ihr tief in die Augen geschaut, und zu ihrer Überraschung rann ihr ein Schauer über den Rücken, und sie hatte sein Lächeln zögernd erwidert.
Später, als man nicht länger plaudernd herumstand, sondern in Grüppchen auf dem Boden saß und Joints rauchte, war das Gesprächsthema auf Vivisektion gekommen. Milly, die in der Woche zuvor zufällig ein Blue Peter Special, die Sondersendung eines Kinderprogramms, über Vivisektion gesehen hatte, während sie zu Hause eine Erkältung auskurierte, konnte mit mehr harten Fakten und fundierten Argumenten aufwarten als jeder sonst, und Simon starrte sie bewundernd an.
Ein paar Tage darauf lud er sie zum Dinner ein und sprach viel über Business und Politik. Milly, in beiden Gebieten völlig unbewandert, hatte gelächelt, genickt und ihm zugestimmt; am Ende des Abends, kurz bevor er sie zum ersten Mal küsste, sagte Simon ihr, sie sei außergewöhnlich scharfsinnig und gescheit. Als sie, ein bisschen später, zu einer Erklärung ansetzte, dass sie von Politik – wie überhaupt von den meisten Themen – schmerzlich wenig Ahnung hatte, schalt er sie der Bescheidenheit. »Ich habe doch mitbekommen«, sagte er, »wie du die infantilen Argumente dieses Typen niedergeschmettert hast. Ehrlich gesagt«, fügte er mit finsterem Blick hinzu, »hat mich das ziemlich angemacht.« Und Milly, die gerade ihre Informationsquelle bekanntgeben wollte, näherte sich ihm stattdessen zu einem weiteren Kuss.
Simons anfänglicher Eindruck von ihr war nie korrigiert worden. Noch immer warf er ihr zu große Bescheidenheit vor, glaubte noch immer, ihr gefielen die gleichen hochkarätigen Kunstausstellungen wie ihm, fragte noch immer nach ihrer Meinung über Themen wie die amerikanische Präsidentschaftswahl und lauschte gespannt, was sie dazu zu sagen hatte. Er dachte, sie möge Sushi, nahm an, sie läse Sartre. Ohne ihn einerseits irreführen und andererseits enttäuschen zu wollen, hatte sie ihn ein Bild von sich schaffen lassen, das – wenn sie ehrlich war – nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Wie das weitergehen sollte, wenn sie erst zusammenlebten, wusste sie nicht. Mitunter erschreckte es sie, in welch falschem Licht sie gesehen wurde, war sich sicher, als Betrügerin entlarvt zu werden, sobald er sie das erste Mal dabei ertappte, wie sie über einem Schundroman in Tränen ausbrach.
Ein anderes Mal redete sie sich ein, so verkehrt sei sein Bild von ihr gar nicht. Zwar war sie vielleicht nicht ganz die hochgeistige Frau, für die er sie hielt – aber sie konnte es sein. Sie würde es sein. Das war schlicht eine Frage der richtigen Kleidung, des einen oder anderen intelligenten Kommentars und des diskreten Schweigens in der restlichen Zeit.
Einmal, zu Anfang ihrer Beziehung, als sie in Pinnacle Hall zusammen auf Simons riesigem Doppelbett lagen, hatte Simon ihr gesagt, er habe gewusst, dass sie etwas Besonderes sei, als sie ihn nicht über seinen Vater ausfragte. »Die meisten Mädchen«, gestand er verbittert, »wollen bloß wissen, wie es ist, Harry Pinnacles Sohn zu sein. Oder sie wollen, dass ich ihnen ein Vorstellungsgespräch vermittle oder so was. Aber du … du hast ihn mit keinem Wort erwähnt.«
Er hatte sie verwundert angestarrt, und Milly hatte süß gelächelt und eine undeutliche, schläfrige Erwiderung gemurmelt. Schließlich konnte sie schlecht zugeben, dass Harry Pinnacle allein deshalb unerwähnt geblieben war, weil sie noch nie von ihm gehört hatte.
»Tja – heute Abend also Dinner bei Harry Pinnacle! Das wird bestimmt ein Spaß!« Die Stimme ihrer Mutter riss Milly aus ihren Gedanken, und sie blickte auf.
»Ja«, sagte sie. »Ich denk schon.«
»Hat er immer noch diesen wunderbaren österreichischen Küchenchef?«
»Keine Ahnung.« Milly fiel auf, dass sie dazu übergegangen war, Simons entmutigenden Ton anzuschlagen, sobald von Harry Pinnacle die Rede war. Simon hielt Gespräche über seinen Vater immer so kurz wie möglich; wenn jemand zu hartnäckig dabei blieb, wechselte er abrupt das Thema oder ging sogar fort. Schon oft war er vor seiner zukünftigen Schwiegermutter geflüchtet, wenn sie ihn drängte, Einzelheiten oder Anekdoten über den großen Mann preiszugeben. Bislang schien ihr das nie aufgefallen zu sein.
»Das wirklich Bezaubernde an Harry ist«, sinnierte Olivia, »dass er so normal ist.« Sie hatte sich gemütlich bei Milly untergehakt, und sie gingen die verschneite Straße entlang. »Und genau das sage ich auch jedem. Wenn man ihn kennenlernt, hält man ihn gar nicht für einen Multimillionär. Man glaubt nicht, dass er der Gründer einer riesigen landesweiten Kette ist. Man denkt einfach, was für ein charmanter Mann! Und mit Simon ergeht es einem ebenso.«
»Simon ist kein Multimillionär«, wandte Milly ein. »Er ist ein ganz gewöhnlicher Werbevertreter.«
»Gewöhnlich ja wohl kaum, Schatz!«
»Mummy …«
»Ich weiß, du magst es nicht, wenn ich so was sage. Aber Tatsache ist, dass Simon eines Tages reich sein wird.« Olivias Griff um Millys Arm wurde etwas fester. »Und du ebenfalls.« Milly zuckte mit den Achseln.
»Kann sein.«
»Es bringt doch nichts, etwas anderes vorzugeben. Und wenn’s mal so weit ist, dann wird es dein Leben verändern.«
»Gerade eben noch«, machte Milly sie aufmerksam, »hast du gesagt, wie normal Harry sei. Er lebt schließlich auch nicht anders, oder?«
»Alles ist relativ, Schatz.«
Sie näherten sich einigen teuren Boutiquen; als sie zu dem ersten schwach beleuchteten Schaufenster kamen, blieben beide stehen. Das Schaufenster präsentierte eine einzelne Puppe, die in auserlesene weiße Seide gekleidet war.
»Wie schön«, murmelte Milly.
»Nicht so schön wie deines«, sagte Olivia auf der Stelle. »Ich habe noch nie ein schöneres Brautkleid gesehen als deines.«