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Ihr Ziel war ein Haus ganz in der Nähe des Museums, das nun zu einem Gefängnis umfunktioniert worden war, wie die beiden grimmig dreinblickenden und mit langen Knüppeln bewaffneten Männer eindeutig bewiesen, die rechts und links der Tür Aufstellung genommen hatten. Das Haus war ein wenig größer als die meisten anderen Gebäude, und es sah nicht ganz so heruntergekommen und primitiv aus wie diese. So hatte es zum Beispiel eine richtige Tür, kein aus Schilfrohr und Korallen improvisiertes Etwas, die offensichtlich von einem der Schiffe unten im Hafen stammte und sich knarrend in groben, aus Holz geschnitzten Angeln bewegte. Trautman öffnete sie, ohne anzuklopfen, und sie betraten einen kleinen, aber behaglichen Raum, der anders als das Museum ein festes Dach und sogar ein richtiges Fenster hatte, so daß das Licht direkt hereinfiel. Wie die Haustür stammten die Möbelstücke im Inneren des Hauses ganz offensichtlich von einem Schiff; besser gesagt von mehreren, wie die unterschiedlichen Stilrichtungen und das sichtbar unterschiedliche Alter der einzelnen Stücke bewiesen.

André und Chris saßen zusammen mit einem vielleicht zwölfjährigen blonden Mädchen an einem großen Tisch unter dem Fenster, auf dem eine reichhaltige Mahlzeit aufgetragen worden war, während Malcolm und seine Frau, wahrscheinlich angelockt durch das Geräusch der Tür, gerade in diesem Moment aus einem angrenzenden Raum herauskamen.

Malcolms Gesicht zeigte die gleiche Blässe wie das aller Menschen hier unten, aber er war ordentlich frisiert und trug einen streng ausrasierten, kurzgeschnittenen Vollbart. Und er war auch nicht in Lumpen gekleidet, sondern trug eine dunkelblaue Kapitänsuniform, die zwar schon sehr alt sein mußte, sich aber in tadellosem Zustand befand.

Malcolm begrüßte Trautman, Singh und die beiden anderen Jungen mit einem flüchtigen, aber sehr warmen Lächeln, ehe er auf Mike zutrat und ihm die Hand entgegenstreckte.

»Du bist also Mike«, sagte Malcolm. »Deine Freunde haben mir schon eine Menge über dich erzählt. Ich freue mich, dich selbst kennenzulernen.«

Malcolms Händedruck war kräftig und warm und sein Lächeln offen und freundlich. »Das ist meine Frau Jennifer, und dort drüben am Tisch sitzt meine Tochter Sarah«, fuhr Malcolm mit einer entsprechenden Geste fort. »Warum gehst du nicht hin und begrüßt sie? Sie brennt schon darauf, sich mit dir zu unterhalten.«

Vor einem Augenblick noch hatte Malcolm Mike gesagt, wie sehr er sich freute, ihn zu sehen, und nun schickte er ihn praktisch fort - und der Blick, den er dabei mit Trautman tauschte, war beredt genug, um Mike klarzumachen, daß er und der Steuermann der NAUTILUS wohl etwas zu besprechen hatten, was vielleicht nicht für seine Ohren bestimmt war. In Mike wuchs die Überzeugung, daß Trautman und die anderen ihm irgend etwas sehr Wesentliches verschwiegen. Er nahm sich vor, Trautman bei nächster Gelegenheit zur Rede zu stellen. Jetzt wandte er sich um und ging gehorsam zu dem Tisch am Fenster. Während er es tat, verschwanden Malcolm, Trautman und einen kurzen Augenblick später auch Singh im angrenzenden Zimmer.

Malcolms Tochter sah ihm mit einem herzlichen Lächeln entgegen. Sie hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, und so wie diese und auch ihr Vater war sie nicht auf die hier unten anscheinend allgemein übliche Weise gekleidet, sondern trug ein rüschenbesetztes Kleid, dem man ansah, daß es ursprünglich für einen Erwachsenen gedacht und mühsam (und nicht besonders geschickt) auf die passende Größe zurechtgestutzt worden war.

»Ihr glaubt nicht, was gerade draußen passiert ist«, begann Ben aufgeregt, während Mike sich einen Stuhl heranzog und setzte.

André wies mit der Hand zum Fenster. »Wir haben alles gesehen«, sagte er. Ben blinzelte. »Auch das Ungeheuer?«

»Wenn du den Fischmenschen meinst - ja«, erwiderte Sarah. Sie lächelte noch immer, aber der tadelnde Ton, in dem sie diese Worte sagte, war nicht zu überhören. Ben legte die Stirn in Falten, ging aber nicht weiter darauf ein.

