Infolgedessen behandelte ihre Mutter sie weiterhin wie ein Kind statt wie eine reife Erwachsene, die sie doch in Wirklichkeit war. Und Millys Vater und ihre Schwester Isobel verhielten sich keinen Deut besser. Sie lachten, wenn Milly etwas zu aktuellen Themen sagte, sie machten sich über ihre Berufswahl lustig, diskutierten wichtige Angelegenheiten, ohne sie zu Rate zu ziehen. Sie weigerten sich, die intelligente, leidenschaftliche Frau in ihr zu sehen, die er in ihr sah, weigerten sich, ihr einen Erwachsenenstatus einzuräumen.
Simon hatte versucht, mit Milly darüber zu sprechen, versucht, ihr klarzumachen, wie herablassend sie von ihrer Familie behandelt wurde. Aber sie hatte bloß mit den Achseln gezuckt und gesagt, so schlimm sei es auch wieder nicht, und war, als er deutlicher wurde, sogar wütend geworden. Sie war zu gutmütig und ihrer Familie zu sehr zugetan, als dass sie ihre Fehler gesehen hätte, dachte Simon, während er von der Ausfallstraße in Richtung Pinnacle Hall abbog. Und dafür liebte er sie. Aber nach ihrer Heirat, wenn sie ihren eigenen Haushalt gründeten, würde sich das ändern müssen. Milly würde ihre Schwerpunkte anders setzen müssen, und das hatte ihre Familie zu respektieren. Sie würde Ehefrau sein, eines Tages vielleicht Mutter. Und die Havills würden einsehen müssen, dass sie nicht länger ihr kleines Mädchen war.
Vor den Toren von Pinnacle Hall tippte er den Sicherheitscode auf seine Infrarot-Fernbedienung und wartete darauf, dass die Tore aufschwangen – schwere Eisentore, in die der Familienname geschmiedet war. Jedes Fenster des Hauses war hell erleuchtet; auf den ausgewiesenen Plätzen parkten Wagen, und im Bürotrakt herrschte noch immer reger Betrieb. Der rote Mercedes seines Vaters stand geradewegs vor dem Haus – ein großer, glänzender, arroganter Wagen. Simon verabscheute ihn.
Er parkte seinen Golf an einer unauffälligen Stelle und ging mit knirschenden Schritten über den schneebedeckten Kies Richtung Pinnacle Hall. Es war ein großes Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert, das in den achtziger Jahren ein Luxushotel mitsamt einem Freizeitpark und einen Anbau zusätzlicher Schlafzimmer beherbergt hatte. Als die Eigentümer Pleite gemacht hatten, erstand es Harry Pinnacle und baute es in ein Privathaus um, in dessen zusätzlichem Trakt seine Firmenzentrale untergebracht wurde. Ihm gefiel es, erzählte er Reportern, die ihn besuchten, außerhalb Londons zu wohnen. Schließlich wurde er alt und brauchte den ganzen Stadtrummel nicht mehr. Auf diese Worte trat immer kurze Zeit Stille ein – und dann lachten alle; und Harry grinste und drückte auf den Klingelknopf, um frischen Kaffee zu bestellen.
Die getäfelte Halle war leer und roch nach Bienenwachs. Unter der Tür des Arbeitszimmers seines Vaters drang Licht heraus; dahinter konnte Simon seine Stimme hören, dann leises Gelächter. Sofort richteten sich seine Nackenhaare auf, und seine Hände ballten sich in den Hosentaschen zur Faust.
Seit er sich erinnern konnte, hatte Simon seinen Vater gehasst. Harry Pinnacle hatte die Familie verlassen, als Simon drei war, und seine Frau den Sohn alleine großziehen lassen. Simons Mutter hatte sich nie genauer über die Gründe des Scheiterns ihrer Ehe geäußert, aber Simon wusste, es musste an seinem Vater gelegen haben. An seinem herrischen, arroganten, unausstehlichen Vater. Seinem getriebenen, kreativen, unglaublich erfolgreichen Vater. Der Erfolg war es, den Simon am meisten hasste.
Die Story war wohlbekannt. In dem Jahr, als Simon sieben geworden war, hatte Harry Pinnacle eine kleine Saftbar namens Fruit’n Smooth eröffnet. An Chromtresen konnte man dort gesunde Säfte kaufen, und die Bar war auf Anhieb ein Hit. Im Jahr darauf eröffnete er eine weitere, und eines darauf noch eine. Ein Jahr später lief das Ganze bereits auf Franchise-Basis. Mitte der achtziger Jahre gab es in jeder Stadt ein Fruit’n Smooth, und Harry Pinnacle war Multimillionär.
Während sein Vater seinen Reichtum ebenso mehrte wie seinen Umfang und den Sprung von den Innenseiten der Fachzeitschriften auf die Titelseiten schaffte, hatte der junge Simon seinen Erfolg mit Wut beobachtet. Allmonatlich trafen Schecks ein, und seine Mutter war stets ganz erstaunt über Harrys Großzügigkeit. Aber nie erschien Harry persönlich; und dafür hasste Simon ihn. Und dann, als Simon neunzehn wurde, starb seine Mutter, und Harry Pinnacle trat erneut in sein Leben.
