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Astaroth hatte kein linkes Auge, was seinen Worten nicht gerade viel Überzeugungskraft gab, aber Mike war von sich aus schon zu dem gleichen Schluß gekommen wie der Kater. »Und wo?« fragte er.

Es gibt ein großes Gebäude genau im Zentrum der Stadt, erwiderte Astaroth. Es sieht aus wie eine Pyramide. Dort drinnen ist er. Er huschte zwischen Mikes Beinen hindurch und trat durch die Öffnung in der Stadtmauer. Kommst du mit, oder ziehst du es vor, mich allein die ganze Arbeit tun zu lassen?

Mike hätte das in diesem Moment tatsächlich liebend gerne getan. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dem Kater zu folgen. Die bloße Nähe der Stadt erfüllte ihn mit Unbehagen, und der Gedanke, sie zu betreten, mit purer Angst. Von weitem hatte die Stadt unheimlich und düster gewirkt, aber aus der Nähe war sie ein zu Stein gewordener Alptraum. Die vorherrschende Farbe war Schwarz, aber es war ein Schwarz von einer Tiefe, die etwas in ihm zu berühren und zum Absterben zu bringen schien.

Die Architektur war fremd und furchteinflößend. Manche der Gebäude, an denen sie vorüberkamen, sahen beinahe normal aus, andere wiederum waren kaum als Häuser zu erkennen, sondern schienen vielmehr etwas Lebendiges zu sein. Die Welt, durch die sie sich bewegten, folgte auch nicht der gewohnten Geometrie. Alle Linien und Winkel stimmten irgendwie nicht, und jeder Fußbreit Boden strahlte ein Gefühl der Fremdartigkeit aus, das Mike schaudern ließ. Diese Stadt war nicht von Menschen errichtet worden, und vor allem: Sie war nicht für Menschen errichtet worden. Mike begriff plötzlich, warum Denholm und die anderen so weit von ihr entfernt auf der anderen Seite der Bucht lebten. Es hätte gar nichts mit den Fischmenschen zu tun. Sie hätten hier gar nicht leben können, selbst wenn es ihre unheimlichen Bewohner nicht gegeben hätte.

Irgend etwas ist hier. Es macht mir angst.

Plötzlich blieb Mike stehen. Er hatte eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen, aber als er sich umdrehte und genauer hinsah, war da nichts.

Was ist? fragte Astaroth alarmiert.

»Nichts«, antwortete Mike. »Ich muß mich... getäuscht haben. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«

»Aber das hättest du ja gespürt, oder?«

Zu seiner nicht geringen Beunruhigung antwortete Astaroth nicht, sondern begann sich nur ebenfalls mißtrauisch umzublicken, so daß Mike schließlich weiterging. Nach ein paar Schritten blieb er wieder stehen und hob die Hand. »Dort!« sagte er. »Das muß die Pyramide sein, von der du gesprochen hast.«

Er deutete auf ein schwarzes, gewaltiges Bauwerk, das sich über den Dächern der Häuser vor ihnen erhob und eigentlich nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Pyramide hatte. Aber obwohl Astaroth nicht auf seine Worte reagierte, wußte Mike, daß dies ihr Ziel war. Das Gebäude strahlte die gleiche Fremdartigkeit und Kälte aus wie die gesamt Stadt, nur viel intensiver. Es bereitete Mike schon Unbehagen, es nur anzusehen.

Das Gefühl wurde stärker, je weiter sie sich der Pyramide und damit dem Zentrum der Stadt näherten. Der Gedanke an sich mochte zwar vollkommen absurd sein, aber Mike war tief in sich immer mehr davon überzeugt, daß diese ganze Stadt irgendwie lebendig und die schwarze Pyramide im Zentrum so etwas wie ihr Herz war.

»Wo sind sie alle?« fragte er nach einer Weile.

Wer? erwiderte Astaroth.

»Die Fischmenschen«, antwortete Mike. »Sieh dich doch um. Diese Stadt ist groß genug für Zehntausende von ihnen. Wo um alles in der Welt sind sie?«

Es hatte nicht damit gerechnet, aber nach ein paar Sekunden antwortete Astaroth: Auf jeden Fall weit weg. Wären sie in der Nähe, würde ich ihre Gedanken spüren. Vielleicht sind sie Serena entgegengegangen.

Mike fuhr erschrocken zusammen. Auf diesen Gedanken war er noch gar nicht gekommen - obwohl er an sich nahe lag. Er wollte nicht daran denken, was das bedeuten würde - die Vorstellung, daß vielleicht alles, was Astaroth und er taten, schon vergebens sein könnte, war einfach zu schrecklich.

