Die Geologen prophezeiten, daß Skontar erneut in eine Eiszeitepoche eintrat. Doch sie würde sich nicht voll entfalten können. Im Gegenteil. In zehn Jahren würden die Klimaingenieure ihr technisches Können so sehr erweitert haben, daß sie das Vordringen der Gletscher aufhalten konnten. Doch bis dahin war es kalt und weiß draußen, und ein schneidender Wind heulte um die Türme des Palastes.
Auf der südlichen Halbkugel herrschte jetzt Sommer. Die Felder wurden grün, und Rauch aus den Schornsteinen der Höfe der Freisassen kräuselte sich in den blauen Himmel. Wer hatte eigentlich das wissenschaftliche Team angeführt? Ach ja, Aesgayr Haastings’ Sohn. Seine Arbeiten auf dem Gebiet der Agronomie und Vererbungslehre hatte es einem Volk von Freisassen ermöglicht, auf eigener Scholle so viel Getreide und landwirtschaftliche Produkte zu erzeugen, daß die heranwachsende Generation der wissenschaftlichen Zivilisation nicht zu hungern brauchte. Der alte Freibauer, das Rückgrat der Welt von Skontar in seiner ganzen Geschichte, hatte nicht auszusterben brauchen.
Andere Dinge hatten sich natürlich ebenfalls verändert. Thordin lächelte still vor sich hin, wenn er daran dachte, wie sehr sich das Valtamat in den letzten fünfzig Jahren gewandelt hatte. Das hatten sie Dyrins Arbeiten auf dem Gebiet der allgemeinen Bedeutungslehre zu verdanken, die als Grundlage aller Wissenschaften so wichtig war. Sie hatte zu dem gegenwärtigen psychosymbologischen Charakter der Regierungsform geführt. Skontar war nur dem Namen nach noch ein Reich, ein absolutistisch regiertes Imperium. Dyrin hatte den Widerspruch zwischen der Bedeutung des Begriffs Willensfreiheit und einer nichtgewählten, leistungsfähigen Regierungsform gelöst. Natürlich nur zum Vorteil von Slontar — und auf dieses Ziel hatte sich der schmerzhafte Entwicklungsprozeß der skontaranischen Geschichte hinbewegt. Die neue Wissenschaft hatte den Prozeß beschleunigt, hatte den Fortschritt von Jahrhunderten auf die Zeitspanne zweier Generationen zusammengedrängt. Und dann hatten Physik und Biologie ungeahnte Erkenntnisse vermittelt… Seltsam, daß die schönen Künste darunter kaum gelitten hatten, Literatur, Musik, und Architektur. Auch die alten Kunsthandwerke standen in Ansehen und Blüte, und man pflegte die Bardensprache des Hoch-Naarhaym.
Nun, so war das Leben. Thordin kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Die Arbeit drängte. Er mußte Entscheidungen fällen, die die Kolonien auf dem Aesric-Planeten betrafen. Man konnte nicht erwarten, daß es ohne Schwierigkeiten möglich war, mehrere hundert interstellare Kolonien, die alle blühten und gediehen, zu regieren. Doch Fehlentwicklungen waren äußerst selten. Das Imperium war gesichert und stark. Und es wuchs immer mehr.
Sie hatten einen langen Weg zurückgelegt seit dem Tage der Verzweiflung vor fünfzig Jahren. Ein langer, langer Weg. Thordin fragte sich, ob er überhaupt noch übersehen konnte, wie lang der Weg tatsächlich gewesen war.
Thordin kam aus dem Höhlengang unterhalb der Zitadelle. Skorrogan hatte sich dort mit ihm verabredet, weil er den Ausblick von dieser Stelle besonders schätzte. Das Panorama war geradezu majestätisch, dachte der Valtam, doch auch schwindelerregend. Eine langgezogene Kette hoher grauer Gipfel und windgepeitschter Wolken, die sich bis zur fernen grünen Ebene ausdehnten. Über ihm ragten die alten Befestigungsanlagen auf.
Die Wachen hoben grüßend die Speere. Bis auf diese waren sie unbewaffnet. Die Vortex-Kanonen auf den Wällen verrotteten allmählich. Die Hauptstadt eines Reiches, das nur noch dem Solaren Commonwealth an Macht und Bedeutung nachstand, brauchte keine Waffen mehr. Skorrogan stand im äußeren Hof. Fünfzig Jahre hatten seinen Rücken nicht gebeugt oder den Glanz der goldenen Augen getrübt. Und doch kam es Thordin so vor, als trage der Alte eine innere Unruhe mit sich herum, eine Erwartung, als könne er die vor ihnen liegende Reise nicht rasch genug hinter sich bringen.
Skorrogan vollzog die traditionelle Begrüßung und deutete auf das Flugfeld. „Mein Schiff ist startbereit.“ Es stand hinter den Wällen, ein elegantes kleines Roboterschiff mit den verwirrenden Konturen der Doppelpyramidenkonstruktion.
Sie stiegen ein und nahmen in der Mitte Platz, von wo aus sie in allen Richtungen gleich gute Aussicht hatten.
