»Ah so«, meinte Alexander. Es entstand eine Pause. Er trank noch einen Schluck Tee und sah Milly stirnrunzelnd an. »Ich glaube immer noch, Sie von irgendwoher zu kennen.«
»Ach, wirklich?«, sagte Olivia. »Wie lustig!«
»Tja, ich wüsste nicht woher«, sagte Milly in betont lockerem Ton.
»Ja, Schatz«, wandte Olivia ein. »Aber mit Gesichtern hast du’s auch nicht so, nicht?« Sie wandte sich an Alexander. »Mir geht’s genauso wie Ihnen. Ein Gesicht vergesse ich nie.«
»Gesichter sind mein Job«, sagte Alexander. »Ich verbringe mein Leben damit, sie mir anzuschauen.« Sein Blick glitt über Millys Gesicht, und sie zuckte zusammen.
»Tragen Sie Ihre Haare immer schon so?«, fragte er unvermittelt. Milly wurde starr vor Schreck.
»Nicht immer«, erwiderte sie und umklammerte ihre Tasse fest. »Ich … ich hatte sie mal rot gefärbt.«
»Kein Erfolg«, erklärte Olivia mit Nachdruck. »Ich habe ihr gesagt, sie solle zu meinem Friseur gehen, aber sie wollte ja nicht hören. Und dann natürlich …«
»Das meinte ich nicht«, schnitt Alexander Olivia das Wort ab. Wieder musterte er Milly stirnrunzelnd. »Sie waren nicht mal in Cambridge, oder?«
»Nein«, sagte Milly.
»Isobel aber!«, meinte Olivia triumphierend. »Vielleicht denken Sie an sie!«
»Wer ist Isobel?«
»Meine Schwester.« Milly schöpfte Hoffnung. »Sie … sie sieht genau wie ich aus.«
»Sie hat neuere Sprachen studiert«, erklärte Olivia. »Und nun hat sie unheimlichen Erfolg. Fliegt um die ganze Welt und dolmetscht bei Konferenzen. Wissen Sie, sie ist schon sämtlichen Weltgrößen begegnet. Oder zumindest …«
»Wie sieht sie aus?«, wollte Alexander wissen.
»Dort ist ein Foto von ihr.« Olivia deutete auf eine Fotografie auf dem Kaminsims. »Sie sollten sie wirklich noch vor der Hochzeit kennen lernen«, fügte sie beiläufig hinzu und beobachtete, wie Alexander das Foto musterte. »Ich bin mir sicher, Sie hätten viel gemein!«
»Sie war’s nicht«, sagte Alexander und wandte sich wieder Milly zu. »Sie sieht ganz anders aus als Sie.«
»Sie ist größer als Milly«, sagte Olivia und fügte dann nachdenklich hinzu: »Sie sind recht groß, nicht wahr, Alexander?«
Er zuckte mit den Achseln und erhob sich.
»Ich muss los. Bin in der Stadt mit einem Freund verabredet.«
»Mit einem Freund?«, sagte Olivia. »Wie nett. Jemand Besonderes?«
»Ein alter Schulkamerad.« Alexander betrachtete Olivia, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank.
»Na, dann viel Spaß!«, wünschte Olivia.
»Danke.« An der Tür blieb Alexander stehen. »Wir sehen uns morgen, Milly. Ich mache ein paar zwanglose Fotos, und wir können uns ein bisschen darüber unterhalten, was Sie sich so vorstellen.« Er nickte ihr zu und verschwand.
»Tja!«, rief Olivia aus, sobald er fort war. »Was für ein interessanter junger Mann!«
Milly rührte sich nicht. Sie starrte auf den Tisch, umklammerte noch immer ihre Tasse, und ihr Herz schlug wie wild.
»Ist dir nicht wohl, Schatz?« Olivia sah sie neugierig an.
»Doch, alles in Ordnung.« Milly zwang sich, ihre Mutter anzulächeln und einen Schluck Tee zu trinken. Es war okay, sagte sie sich. Nichts war geschehen. Nichts würde geschehen.
»Ich habe vorhin seine Mappe angeschaut«, erzählte Olivia. »Er ist wirklich sehr talentiert. Er hat schon Preise gewonnen und so was!«
»Ach, tatsächlich«, meinte Milly trocken. Sie nahm einen Keks, sah ihn an und legte ihn wieder fort. Eine plötzliche Furcht überfiel sie. Was, wenn es ihm wieder einfiel? Was, wenn er sich erinnerte – und jemandem erzählte, bei welchem Anlass er sie vor zehn Jahren gesehen hatte? Was, wenn alles ans Licht kam? Bei dem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen; mit einem Mal fühlte sie sich elend vor Panik.
