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Zweifellos hatte der Junge den Fehler begangen, zu glauben, daß sich die Nachtwache aus Männern wie seinem Onkel zusammensetzte. Falls dem so gewesen sein sollte, bereiteten ihm Yoren und seine Begleiter ein rüdes Erwachen. Tyrion hatte Mitleid mit dem Jungen. Er hatte ein hartes Leben gewählt… oder vielleicht sollte man sagen: Für ihn war ein hartes Leben gewählt worden.

Weit weniger Mitgefühl hatte er für den Onkel. Benjen Stark schien den Widerwillen seines Bruders gegen die Lannisters zu teilen, und er war keineswegs erfreut gewesen, als Tyrion ihm von seinen Absichten erzählt hatte.»Ich warne Euch, Lannister, Wirtshäuser werdet Ihr an der Mauer keine finden«, hatte er gesagt und auf ihn herabgesehen.

«Ohne Zweifel werdet Ihr irgend etwas finden, wo Ihr mich unterbringen könnt«, hatte Tyrion erwidert.»Wie Euch schon aufgefallen sein mag, bin ich klein.«

Selbstverständlich schlug man dem Bruder der Königin nichts ab, womit die Sache dann geklärt war, doch Freude hatte Stark darüber nicht empfunden.»Der Ritt wird Euch nicht behagen, das kann ich Euch versprechen«, hatte er barsch gesagt, und seit dem Augenblick, an dem sie losgeritten waren, hatte er alles getan, um sein Versprechen einzulösen.

Gegen Ende der ersten Woche waren Tyrions Oberschenkel blutig gescheuert vom harten Ritt, in den Beinen hatte er schwere Krämpfe, und er fror bis auf die Knochen. Er klagte nicht. Er wollte verdammt sein, wenn er Benjen Stark diese Genugtuung gönnte.

Er nahm eine kleine Rache, was sein Reitfell anging, ein zerfetztes Bärenfell, alt und muffig riechend. Stark hatte es ihm in einem Anflug von Ritterlichkeit angeboten und zweifellos erwartet, daß er dankend ablehnte. Lächelnd hatte Tyrion es akzeptiert. Er hatte seine wärmsten Kleider eingepackt, als sie Winterfell verließen, und bald schon festgestellt, daß sie nicht im entferntesten warm genug waren. Kalt war es dort oben, und es wurde immer kälter. Die Nächte waren inzwischen unter dem Gefrierpunkt, und wenn der Wind wehte, war es, als schnitt ein Messer geradewegs durch seine wärmste Wollkleidung. Mittlerweile bereute Stark seinen ritterlichen Impuls ganz ohne Zweifel. Vielleicht war es ihm eine Lektion. Die Lannisters lehnten niemals ab, dankend oder sonstwie. Die Lannisters nahmen, was sich ihnen bot.

Bauernhöfe und Festungsanlagen wurden seltener und kleiner, je weiter sie nach Norden kamen, tiefer und tiefer ins Dunkel des Wolfswaldes hinein, bis es schließlich keine Dächer mehr gab, unter denen man Schutz suchen konnte, und sie waren auf sich selbst gestellt.

Tyrion war nie eine große Hilfe, wenn es darum ging, ein Lager zu errichten oder abzubrechen. Zu klein, zu behindert, zu sehr im Weg. Während Stark und Yoren und die anderen Männer also grobe Unterstände errichteten, sich um die Pferde kümmerten, ein Feuer machten, wurde es ihm zur Gewohnheit, sein Fell und einen Weinschlauch zu nehmen und sich zum Lesen zurückzuziehen.

Am achtzehnten Abend ihrer Reise war der Wein ein selten süßer Rebensaft von den Summer Isles, den er den ganzen Weg von Casterly Rock in den Norden mitgenommen hatte, und das Buch eine Abhandlung zu Geschichte und Eigenschaften der Drachen. Mit Lord Eddard Starks Erlaubnis hatte Tyrion einige seltene Bände aus der Bibliothek von Winterfell für die Reise in den Norden entliehen.

Er fand eine bequeme Stelle etwas abseits des Lagerlärms, an einem rauschenden Bach, dessen Fluten klar und kalt wie Eis waren. Eine Eiche von bizarrem Alter bot ihm Schutz vor dem schneidenden Wind. Tyrion wickelte sich mit dem Rücken am Stamm in sein Fell, nahm einen Schluck Wein und begann, über die Eigenschaften von Drachenknochen nachzulesen. Drachenknochen ist schwarz wegen seines hohen Eisengehalts, las er in dem Buch. Er ist hart wie Stahl, doch leichter und weit biegsamer, und natürlich Feuer gegenüber gänzlich unempfindlich. Bogen aus Drachenknochen sind bei den Dothraki hoch geschätzt, was nicht verwundern kann. Ein damit bewehrter Bogenschütze schießt weiter als mit jedem Holzbogen.