Simon runzelte die Stirn und spürte, wie sich seine Fingernägel in seine Handflächen gruben, wenn er sich an den Augenblick vor zehn Jahren erinnerte, als er seinen Vater zum ersten Mal gesehen hatte. Er war vor dem Krankenhauszimmer seiner Mutter müde auf und ab gegangen, außer sich vor Verzweiflung und Wut. Plötzlich hörte er jemanden seinen Namen rufen, und er sah ein Gesicht, das ihm von tausenden Zeitschriftenfotos vertraut war. Vertraut – und doch fremd. Während er seinen Vater in stummer Erschütterung anstarrte, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er im Gesicht des älteren Mannes die eigenen Züge wiedererkannte. Und unwillkürlich spürte er, wie sich emotionale Tentakel ausstreckten, instinktive Fühler wie die eines Babys. Es wäre so einfach gewesen, seinem Vater um den Hals zu fallen, die Last zu teilen, auf seine Annäherungsversuche einzugehen und sich mit ihm anzufreunden. Doch diesem Impuls hatte er mit aller Macht widerstanden. Harry Pinnacle verdiente seine Liebe nicht; und er würde sie nie bekommen.
Nach der Beerdigung hatte Harry Simon zu sich geholt. Er hatte sein eigenes Zimmer bekommen, sein eigenes Auto; Harry machte teure Urlaube mit ihm. Simon akzeptierte alles höflich. Doch wenn Harry hoffte, er könne die Zuneigung seines Sohnes durch teure Geschenke erkaufen, dann hatte er sich geirrt. Zwar legte sich Simons pubertäre Wut bald, aber dafür reifte der Wunsch in ihm, seinem Vater in jeder Hinsicht den Rang abzulaufen. Er würde ein erfolgreiches Geschäft leiten und Geld machen – aber anders als sein Vater würde er auch glücklich verheiratet sein, Kinder großziehen, die ihn liebten, und die Galionsfigur einer zufriedenen, stabilen Familie sein. Er würde das Leben führen, das sein Vater nie hatte – und sein Vater würde ihn beneiden und ihn dafür hassen.
Also hatte er seinen eigenen kleinen Verlag gegründet. Er fing mit drei Infobroschüren für Spezialisten an, einem akzeptablen Profit und hohen Erwartungen. Doch die hatten sich nie erfüllt. Nach drei mühsamen Jahren warf der Verlag keinen Profit mehr ab. Am Ende des vierten liquidierte er.
Noch immer erfüllte ihn tiefe Demütigung, wenn er sich an den Tag erinnerte, an dem er seinem Vater gestehen musste, dass er Pleite gemacht hatte, an den Tag, an dem er das väterliche Angebot hatte annehmen müssen, seine Wohnung zu verkaufen und nach Pinnacle zurückzuziehen. Sein Vater hatte ihm ein großes Glas Whisky eingeschenkt, Klischees über das Auf und Ab des Lebens von sich gegeben, ihm einen Job bei Pinnacle Enterprises angeboten. Simon hatte das unverzüglich mit ein paar gemurmelten Worten abgelehnt. Er konnte seinem Vater kaum in die Augen schauen, konnte überhaupt kaum jemandem in die Augen sehen. An diesem Tiefpunkt verachtete er sich selbst fast so sehr wie seinen Vater. Seine Enttäuschung über sich war grenzenlos.
Schließlich fand er einen Job als Werbevertreter bei einer kleinen, wenig profilierten Fachzeitschrift. Er war zusammengezuckt, als Harry ihm gratulierte, zusammengezuckt, als er beobachtete, wie sein Vater durch die reizlose kleine Veröffentlichung blätterte und nach Worten des Lobes suchte. »Es ist kein großartiger Job«, hatte Simon eingeräumt. »Aber zumindest habe ich Arbeit.« Zumindest hatte er Arbeit, zumindest hatte er zu tun, zumindest konnte er anfangen, seine Schulden abzuzahlen.
Drei Monate darauf hatte er Milly kennen gelernt. Ein Jahr später hatte er um ihre Hand angehalten. Erneut hatte ihm sein Vater gratuliert, hatte ihm angeboten, ihm beim Verlobungsring unter die Arme zu greifen. Doch Simon lehnte ab. »Ich mach das auf meine Art«, hatte er gesagt und seinen Vater mit einem neuen Selbstvertrauen fast provokativ angesehen. Wenn er seinen Vater schon nicht beruflich schlagen konnte, dann eben in puncto Familienleben. Er und Milly würden eine vollkommene Ehe führen. Sie würden einander lieben, einander unterstützen, einander verstehen. Sorgen würden besprochen und Entscheidungen gemeinsam gefällt werden, aus ihrer Zuneigung würden sie keinen Hehl machen. Kinder würden das Glück steigern. Nichts durfte schiefgehen. Simon war einmal gescheitert; ein zweites Mal durfte das nicht geschehen.