Zwei aus der Königsgarde waren mit König Robert in den Norden gekommen. Voller Begeisterung hatte Bran sie beobachtet, doch nie gewagt, sie anzusprechen. Ser Boros war ein kahler Mann mit Hängebacken, und Ser Meryn hatte müde Augen und einen rostfarbenen Bart. Ser Jaime Lannister sah eher aus wie die Ritter in den Geschichten, und auch er gehörte der Königsgarde an, doch Robb sagte, er habe den alten Irren König erschlagen und zähle daher nicht. Der größte aller lebenden Ritter war Ser Barristan Selmy, Barristan der Kühne, Kommandant der Königsgarde. Vater hatte versprochen, daß sie Ser Barristan treffen würden, wenn sie nach King's Landing kämen, und Bran hatte die Tage an seiner Hand gezählt, in Vorfreude auf die Reise, die ihm eine Welt zu Gesicht bringen sollte, von der er bisher nur geträumt hatte, um dort ein Leben zu beginnen, das er sich kaum vorzustellen wagte.
Doch nun, da der letzte Tag angebrochen war, fühlte sich Bran verloren. Er hatte bisher immer in Winterfell gelebt. Sein Vater hatte ihm erklärt, daß er sich heute verabschieden sollte, und er hatte es versucht. Nachdem die Jagdgesellschaft ausgeritten war, ging er mit seinem Wolf durch die Burg, in der Absicht, diejenigen aufzusuchen, die er zurücklassen mußte, Old Nan und Gage, den Koch, Mikken in seiner Schmiede, Hodor, den Stalljungen, der dauernd lächelte und sich um sein
Pony kümmerte und nie etwas anderes als» Hodor «sagte, den Mann in den Gläsernen Gärten, der ihm stets eine Brombeere schenkte, wenn er ihn besuchte…
Doch ergab es keinen Sinn. Zuerst war er zum Stall gegangen und hatte sein Pony dort stehen sehen, nur daß es nicht mehr sein Pony war, denn er bekam ein echtes Pferd und sollte das Pony zurücklassen, und ganz plötzlich hätte sich Bran am liebsten hingesetzt und geweint. Er drehte sich um, rannte davon, bevor Hodor und die anderen Stalljungen die Tränen in seinen Augen sahen. Damit war sein Abschied beendet. Statt dessen verbrachte Bran den Morgen allein im Götterhain, versuchte, seinem Wolf beizubringen, wie man Stöckchen holt, und scheiterte dabei. Der Wolf war klüger als alle Hunde in der Meute seines Vaters, und Bran hätte schwören können, daß er jedes Wort verstand, das man zu ihm sagte, doch zeigte er nur wenig Interesse daran, Stöckchen zu holen.
Noch immer hatte sich Bran nicht für einen Namen entscheiden können. Robb nannte seinen Grey Wind, weil er so schnell laufen konnte. Sansa hatte ihren Lady genannt, Arya ihren nach irgendeiner alten Hexe aus den Liedern, und der kleine Rickon nannte seinen Shaggydog, was Bran für einen ziemlich dummen Namen für einen Schattenwolf hielt. Jons Wolf, der weiße, hieß Ghost. Bran wünschte, es wäre ihm zuerst eingefallen, obwohl sein Wolf nicht weiß war. Hundert Namen hatte er in den vergangenen zwei Wochen probiert, doch keiner klang passend.
Schließlich wurde er des Stöckchenwerfens müde und beschloß, klettern zu gehen. Seit Wochen war er nicht mehr oben auf der Turmruine gewesen, so viel war los gewesen, und heute mochte die letzte Gelegenheit dazu sein.
Er lief durch den Götterhain, nahm den langen Weg, um dem Teich auszuweichen, wo der Herzbaum wuchs. Schon immer hatte ihm der Herzbaum angst gemacht. Bäume sollten keine
Augen haben, dachte Bran, und auch keine Blätter, die wie Hände waren. Sein Wolf jagte hinter ihm her.»Du bleibst hier«, befahl er ihm am Fuße des Wachbaumes nahe der Mauer zur Waffenkammer.»Platz. So ist es recht. Und jetzt sitz.«
Der Wolf tat, was man ihm sagte. Bran kraulte ihn hinter den Ohren, dann wandte er sich ab, sprang hoch, packte einen Ast und zog sich nach oben. Er war schon auf halbem Weg den Baum hinauf, kletterte mühelos von einem Ast zum anderen, als der Wolf aufsprang und zu heulen begann.
Bran sah hinab. Da schwieg sein Wolf, starrte ihn aus gelben Schlitzaugen an. Ein seltsamer, frostiger Schauer durchfuhr ihn. Wieder begann er zu klettern. Wieder heulte der Wolf.»Still«, rief er.»Platz. Sitz. Du bist schlimmer als Mutter. «Das Heulen begleitete ihn den ganzen Weg, bis er schließlich auf das Dach der Waffenkammer sprang, wo er nicht mehr zu sehen war.