»Er und Isobel sollten einander wirklich kennen lernen«, sagte Olivia gerade. »Sobald sie aus Paris zurück ist.«
»Was?« Milly war kurzzeitig abgelenkt. »Wieso?« Sie sah Olivia mit großen Augen an, die leicht mit den Achseln zuckte. »Mummy, nein! Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«
»Nur so ein Gedanke«, verteidigte sich Olivia. »Was hat Isobel denn schon für eine Chance, Männer kennen zu lernen, wenn sie den ganzen Tag in langweiligen Konferenzräumen steckt?«
»Sie will gar keine Männer kennen lernen. Nicht deine Männer!« Milly erschauerte leicht. »Und ihn schon gleich gar nicht!«
»Was hast du gegen ihn?«
»Nichts«, beeilte Milly sich zu sagen. »Er ist bloß …«
Das Bild ihrer Schwester stieg vor Milly hoch – die kluge, vernünftige Isobel. Plötzlich überkam sie eine Woge der Erleichterung. Sie würde mit Isobel sprechen. Isobel wusste immer, was zu tun war. Milly sah auf ihre Uhr.
»Wie viel Uhr ist es in Paris?«
»Warum? Willst du anrufen?«
»Ja«, meinte Milly. »Ich möchte mit Isobel reden.«Verzweiflung ergriff sie. »Ich muss mit Isobel reden.«
Als Isobel Havill um zwanzig Uhr wieder in ihr Hotelzimmer kam, blinkte die Anzeige des Anrufbeantworters wild. Sie zog die Stirn kraus, rieb mit einer müden Geste darüber und öffnete die Minibar. Der Tag war noch anstrengender gewesen als sonst. Die klimatisierte Luft im Konferenzraum hatte ihre Haut völlig ausgetrocknet. Im Mund hatte sie den Geschmack von Kaffee und Zigaretten. Den ganzen Tag über hatte sie zugehört, gedolmetscht und in dem leisen, gemessenen Ton, der sie so begehrt machte, ins Mikrofon gesprochen. Nun hatte sie Halsschmerzen und das Gefühl, keinen Ton mehr herausbringen zu können.
Mit einem Glas Wodka in der Hand ging sie gemächlich in das weiße Badezimmer aus Marmor, schaltete das Licht an und sah eine Weile stumm in ihre rot umränderten Augen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann wieder. Sie fühlte sich nicht mehr imstande, einen logischen Gedanken hervorzubringen. Zu viele Stunden hatte ihr Gehirn ausschließlich als hoch intellektuelles Informationsmedium gearbeitet. Sie war noch immer darauf eingestellt, Worte hin- und herzuleiten, den Fluss nicht durch eigene Gedanken zu unterbrechen, die Übersetzung nicht durch eigene Ansichten zu verfälschen. Den ganzen Tag hatte sie mustergültig gehandelt, nie nachgelassen, war immer sachlich geblieben. Und nun fühlte sie sich wie eine ausgetrocknete, tote Hülse.
Sie leerte ihr Wodkaglas und stellte es auf das gläserne Badezimmerbord. Das klirrende Geräusch ließ sie zusammenzucken. Ihr Spiegelbild starrte sie mit ängstlicher Miene an. Den ganzen Tag über hatte sie es geschafft, diesen Augenblick aus ihren Gedanken zu verdrängen. Aber nun war sie allein, die Arbeit getan, und es gab keine Ausrede mehr. Mit zitternder Hand griff sie in ihre Tasche, holte eine knisternde Apothekentüte heraus und zog eine kleine, längliche Schachtel hervor. Darin befand sich ein Informationsblatt mit Anweisungen auf Französisch, Deutsch, Spanisch und Englisch. Ungeduldig überflog sie jede davon und bemerkte dabei, dass der spanische Abschnitt armselig konstruiert war und in einiger Diskrepanz zur deutschen Version stand. Aber alle schienen übereinzustimmen, was die kurze Zeitspanne des Tests anbelangte. Nur eine Minute. Une minute. Un minuto.
Sie führte den Test durch, kaum glaubend, was sie da tat, legte dann den kleinen Papierstreifen am Badewannenrand ab und ging zurück ins Zimmer. Ihre Jacke lag noch immer auf dem riesigen Hotelbett; der Anrufbeantworter blinkte noch immer wild. Sie drückte auf den Wiedergabeknopf der Nachrichten, ging zur Minibar und goss sich einen weiteren Wodka ein. Noch dreißig Sekunden.
»Hi, Isobel. Ich bin’s.« Die leise Stimme eines Mannes erfüllte den Raum, und Isobel fuhr zusammen. »Ruf mich an, wenn du Zeit hast. Bye.«
Isobel sah auf ihre Uhr. Noch fünfzehn Sekunden.
»Isobel, hier Milly. Hör mal, ich muss unbedingt mit dir reden. Kannst du mich bitte, bitte sofort zurückrufen? Es ist wirklich, wirklich wichtig!«