Denholm ließ Mike Zeit, ihn in aller Ruhe zu mustern, und fuhr schließlich fort: »Um deine Frage vollends zu beantworten: Manche brauchen lange, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie nie wieder von hier weg können. Aber früher oder später akzeptieren sie es alle, und dann gibt es in unserer Stadt für jeden eine offene Tür. Oder auch einen Platz, um sich ein eigenes Heim zu errichten, falls sie das wollen.«
Mike war nicht sicher, ob er wirklich verstanden hatte, was Denholm ihm damit sagen wollte - und wenn, ob er es wirklich verstehen wollte. Im Augenblick jedenfalls hatte er keine Lust, näher darauf einzugehen.
»Was habt ihr mit Serena gemacht?« fragte er schroff. »Wo ist sie?«
Trautman sah ihn erschrocken an, aber Denholm schien ihm seinen aggressiven Ton nicht übelzunehmen. Er lächelte. »Du meinst die Atlanterin? Keine Angst - sie ist in Sicherheit.«
»Das glaube ich erst, wenn ich sie sehe«, antwortete Mike.
»Das wirst du«, erwiderte Denholm. »Deshalb bin ich hier - unter anderem.« Aber statt diese Andeutung zu erklären, drehte er sich zu Trautman herum. »Ihr könnt uns jetzt begleiten, wenn ihr wollt. Ihr könnt euch die Stadt ansehen.«
»Gerne«, antworteten Ben und André gleichzeitig. Chris schwieg, wie meistens, und Trautman warf einen fragenden Blick in Mikes Richtung.
»Ich fürchte, dein hitzköpfiger junger Freund muß noch ein wenig hierbleiben«, sagte Denholm lächelnd. »Wenigstens, bis er sich ganz erholt hat - und seine Wunden einigermaßen verheilt sind.«
»Ich werde bei Euch bleiben, Herr«, sagte Singh.
»Und ich auch - wenn du es möchtest«, fügte Trautman hinzu. Mike hätte seinen Vorschlag nur zu gerne angenommen. Schon der Gedanke, nach allem, was er gehört hatte, allein hier zurückbleiben zu sollen, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Aber er spürte auch, wie gerne Trautman und die anderen Denholms Angebot angenommen hätten, und letztendlich wollte er auch nicht als Feigling dastehen. Also schüttelte er den Kopf.
»Geht ruhig«, sagte er. »Denholm hat recht - ich fühle mich noch nicht sehr wohl. Und ich bin ja auch nicht allein. Singh wird schon auf mich aufpassen.«
Trautman warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Es wird bestimmt nicht sehr lange dauern«, versprach er.
»Wir beeilen uns. Einverstanden?«
»Jaja«, murmelte Mike. »Schon in Ordnung. Nun geht schon, ehe ich es mir doch noch anders überlege.«
Singh und er kehrten in die Hütte zurück, nachdem Trautman und die anderen in Denholms Begleitung gegangen waren. Mike hatte nicht einmal übertrieben, wie er selbst geglaubt hatte: Er fühlte sich tatsächlich noch sehr schwach, und seine Hände begannen immer heftiger zu schmerzen, so daß er sich schon nach einigen Minuten wieder auf sein unbequemes Lager sinken ließ. Singh nahm auf einem Hocker neben ihm Platz, und nachdem er sich umständlich und mehrmals nach seinem Befinden erkundigt hatte und danach, ob er irgend etwas für ihn tun konnte, begann er Mike den Rest der Geschichte zu erzählen, die er und die anderen von Denholm erfahren hatten. Sie war nicht sehr lang - aber so phantastisch, daß es Mike schwerfiel, sie zu glauben - obwohl er den Beweis für ihre Wahrheit ja mit eigenen Augen gesehen hatte.
Das Volk lebte seit Urzeiten hier unten. Singh konnte nicht sagen, wie viele sie waren - auf diese Frage hatte Denholm beharrlich geschwiegen -, aber aus gewissen Andeutungen hatte Trautman wohl geschlossen, daß sie allerhöchstens nach Hunderten zählten, nicht nach Tausenden, und es handelte sich ausnahmslos um Nachkommen der Seefahrer, die mit ihren Schiffen hierher verschleppt worden waren. Niemand vermochte zu sagen, wann der erste Mensch in dieser unterseeischen Welt angekommen war, und niemand wußte, warum. Obwohl Denholms Vorfahren jahrhundertelang verbissen versucht hatten, dieses Geheimnis zu lösen, ebensowenig, wie sie sagen konnten, wer diese unglaubliche Stadt erschaffen hatte und zu welchem Zweck. Sie hatten sich eingerichtet, so gut es eben ging, und da es an Bord der Schiffe auch immer wieder Frauen gegeben hatte, war hier, auf dem Grund des Meeres, eine richtige kleine Gesellschaft entstanden, die nach ihren eigenen Regeln funktionierte und offensichtlich überlebensfähig war.