Die Dächer von Winterfell waren Brans zweite Heimat. Oft sagte seine Mutter, Bran habe klettern können, bevor er lief, aber er selbst konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zu klettern begonnen hatte, also mußte es wohl stimmen.
Für einen Jungen war Winterfell ein grauer, steinerner Irrgarten aus Mauern und Türmen und Höfen und Tunneln, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. In den älteren Teilen der Burg konnte man nie sicher sein, in welchem Stockwerk man sich gerade befand. Die Anlage war im Laufe von Jahrhunderten wie ein monströser, steinerner Baum gewachsen, so hatte Maester Luwin es ihm erklärt, und die Äste waren knorrig und dick und verdreht, die Wurzeln tief in die Erde eingegraben.
Wenn er darunter hervorkroch und nah am Himmel auf die Beine kam, konnte Bran ganz Winterfell mit einem Blick überschauen. Es gefiel ihm, wie es aussah, wie es sich unter ihm ausbreitete und nur die Vögel über seinem Kopf kreisten, während alles Leben in der Burg unter ihm geschah. Stundenlang konnte Bran zwischen den formlosen, vom Regen verwaschenen Wasserspeiern des Bergfrieds hocken und sich alles ansehen: die Männer, die sich im Hof mit Holz und Stahl übten, die Köche, die im Gläsernen Garten ihr Gemüse pflegten, rastlose Hunde, die in den Zwingern auf und ab liefen, die Stille im Götterhain, die plaudernden Mädchen am Waschbrunnen. Es gab ihm ein Gefühl, als wäre er der Herr über diese Burg, auf eine Art und Weise, die Robb nie kennenlernen würde.
Es zeigte ihm auch Winterfells Geheimnisse. Die Erbauer hatten die Erde nie geebnet. Hügel und Täler lagen unter den Mauern Winterfells. Es gab eine überdachte Brücke, die vom vierten Stock des Glockenturms zum zweiten Stock des Krähenhorsts führte. Davon wußte Bran. Und er wußte, wie man hinter die innere Mauer am südlichen Tor gelangte, drei Stockwerke hinaufkletterte und durch einen schmalen Gang im Stein ganz Winterfell umrunden konnte, um dann auf Bodenhöhe am nördlichen Tor herauszukommen, wo die Mauer hundert Fuß über einem aufragte. Nicht einmal Maester Luwin wußte das, dessen war Bran überzeugt.
Seine Mutter fürchtete, daß Bran eines Tages von einer Mauer rutschen und dabei zu Tode stürzen könne. Er sagte ihr, das würde ihm nicht passieren, doch glaubte sie ihm nie. Einmal nötigte sie ihm das Versprechen ab, am Boden zu bleiben. Er hatte es geschafft, dieses Versprechen fast zwei Wochen lang einzuhalten, auch wenn er sich die ganze Zeit schrecklich gefühlt hatte, bis er eines Abends aus dem Fenster seines Schlafzimmers geklettert war, während seine Brüder schliefen.
In einem Anfall von Schuldgefühlen beichtete er sein Vergehen am nächsten Tag. Lord Eddard befahl ihn in den Götterhain, wo er sich reinwaschen sollte. Wachen wurden aufgestellt, um dafür zu sorgen, daß Bran die ganze Nacht allein dort blieb und über seinen Ungehorsam nachdachte. Am nächsten Morgen war Bran nirgends zu sehen. Man fand ihn schließlich schlafend in den obersten Ästen des höchsten Wachbaumes im Hain.
So zornig er auch sein mochte, konnte sein Vater darüber doch nur lachen.»Du bist nicht mein Sohn«, erklärte er Bran, als man ihn herunterholte,»du bist ein Eichhörnchen. So sei es denn. Wenn du klettern mußt, dann klettere, nur achte darauf, daß deine Mutter dich nicht sieht.«
Bran gab sein Bestes, obwohl er nicht glaubte, sie je wirklich täuschen zu können. Da sein Vater es ihm nicht verbieten wollte, wandte sie sich anderen zu. Old Nan erzählte ihm die Geschichte von einem kleinen Jungen, der zu hoch geklettert war und von einem Blitz getroffen wurde, woraufhin die Krähen kamen und ihm die Augen aushackten. Bran blieb unbeeindruckt. Oben auf der Turmruine gab es Krähennester, zu denen außer ihm nie jemand vorstieß, und manchmal füllte er seine Taschen mit Körnern, bevor er hinaufkletterte, und die Krähen fraßen ihm direkt aus der Hand. Keine hatte je auch nur das geringste Interesse daran gezeigt, ihm die Augen auszuhacken.