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Mike kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, während die NAUTILUS zwischen den miteinander vertäuten Schiffen hindurchglitt. Beim Näherkommen konnten sie sehen, daß sich die meisten Schiffe in einem sehr viel schlechteren Zustand befanden, als es von weitem den Anschein gehabt hatte. Spieren und Ruder waren geknickt und zersplittert, Masten gebrochen, und in dem einen oder anderen Rumpf gähnten gewaltige Löcher. Dicke Krusten aus Muscheln und Algen hatten das Holz überwuchert, es roch nach Fäulnis und Schimmel.

Plötzlich fuhr Juan zusammen.

»Was hast du?« fragte Mike alarmiert.

Juan starrte aus eng zusammengekniffenen Augen zur Reling eines riesigen Viermasters empor, dem sich die NAUTILUS näherte.

»Ich... dachte, ich hätte etwas gesehen«, antwortete er zögernd. »Aber ich muß mich wohl getäuscht haben.« Trotzdem ließ er das Schiff nicht aus den Augen, und auch Mike musterte das Kriegsschiff genauer. Flaggen und Segel waren längst weggefault, aber Mike erkannte den Schiffstyp jetzt wieder: Es handelte sich um ein spanisches Kriegsschiff aus dem sechzehnten Jahrhundert, eines jener gewaltigen Schiffe, denen die spanische Krone damals ihren Rang als Weltmacht verdankt hatte.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Juan. »Irgend etwas stimmt hier nicht.«

»Hier lebt niemand mehr«, antwortete Ben - in einem Ton, dem man anhörte, daß er diese Worte nur sagte, um sich selbst zu beruhigen.

»So?« fragte Juan. »Und wer hat dann die Schiffe aneinandergebunden? Und die Stadt gebaut? Etwa die Qualle?« Darauf antwortete Ben nicht. Aber auch er wurde deutlich nervöser.

Die NAUTILUS glitt weiter auf das Kriegsschiff zu. Es war mittels eines dicken Seiles mit einem kleineren, aber immer noch großen Schiff vertäut, so daß die verbleibende Durchfahrt gerade für die NAUTILUS reichte. Für eine Sekunde glaubte Mike, eine Bewegung hinter den offenstehenden Geschützluken des Linienschiffes zu erkennen. Aber als er genauer hinsah, war alles leer.

Einen Moment später sah er eine Gestalt, und dann ging alles so schnell, daß keinem von ihnen noch Zeit blieb, irgend etwas zu tun. Hinter der Reling der beiden Schiffe, zwischen denen sie hindurchfuhren, erschien plötzlich mehr als ein Dutzend zerlumpter, waffenschwingender Männer. Ein gewaltiges Gebrüll hob plötzlich an, und ehe Mike und die anderen wirklich begriffen, was vor sich ging, waren die Angreifer bereits dabei, die NAUTILUS zu entern. Sie sprangen von den höher liegenden Decks der Schiffe herunter, schwangen sich an Seilen herab und turnten mit affenartiger Geschicklichkeit an den Tauen entlang, zwei oder drei von ihnen verfehlten das Schiff und landeten mit einem gewaltigen Platsch im Wasser, aber die meisten setzten mit erstaunlichem Geschick auf dem schlüpfrigen Deck der NAUTILUS auf und fielen über deren vollkommen verblüffte Besatzung her.

Mike wurde gepackt und auf den Rücken geworfen. Eine wild aussehende Gestalt mit struppigem Bart und langem, verfilztem Haar kniete auf seiner Brust und hielt seine Handgelenke umklammert. Mike bäumte sich mit verzweifelter Kraft auf, aber er bekam keine Luft, denn der andere war mindestens doppelt so stark wie er und fast doppelt so schwer.

Gerade als er glaubte, in der nächsten Sekunde das Bewußtsein zu verlieren, wurde der Bursche von ihm herunter und in hohem Bogen ins Wasser geschleudert. An seiner Stelle tauchte Singh über Mike auf. In der einen Hand schwang er einen schartigen Säbel, den er offensichtlich von einem der Angreifer erbeutet hatte, die andere streckte er nach Mike aus, um ihm auf die Beine zu helfen.

Zwei weitere Angreifer stürmten auf sie los, diesmal mit gezückten Schwertern. Singh wehrte sie mit ein paar geschickten Hieben ab, durch die der eine seine Waffe verlor und der andere rücklings ins Wasser stürzte. Gleichzeitig riß er Mike in die Höhe und versetzte ihm einen Stoß, der ihn auf die offenstehende Luke zutaumeln ließ. Irgendwie schaffte es Mike, auf den Beinen zu bleiben, aber wie er die Treppe hinuntergelangte, ohne sich den Hals zu brechen, war ihm ein Rätsel. Hinter ihm klirrte Metall, dann hörte er einen gellenden Schrei, und einen Moment später landete Singh mit einem federnden Satz neben ihm. Er trug jetzt zwei Schwerter in der Hand.