An diesem Punkt endete Singhs Geschichte auch schon wieder, und sie ließ Mike alles andere als befriedigt zurück. Was der Inder ihm erzählt hatte, hatte viel mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, und es hatte auch nicht dazu beigetragen, ihn zu beruhigen. Ganz im Gegenteil. Je länger er zuhörte, desto mehr machte sich eine neue, nagende Furcht in ihm breit. »Hat Trautman schon einen Plan?« fragte er, als Singh geendet hatte.
»Einen Plan?« wiederholte der Inder. »Ich fürchte, ich verstehe nicht...«
»Einen Plan, wie wir hier wieder herauskommen«, antwortete Mike ungeduldig. Er richtete sich wieder auf und sah den Inder erschrocken an. »Du willst mir doch nicht erzählen, daß ihr euch damit abgefunden habt, hierzubleiben, oder?«
»Ich... weiß es nicht, Herr«, antwortete Singh ausweichend. »Wir haben bisher nicht darüber gesprochen.«
Mike setzte zu einer scharfen Antwort an, aber in diesem Moment hörten sie ein Geräusch von der Tür her, und Mike fand gerade noch Zeit, sich herumzudrehen, da huschte auch schon ein struppiger schwarzer Blitz herein, war mit einem einzigen Satz auf dem Bett und sprang Mike so ungestüm an, daß dieser wieder zurückfiel und sich erst einmal sekundenlang des Katers zu erwehren versuchte, der auf seiner Brust hockte und ihm wie ein liebestoller Hund mit seiner rauhen Zunge das Gesicht abschleckte.
Mike! Mein dummer, kleiner Menschenfreund! Du lebst und bist gesund! Poseidon sei Dank!
Mike rang nach Atem, packte den Kater mit beiden Händen und schob ihn ein Stück weit von sich fort.
»Was ist denn in dich gefahren?« keuchte er. »Hältst du dich für einen Dackel?«
Ich wollte mich nur bedanken, antwortete Astaroth. Und was ist ein Dackel?
Ehe Mike es verhindern konnte, erschien das Bild dieses Tieres in seinen Gedanken, und Astaroth zog beleidigt die Nase kraus und löste sich aus seinem Griff.
Typisch Mensch, maulte er. Da läßt man sich einmal herab und will freundlich sein, und er dankt es einem mit einer Beleidigung.
»So war das nicht gemeint«, sagte Mike hastig. Plötzlich lachte er. »Ach, verdammt, ich bin genauso froh, dich zu sehen. Ich hatte schon Angst, daß es um dich geschehen ist.«
Wäre es auch fast, erwiderte Astaroth. Wenn du nicht eingegriffen hättest... Das war unbeschreiblich tapfer von dir - wenigstens für einen Menschen -
»Danke«, sagte Mike strahlend.
- aber auch unbeschreiblich dämlich, fuhr Astaroth fort. Seit wann greift man mit bloßen Händen nach einem scharfen Messer? Mike seufzte. Was hatte er eigentlich erwartet?
Aber ich bin nicht nur gekommen, um mich von dir beschimpfen zu lassen, erklärte Astaroth großzügig.
»Sondern?« fragte Mike.
Ich soll dir das Erscheinen einer hochgestellten Persönlichkeit ankündigen, antwortete der Kater. Er hob mit einer durch und durch menschlich anmutenden Geste die rechte Vorderpfote und deutete zur Tür. Prinzessin Serena, die rechtmäßige Herrscherin von Atlantis.
Mike sah zur Tür - und hielt die Luft an, als das Mädchen den Raum betrat. Und vermutlich hätte er das auch ohne Astaroths bombastischer Ankündigung getan, denn Serena bot einen wahrhaft atemberaubenden Anblick. Sie trug noch immer das einfache weiße Kleid, in dem er sie das erste Mal gesehen hatte, und ihr Gesicht war noch immer so bleich wie zuvor, aber damit hörte die Ähnlichkeit mit der Serena, die er kannte, auch schon auf. Statt krank und leidend sah ihr Gesicht jetzt unglaublich lebendig aus. In ihren Augen glänzte ein Feuer, wie Mike es noch nie zuvor in denen eines Menschen erblickt hatte, und das blonde Haar umfloß ihr Gesicht und ihre Schultern wie eine Löwenmähne; es schien elektrisch geladen zu sein und funkelte, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Ihre Bewegungen waren so elegant und grazil wie die einer Katze. Serena strahlte eine Lebendigkeit und Stärke aus, die Mike schaudern ließ. Er hatte niemals zuvor einen Menschen gesehen, der mehr Kraft zu haben schien; auf eine Weise, die nichts mit körperlicher Stärke zu tun hatte.