„Nun“, sagte Thordin, „verrate mir, weshalb du unbedingt heute nach Cundaloa fliegen willst.“ Skorrogan sah in an. Alter, längst vergessener Schmerz sprach aus diesem Blick. „Heute“, sagte er leise, „ist es genau fünfzig Jahre her, daß ich von der Erde nach Hause zurückkehrte.“
„Ja — und?“ fragte Thordin, etwas verwirrt. Es war nicht die Art des schweigsamen Alten, vergangene Niederlagen wieder zur Sprache zu bringen.
„Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr“, erwiderte Skorrogan, „aber wenn du dein Unterbewußtsein durchforschst, wirst du es wieder ins Licht des Bewußtseins heben. Damals sagte ich zu euch, in fünfzig Jahren könnt ihr wiederkommen und mich um Verzeihung bitten.“
„Also willst du dich heute rechtfertigen.“ Für Thordin war das keine Überraschung — es war typisch für die skontaranische Psychologie; doch wußte er immer noch nicht, was es hier zu entschuldigen gab.
„Das stimmt. Damals konnte ich es niemandem sagen oder erklären. Niemand hätte mir damals zugehört, und auch ich fühlte noch kleine Zweifel, ob ich auch richtig gehandelt hatte.“ Skorrogan lächelte. „Doch jetzt weiß ich es. Die Zeit hat mir recht gegeben. Und ich will mir heute die Ehre zurückholen, die ich damals verloren habe, indem ich dir zeige, daß ich damals auf meiner Mission nicht so versagte, wie ihr alle geglaubt habt.“
Er nickte nachdenklich. „Im Gegenteil, meine Mission war erfolgreich. Ich stieß die Solarier absichtlich vor den Kopf.“ Skorrogan drückte auf den Antriebsknopf, und der Raumkreuzer legte die Strecke eines halben Lichtjahres durch den Raum zurück. Die große blaue Kugel von Cundaloa hing vor ihnen im All.
Thordin saß ganz still da, ließ diese einfache, ungeheure Feststellung durch alle Ebenen seines Geistes wandern. Seine erste Gefühlsreaktion war die Erkenntnis, daß er, im Unterbewußtsein, schon immer auf so eine Erklärung gewartet hatte! Er hatte nie glauben können, daß Skorrogan damals so plötzlich sein diplomatisches Gespür verloren haben sollte.
Doch dann wäre er ja ein Verräter — nein, keinesfalls! Was dann? Was hatte er damit gemeint? War er während all der Jahre geistesgestört gewesen…?
„Seit dem Krieg bist du nicht oft in Cundaloa gewesen, nicht war?“ unterbrach Skorrogan Thordins Gedanken.
„Nein. Nur dreimal, zu flüchtigen Besuchen. Es ist ein wohlhabendes System. Die Hilfe der Solarier hat sie wieder auf die Füße gestellt.“
„Wohlhabend — ja, das sind sie.“ Einen Moment lang zuckte ein Lächeln um Skorrogans Mundwinkel; doch es war ein trauriges Lächeln — als müsse er eher weinen. „Ein betriebsames, erfolgreiches kleines System, mit ganzen drei Kolonien.“ Mit einer jähen, ärgerlichen Bewegung drückte er den Nahsteuerhebel, und das Schiff zog im flachen Bogen zur Oberfläche des Planeten hinunter. Es landete in einer Ecke des großen Raumflughafens von Cundaloa-City. Die Roboter machten sich an die Arbeit, warfen ein schützendes Schwerefeld darüber.
„Was jetzt?“ flüsterte Thordin. Er hatte plötzlich Angst, ahnte, daß er keinen Gefallen an dem finden würde, was er jetzt zu sehen bekam.
„Nur ein kleiner Spaziergang durch die Hauptstadt“, sagte Skorrogan. „Mit ein paar Abstechern ins Landesinnere. Ich wollte, daß unsere Reise inoffiziell blieb. Nur so bekommt man die wahren Verhältnisse zu sehen, das Alltagsleben der Einwohner, das viel bezeichnender und wahrhaftiger ist als jede statistische oder wirtschaftliche Bestandsaufnahme. Ich will dir zeigen, Thordin, vor welchem Schicksal ich Skontar bewahrt habe.“ Er lächelte wieder traurig. „Ich gab mein Leben für unseren Planeten. Fünfzig Jahre meines Lebens auf jeden Fall — fünfzig Jahre in Einsamkeit und Schande.“ Sie tauchten unter im Lärm der großen Stahl- und Betonbauten des Raumschiffhafens und wurden zu den Ausgängen geschleust. Ein ununterbrochener Strom von Lebewesen wogte hin und her, die lärmende, ruhelose Zivilisation der Solarier. Ein großer Teil dieser Menge bestand aus Menschen, die nach Avaiki gekommen waren, um Geschäften oder dem Vergnügen nachzugehen. Auch Vertreter anderer Rassen waren darunter. Doch die meisten Wesen, die sich dort drängten, waren natürlich Einheimische — Cundaloaner.