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Serena schwieg. Auch die anderen sagten nichts, und ein fast atemloses Schweigen begann sich über dem Platz auszubreiten, der noch vor kurzem vom Lärm der Schlacht und den Schreien der Verletzten und Sterbenden widergehallt hatte.

»Dieser Ort hier ist das Tor in ihre Welt«, fuhr Mike fort, nun leiser, aber noch immer mit erhobener Stimme, so daß seine Worte weithin hörbar waren. »Es ist kein Zufall, daß ihr alle hier seid. Das Wesen, das uns hierhergebracht hat - das euch alle hergebracht hat - hat nach euch gesucht. Nach Menschen wie euch, in denen noch etwas vom Erbe der Atlanter schlummerte.«

Serena schwieg weiter. Der Ausdruck von Haß war aus ihrem Gesicht verschwunden.

»Sie alle sind in irgendeiner Form Nachkommen der alten Atlanter«, fuhr Mike fort. »Deshalb hat die Qualle die Schiffe angegriffen, auf denen sie waren, und sie hierhergebracht. Und deshalb hat sie auch die NAUTILUS angegriffen. Nicht vorher. Nicht in all den Monaten, in denen wir allein an Bord waren, und nicht in all den Jahren, in denen mein Vater auf ihr gefahren ist. Erst als du an Bord gekommen bist, hat sie sich auf unsere Spur geheftet. Du weißt, daß es so ist.«

»Und?« sagte Serena trotzig. »Was ändert das?«

»Alles«, antwortete Mike. Er deutete auf Sarah. »Sich sie dir an. Ihr ist nichts geschehen. Er hätte sie töten können, vollkommen mühelos. Aber er hat es nicht getan. Er hat sich nur genommen, was ihm gehört. Mehr will er nicht, und mehr hat er nie gewollt.« Er hob die Stimme noch ein wenig mehr. »Gebt ihm zurück, was ihm gehört, und er wird euch in Frieden gehen lassen, das verspreche ich euch. Er will nicht eure Leben. Er will nur die magische Kraft, die in euch schlummert. Er braucht sie, denn ohne sie kann er nicht leben.«

Mike schwieg eine Sekunde, dann atmete er tief ein und fuhr, wieder leiser, aber jetzt direkt an Serena gewandt, fort: »Und dasselbe gilt für dich. Er wird dir nichts tun. Wenn es dein Tod wäre, den er wollte, hätte er dich längst vernichtet.«

Serena riß die Augen auf. »Du weißt ja nicht, was du da redest!« keuchte sie. »Du verlangst tatsächlich von mir, daß ich... daß ich dort hineingehe und mich diesem... diesem Ungeheuer ausliefere? Dem Monster, das mein gesamtes Volk ausgelöscht hat?!«

»Aber das hat es nicht, Serena«, sagte Mike sanft. »Es waren die magischen Kräfte deiner Vorfahren, die ihnen am Ende zum Verhängnis wurden. Die Magie, die nicht die ihre war und mit der sie nicht richtig umzugehen verstanden.«

Serena schwieg. In ihrem Gesicht tobte ein Sturm einander widerstrebender Gefühle. Sie zitterte.

»Du weißt, daß ich die Wahrheit sage«, sagte Mike leise. »Du hast es die ganze Zeit über gewußt, nicht wahr? Bitte, Serena! Diese alte Feindschaft muß enden. Geh und gib ihm zurück, was ihm gehört, und all diese Menschen hier werden endlich in Frieden leben können. Du brauchst die Magie nicht. Keiner von uns braucht sie. Sie hat schon einmal zum Untergang eines Volkes geführt. Willst du wirklich, daß es wieder geschieht?«

Serena zitterte immer heftiger. »Nein«, flüsterte sie.

»Aber ich... ich kann nicht. Ich glaube dir nicht.«

Sie mußte in Mikes Gedanken längst gelesen haben, daß er die Wahrheit sagte. Aber Mike verstand auch, warum sie sich noch immer gegen diese Erkenntnis zu wehren versuchte. Niemals zuvor konnte ihr eine Entscheidung so schwer gefallen sein wie diese. »Dann frag ihn.« Mike deutete auf Astaroth. »Er war dabei. Er wird dir bestätigen, daß ich die Wahrheit sage.«

Serena blickte den Kater lange an. Sie rührte sich nicht, und auch Astaroth stand vollkommen reglos da, aber allen war klar, daß zwischen dem Mädchen und dem einäugigen Kater eine stumme Zwiesprache stattfand. Und schließlich drehte sich Serena wieder zu Mike herum und nickte.