Drachen übten auf Tyrion eine morbide Faszination aus. Als er für die Hochzeit seiner Schwester mit Robert Baratheon zum ersten Mal nach King's Landing gekommen war, hatte er darauf bestanden, die Drachenschädel zu besichtigen, die an den Wänden des Thronsaals der Targaryen gehangen hatten. König Robert hatte sie durch Banner und Wandteppiche ersetzt, doch Tyrion war derart beharrlich geblieben, bis er die Schädel schließlich in dem feuchten Keller aufspürte, wo man sie lagerte.

Er hatte erwartet, daß sie eindrucksvoll wären, vielleicht sogar beängstigend. Er hatte nicht gedacht, daß sie wunderschön sein würden. Und doch waren sie es. Schwarz wie Onyx, blankpoliert, so daß der Knochen im Fackelschein zu schimmern schien. Sie liebten das Feuer, das spürte er. Er hatte seine Fackel ins Maul eines der größeren Schädel gesteckt, daß die Schatten an der Wand dahinter hüpften und tanzten. Die Zähne waren lange, gebogene Dolche von schwarzem Diamant. Die Flamme der Fackel konnte ihnen nichts anhaben. Sie hatten schon der Hitze weit heißerer Feuer widerstanden. Als er von ihnen zurückgetreten war, hätte Tyrion schwören können, daß die leeren Augenhöhlen des Untiers ihn dabei beobachteten.

Es waren neunzehn Schädel. Der älteste war über dreitausend Jahre alt, der jüngste nur anderthalb Jahrhunderte. Die jüngeren waren auch die kleinsten, ein gleiches Paar, nicht größer als Schädel von Mastiffs, und seltsam mißgebildet, alles, was von den letzten beiden frisch Geschlüpften geblieben war, die auf Dragonstone das Licht der Welt erblickt hatten. Sie waren die letzten Drachen der Targaryen gewesen, vielleicht die letzten Drachen überhaupt, und lange hatten sie nicht gelebt.

Die anderen Schädel waren größer, bis zu den drei Ungeheuern aus Liedern und Legenden, die Drachen, die Aegon Targaryen und seine Schwestern in alten Zeiten auf die Sieben Königslande losgelassen hatten. Die Sänger hatten ihnen Namen von Göttern gegeben: Balerion, Meraxes, Vhagar. Tyrion hatte zwischen ihren klaffenden Kiefern gestanden, wortlos und staunend. Man hätte auf einem Pferd in Vhagars Schlund reiten können, obwohl man kaum wieder herausgekommen wäre. Meraxes war sogar noch größer. Und der größte von allen, Balerion, der Schwarze Schrecken, hätte einen ganzen Auerochsen am Stück verschlingen können, oder vielleicht sogar eines dieser haarigen Mammuts, welche die kalte Einöde jenseits des Hafens von Ibben durchstreiften.

Lange stand Tyrion in diesem feuchten Keller, starrte Balerions Schädel mit den leeren Augen an, bis seine Fackel abgebrannt war, versuchte, die Größe des lebenden Tieres zu begreifen, sich vorzustellen, wie es ausgesehen haben mußte, wenn es seine großen, schwarzen Flügel ausbreitete und feuerspeiend am Himmel schwebte.

Sein entfernter Vorfahr König Loren vom Stein hatte versucht, dem Feuer zu widerstehen, als er sich König Mern von der Weite anschloß, um sich der Eroberung durch die Targaryen zu widersetzen. Das lag fast dreihundert Jahre zurück, als die Sieben Königslande noch wirklich Königslande waren, und nicht bloß Provinzen eines größeren Reiches.

Gemeinsam hatten die zwei Könige sechshundert Vasallen, fünftausend Ritter zu Pferd und zehnmal so viele Freie und Soldaten. Aegon Dragonlord besaß vielleicht ein Fünftel davon, so sagten die Chroniken, und die meisten waren Einberufene aus den Reihen des letzten Königs, den er erschlagen hatte, deren Treue war fraglich.

Die Feinde begegneten einander auf der weiten Steppe der» Weite«, inmitten goldener Felder von Getreide, das zur Ernte reif war. Als die zwei Könige angriffen, erbebte Targaryens Armee, zerstob und flüchtete. Für einige Augenblicke, so schrieben die Chronisten, fand die Schlacht ihr Ende… doch nur für diese kurzen Augenblicke, bis Aegon Targaryen und seine Schwestern in die Schlacht eingriffen.