»Es scheint euch ja nicht besonders zu interessieren.«

»Mein Vater wird später mit Denholm sprechen«, erwiderte Sarah. »Er war sehr zornig, aber er meint, es wäre besser, ein wenig zu warten.« Sie drehte den Kopf und sah aus dem Fenster, und Mike folgte ihrem Blick. Man konnte von hier aus nicht nur den gesamten Platz, sondern auch das Gebäude sehen, in dem der Gefangene untergebracht war. Zu den beiden Wachen vor der Tür hatten sich zwei weitere Männer gesellt, und es begannen jetzt immer mehr Menschen herbeizuströmen. Sie waren zu weit entfernt, als daß Mike ihre Gesichter erkennen oder gar verstehen konnte, was sie sagten, aber er spürte deutlich, daß von der vorhin noch so fröhlichen Stimmung nichts mehr geblieben war. Die Menge wirkte erregt, ja fast aufgebracht.

»Diese Fischmenschen«, fragte er, »was sind das für Geschöpfe? Woher kommen sie, und was wollen sie von euch?«

»Niemand weiß wirklich, wer die Fischmenschen sind«, antwortete Sarah. »Sie leben drüben in der Alten Stadt, aber auch unten im Meer.«

»Und sie sind eure Feinde?« fragte Mike.

Sarah zögerte mit der Antwort. »Ich glaube, ja«, sagte sie schließlich. »Du glaubst?«

Das Mädchen hob die Schultern. Plötzlich wirkte sie merkwürdig hilflos. »Sie sind schon so lange hier, wie dieser Ort besteht. Manche glauben, daß sie schon vor den Menschen hier waren. Wir treffen sie selten. Manchmal tauchen sie unten im Hafen auf und versuchen, eines der Schiffe zu plündern, aber im allgemeinen gehen sie uns aus dem Weg, so wie wir ihnen. Es heißt, daß es einmal einen Krieg zwischen uns und ihnen gegeben haben soll, aber niemand weiß heute noch, ob das stimmt.«

»Aber die Männer erzählten, daß sie vorhin unten am Strand gewe -« begann Mike, aber Sarah unterbrach ihn, indem sie die Hand hob und ein paarmal den Kopf schüttelte.

»Das fragst du am besten meinen Vater«, sagte sie. »In den letzten Tagen ist... einiges geschehen. Vieles hat sich geändert.« Und nicht unbedingt zum Guten, fügte ihr Blick hinzu. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema. »Aber jetzt bist du dran, zu antworten. André hat mir schon so viel von dir erzählt, daß ich es kaum noch abwarten konnte, dich kennenzulernen. Das Schiff, mit dem ihr gekommen seid - kann es tatsächlich unter Wasser fahren?«

Ohne eine Sonne, die sich am Himmel bewegte, war es schwer, das Verstreichen der Zeit zu messen, aber Mike schätzte, daß sie länger als zwei Stunden dasaßen und redeten. Sarah erwies sich als sehr ungeduldige Zuhörerin, denn sie stellte unentwegt neue Fragen und ließ ihm kaum Zeit, sie zu beantworten, ehe sie ihn auch schon wieder unterbrach und etwas anderes wissen wollte. Am Anfang ging Mike dies auf die Nerven - eigentlich war er hierher gekommen, um Fragen zu stellen, nicht um welche zu beantworten. Aber er begriff bald, daß das, was er zu erzählen hatte, für das Mädchen ungleich faszinierender sein mußte als das, was er bisher von ihrer Welt gesehen hatte. Er fand kaum Gelegenheit, selbst eine Frage zu stellen, aber er erfuhr immerhin, daß Sarah - ebenso wie ihre Eltern - nicht mit einem Schiff hierhergekommen, sondern hier unten geboren war. Sie hatte zeit ihres Lebens niemals etwas anderes gesehen als diesen Ort, den Korallenwald und den schmalen, hügeligen Streifen, der diese Hälfte der unterseeischen Welt von der trennte, in der die Alte Stadt lag und die den Fischmenschen gehörte.

Sie hatte niemals mehr als diese wenigen Dutzend Menschen getroffen, und sie hatte niemals den Himmel gesehen. Sie wußte weder, was das Wort »Nacht« bedeutete, noch was Wolken waren, Regen, Schnee oder Kälte. Und so mußte jedes Wort, das Mike erzählte, völlig neu und faszinierend für sie sein. Obwohl sie das allermeiste von dem, was er von der Welt über dem Meer und ihren Bewohnern zu berichten hatte, sicher schon von André und den anderen gehört hatte, hingen ihre Blicke wie gebannt an seinen Lippen, und er konnte regelrecht spüren, wie sie jedes Wort wie einen kostbaren Schatz aufnahm, um ihn tief in sich für den Rest ihres Lebens zu bewahren.