»Trautman! Weg hier! Tauchen Sie!«

Aber es war zu spät. Hinter Singh drängten sich einige der zerlumpten Gestalten die Treppe herunter. Zwar gelang es dem Sikh, sie aufzuhalten, aber nicht, sie zurückzudrängen; dazu war die Übermacht zu groß. Und solange die Luke offenstand, konnten sie nicht tauchen.

»Flieht!« schrie Singh. »Ich halte sie auf!«

Trautman ergriff Mike am Arm und zerrte ihn mit sich, hinunter in den Rumpf der NAUTILUS. »In den Salon!« keuchte er. »Schnell! Vielleicht kommen wir von dort aus weiter!«

Mike begriff sofort, was Trautmans Plan war. Der Salon verfügte über die mit Abstand massivste Tür von allen Räumen an Bord der NAUTILUS. Auch sie würde den Angreifern nicht ewig standhalten, aber vielleicht verschaffte sie ihnen die Frist, die sie brauchten, um einen Plan zu fassen. Alles war so unheimlich schnell gegangen, daß Mike immer noch nicht richtig mitbekommen hatte, wie ihnen überhaupt geschah. Die zerlumpte Bande, die so jählings über sie hergefallen war, machte ganz den Eindruck von Piraten. Aber Mike weigerte sich, das zu glauben. Piraten, im zwanzigsten Jahrhundert, und hier, etliche tausend Meter unter dem Meer? Lächerlich!

Sie hatten das Ende der Treppe erreicht.

Mit weit ausgreifenden Schritten stürmten Trautman und Mike in den Salon und bemühten sich mit vereinten Kräften, die schwere Stahltür zu schließen. Es gelang ihnen im buchstäblich allerletzten Moment. Der schwere Riegel war kaum eingerastet, da erzitterte die Tür auch schon unter einer Reihe heftiger Schläge, die ihre andere Seite trafen und lang durch den gesamten Rumpf des Schiffes nachhallten.

»Jetzt sind wir eine Weile sicher vor ihnen«, sagte Trautman, während er mit erleichtertem Aufatmen zurücktrat.

»Und was ist mit Singh?« fragte Mike. Er konnte den Inder unmöglich dieser Bande draußen überlassen.

Trautman machte eine beruhigende Handbewegung. »Wenn er klug ist, gibt er auf, sobald er merkt, daß wir in Sicherheit sind«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß sie ihm etwas antun.«

»Nein. Sie sind sicher nur gekommen, um uns einen Höflichkeitsbesuch abzustatten«, antwortete Mike sarkastisch. »Auch wenn ich finde, daß sie eine etwas merkwürdige Art haben, hallo zu sagen.«

»Sie wollen bestimmt nicht unseren Tod«, beharrte Trautman. »Erinnere dich - keiner von ihnen hat seine Waffe gezogen, um dich und die anderen zu überwältigen.«

»Aber was wollen sie dann?«

Trautman hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung«, gestand er. »Piraten! Daß ich das noch erleben muß. Ich wünschte, ich wäre zwanzig Jahre jünger.«

»Das klingt, als wären Sie schon einmal mit Piraten zusammengetroffen.«

»Einmal?« Trautman lachte. »Dein Vater und ich haben sie quer über die Weltmeere gejagt. Früher war der Ozean voll von diesem Gesindel. Dein Vater hat sie gehaßt wie die Pest. Wir müssen zwei oder drei Dutzend von ihnen versenkt haben!«

Mike fröstelte plötzlich. Worüber Trautman da sprach, das klang im ersten Moment wie eine spannende Geschichte. Aber in Wahrheit redete er über den Tod von Menschen. Von vielen Menschen. Möglicherweise, dachte Mike, gab es da doch noch das eine oder andere Detail aus dem Leben seines Vaters, das er nicht kannte. Und auch nicht kennen wollte.

Wieder erzitterte die Tür unter einer Folge harter, lang nachhallender Schläge. Trautman fuhr erschrocken zusammen und deutete auf den hinteren Ausgang des Salons. »Schnell jetzt!« rief er. »Ehe sie auch von dort kommen!«

In panischer Hast verließen sie den Salon. Aber sie schafften es trotzdem nicht. Einige Piraten mußten in der oberen Etage schon weiter zum Heck der NAUTILUS vorgedrungen sein, denn vor ihnen klapperten plötzlich Schritte auf dem Metall des Gangbodens, und sie hörten aufgeregte, wild durcheinanderrufende Stimmen - und dann tauchten hintereinander vier, fünf, sechs der Piraten vor ihnen auf, die triumphierend zu brüllen begannen, als sie Trautman und Mike erblickten. Unverzüglich stürzten sie sich auf sie.