Noch ein paarmal glaubte Mike, eine Bewegung zu gewahren, und zumindest einmal war er vollkommen sicher, einen Schatten davonhuschen zu sehen, aber sie erreichten die schwarze Pyramide im Zentrum der Stadt unbehelligt, und schließlich lag der Eingang zu dem unheimlichen Gebäude vor ihnen.

Mike zögerte, es zu betreten. Es gab keine Wächter, kein Tor, nicht das mindeste Hindernis - aber schon der bloße Gedanke, einen Fuß in den verzerrten, von Schatten erfüllten Korridor jenseits der Tür zu setzen, erfüllte ihn mit fast körperlicher Übelkeit. Er spürte, daß diese Pyramide so sehr Teil einer fremden, nicht für Menschen geschaffenen Welt war, daß er darin nicht würde existieren können; wenigstens nicht lange, und nicht, ohne einen Preis dafür zu zahlen.

Willst du umkehren? flüsterte Astaroths Stimme in seinen Gedanken. Ich könnte es verstehen. Mir ist auch nicht besonders wohl bei der Vorstellung, dort hineinzugehen.

Einen Moment lang war Mike tatsächlich versucht, genau das zu tun - umzukehren und so weit und so schnell zu laufen, wie er nur konnte. Aber André war dort drinnen, und wenn er schon hier draußen halb verrückt vor Angst und Entsetzen wurde, wie mußte es dann erst seinem Kameraden ergehen, der irgendwo in diesem Alptraum aus Stein und Schwärze gefangengehalten wurde?

Statt zu antworten, trat er mit einem entschlossenen Schritt durch die Tür hindurch. Astaroth folgte ihm, wenn auch zögernd.

Langsam bewegten sie sich durch den Gang, der sich hinter der Tür erstreckte. Mikes Herz klopfte zum Zerspringen. Alle seine Sinne schienen verrückt zu spielen - ihm war gleichzeitig heiß und kalt. Seine Augen schmerzten, und es war ihm unmöglich, irgendeinen Punkt in seiner Umgebung länger als eine Sekunde zu fixieren. Der Gang erstreckte sich vollkommen gerade vor ihnen, und trotzdem behauptete sein Gleichgewichtssinn, daß er bergauf ging; dann wieder hatte er das irrsinnige Gefühl, kopfunter an der Decke entlangzumarschieren... Er durfte nicht zu lange hier drinnen bleiben, das wußte er, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, tatsächlich den Verstand zu verlieren.

Auch sein Zeitgefühl verließ ihn. Seine Logik behauptete, daß sie erst wenige Augenblicke hier drinnen sein konnten, allerhöchstens ein paar Minuten, aber ihm kam es vor, als wären Stunden vergangen, als sie endlich das Ende des Korridores erreichten. Vor ihnen lag eine mächtige Tür aus schwarzem Stein, in die bizarre Bilder und Muster eingraviert waren, deren Anblick Mike schwindeln ließ. Das größte Problem aber war, daß sich der Gang vor dieser Tür gabelte und sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite nach wenigen Schritten vor einer weiteren, ebenso mächtigen Tür endete. Und Mike wagte es nicht, auf gut Glück loszugehen - wenn sie sich hier drinnen verirrten, würden sie nie wieder herausfinden.

»Kannst du sie spüren?« fragte er.

Astaroth sah sich unsicher nach beiden Seiten um, machte einen Schritt nach rechts, dann nach links und kehrte schließlich wieder zu Mike zurück. Dort. Er wies mit einer Kopfbewegung auf die erste Tür. Er ist dort. Das Mädchen auch.

Mike überwand seine Furcht, trat dicht an das Portal heran und legte die Hand auf den schwarzen Stein. Er war darauf gefaßt, mit aller Gewalt drücken zu müssen, denn jeder der beiden gewaltigen Torflügel mußte Tonnen wiegen, aber er hatte sie kaum berührt, da schwangen sie vollkommen lautlos und wie von Geisterhand bewegt zur Seite.

Dahinter lag eine riesige, finstere Halle, die groß genug schien, Denholms gesamte Stadt aufzunehmen. Sie war vollkommen leer. Die Wände waren schwarz und glatt, schienen aber trotzdem auf unheimliche Weise zu leben; es war, als bewegten sie sich. Genau in der Mitte des Saales befand sich ein runder, bestimmt dreißig Meter durchmessender Schacht, aus dessen Tiefe ein unheimliches, blaßgrünes Leuchten heraufdrang. Und auf der anderen Seite dieses Schachtes, dicht an seinem Rand, befanden sich André und das Mädchen.