»Also gut«, sagte sie. »Ich... gehe. Aber ich habe furchtbare Angst.«

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Sarah. Sie hatte sich aus der Umarmung ihres Vaters gelöst und kam auf Serena zu. »Ich werde dich begleiten. Er hat mir nichts getan, und er wird auch dir nichts tun. Ich weiß es.« Sie lächelte Serena aufmunternd zu und hielt ihr die ausgestreckte Hand entgegen, und nach einer Sekunde des Zögerns griff Serena danach. Die beiden Mädchen drehten sich Hand in Hand herum und begannen auf die Alte Stadt zuzugehen. Einer der Fischmenschen vertrat ihnen den Weg und streckte die Hand nach Serena aus. Mikes Herz machte einen Sprung in seiner Brust, und ein Gefühl eisigen Entsetztens breitete sich in ihm aus. Hatte er sich getäuscht? Hatte Serena am Ende recht gehabt, und dies alles war nur eine Falle gewesen? Aber da löste sich die gewaltige Hand des Fischmenschen wieder von Serenas Schulter, und das Mädchen trat mit einem hörbaren Seufzen zurück und ließ Sarahs Hand los.

»Was -?« begann Mike.

»Geht«, sagte Serena. Sie atmete mühsam ein und wiederholte mit erhobener Stimme: »Geht in die Stadt. Alle. Gebt ihm zurück, was ihm gehört. Mike hat recht. Er wird euch nichts zuleide tun.« Aber niemand rührte sich. Hundert Augenpaare starrten Serena an, und schließlich war es wieder Mike, der die entscheidende Frage stellte:

»Und du?«

Serena lächelte matt. »Ich komme nach«, sagte sie. »Ich habe hier noch etwas zu tun.« Sie deutete auf den Fischmenschen und sah Mike dabei fest an. »Er hat es mir gesagt. Keine Sorge. Wir... wir haben seine Kräfte so lange mißbraucht, daß es jetzt auf eine Stunde mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Und vielleicht kann ich sie jetzt zum ersten Mal zum Guten einsetzen.«

Mike glaubte zu verstehen, was Serena meinte. Und nur einen Moment später wandte sie sich um, kniete neben einem der Verletzten nieder und legte ihm die Hand auf die Stirn. Wieder glühten ihre Finger in einem unwirklichen, blauen Licht, aber diesmal war es keine Zerstörung, die sie heraufbeschwor.

Während Das Volk, angeführt von Sarah und ihrem Vater Malcolm, die Stadt betrat und sich auf den Weg zu der schwarzen Pyramide im Zentrum machte, schritt Serena langsam über das Schlachtfeld und nutzte die geliehene Magie einer fremden Welt zum allerletzten Mal. Sie kniete neben jeder reglosen Gestalt nieder, berührte Männer, Frauen, Kinder, aber auch die gefallenen Fischmenschen, und der Strom von Magie, der aus ihren Händen floß, heilte Wunden, löschte den Schmerz und besiegte selbst den Tod.

Und schließlich, nachdem alle Verletzten aufgestanden waren, nachdem alle Wunden aufgehört hatten zu bluten und nachdem die unglaubliche Macht jener fremden, uralten Welt selbst die Toten wieder ins Leben zurückgeholt hatte, wandte sich die letzte Prinzessin von Atlantis um und betrat ebenfalls die Alte Stadt.

Es vergingen noch zwei Wochen, bis die Reparaturen an der NAUTILUS soweit beendet waren, daß sie die Stadt auf dem Meeresgrund ungefährdet wieder verlassen konnten. Zwei Wochen, in denen unglaublich viel geschehen war - Mike kamen sie im Rückblick vor wie zwei Jahre. Nicht nur Serena hatte sich in diesen beiden Wochen verändert. Auch das Leben des Volkes war nicht mehr, was es bisher gewesen war. Und würde es nie mehr sein.

Mikes Blick suchte die Silhouette der Alten Stadt auf der anderen Seite der Bucht. Sie sah noch immer sonderbar aus, aber der Atem des Fremden und vermeintlich Feindseligen, der bisher davon ausgegangen war, war erloschen. Der Schacht im Herzen der schwarzen Pyramide hatte sich geschlossen, im gleichen Moment, in dem Serena als letzte dem Alten gegenübergetreten war, um ihm zurückzugeben, was ihre Vorfahren ihm vor so langer Zeit gestohlen hatten, und mit ihm und dem Alten selbst waren auch die Fischmenschen verschwunden.

Die Stadt aber war geblieben. Mike war am Morgen dieses Tages - des Tages ihrer Abreise - noch einmal dort gewesen, und er staunte noch jetzt über die Veränderung, die mit der Stadt vor sich gegangen war. Die Gebäude wirkten noch immer bizarr, und vieles würde auf ewig unverständlich und auch erschreckend bleiben, aber nun war es ein Ort, an dem Menschen leben konnten. Denholm und seine Familie waren die ersten gewesen, die ihr Haus verlassen hatten und dorthin gezogen waren, und mittlerweile war ihnen fast das gesamte Volk gefolgt. Der kleine Ort inmitten des Korallenwaldes war verwaist, und schon bald würde die Natur das verlorene Terrain zurückerobert haben.