Ihr unterschätzt Eure Stadt, Weiser. Ihr liebt sie so sehr, daß Ihr Euch einbildet, niemand sonst täte es – aber das ist ganz und gar nicht der Fall. In den zwei Jahren, seit mein Volk und ich hier ankamen, ist mir noch niemand – ob nun Mann, Frau oder Kind – begegnet, dem Freistatt nicht, trotz lautstarker, gegenteiliger Beteuerungen, ebenso am Herzen liegt wie Euch, auch wenn sie es auf andere Weise zeigen mögen. Und zu meiner Verwunderung muß ich feststellen, daß diese Gefühle sehr ansteckend sind.«
Sie bemerkte seinen überraschten Blick und lachte wieder. »Ja, trotz des Blutes von vierzig Generationen von Beysas und unseres Inselreichs in meinen Adern sind weder ich noch meine Göttin immun gegen die Verlockung Eurer Stadt. Zuerst erschien sie mir grausam und barbarisch, und das ist sie wohl, aber sie hat auch einen Schwung und eine Lebenslust, die berauschend ist, etwas, das meinem eigenen, o so zivilisierten Volk fehlt. Während Ihr befürchtet, daß sich das geändert hat oder völlig verlorengegangen ist, kann ich, die ich es mit neuen Augen sehe, Euch versichern, daß es noch da und, wenn möglich, noch stärker ist als bei unserer Ankunft. Gewiß, es mag Streitigkeiten um Geld und Macht geben, die noch so neu hier sind, aber es ist nach wie vor Freistatt. Im Ernstfall werden die Menschen hier kämpfen oder tun, was immer nötig ist, um dieses Gefühl der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten, für das sie so viel auf sich genommen haben. Die Beysiber werden Seite an Seite mit ihnen stehen, denn mein Volk und ich sind nun Teil davon, genau wie Ihr und die Euren.«
Danach schwieg sie, und gemeinsam – als lebende Symbole des alten und neuen Freistatt – studierten sie durch das Fenster die Stadt. Und jeder hoffte insgeheim inbrünstig, daß sie recht hatte.
Die Herrin der Flammen
Diana L. Paxson
Ein Pfirsichbaum wuchs in dem Gärtchen, zu dem Lalos Stiege führte. Es war nur ein kleiner Baum, aber Gilla hatte seine Wurzeln mit Stroh bedeckt, um sie vor der Kälte zu schützen, und ihn mit kostbarem Wasser gegossen, wenn die Sonne heiß vom Himmel schien. Sie hatte für ihn gesorgt wie für ihre Kinder, und er hatte Krieg und Zauberwetter überlebt. Doch in dem bitteren Frühling, als der Kaiser nach Freistatt kam, stand er kahl, mit kaum einem Blatt an seinen krummen Zweigen.
Ehe er zum Palast ging, blieb Lalo neben dem Baum stehen und wünschte sich, er könnte ihm Leben einhauchen wie einst dem Werk seiner Hände. Doch seit der Zerstörung der nisibisischen Machtkugeln war offenbar alle Magie so lasch geworden wie Meister Ahdios billiges Bier. Seine eigene Magie wagte Lalo nicht auszuprobieren. Selbst in seiner besten Zeit hatte er lediglich Symbole umgewandelt, nichts Lebendes.
Er wußte nicht, ob er überhaupt noch etwas erschaffen könnte.
Das Haus hinter ihm war so still wie in jenen schrecklichen Tagen, als Gilla bei Roxane gefangen gewesen war. Latilla und Alfi befanden sich bei Vanda im Palast. Wedemir beobachtete neidisch die Stiefsöhne bei ihren Übungen, die sie wieder in Form für den Krieg bringen sollten. Und Gilla sorgte im Aphrodisiahaus dafür, daß Illyra allmählich von der Wunde genas, die ihr bei den Unruhen zugefügt worden war, als ihre kleine Tochter starb.
Wenn nur Illyras Körper der Heilung bedurfte, wäre es nicht so schlimm, dachte Lalo. Ihm schien, daß beide Frauen ihr Leid wie ein Kind pflegten. Sein eigener Magen verkrampfte sich bei der Erinnerung – sein mittlerer Sohn, Ganner, war in den gleichen Unruhen, die Illyras Kleinen den Tod gebracht hatten, vor der Goldschmiedewerkstatt, wo er in die Lehre gegangen war, niedergeschlagen worden.
In der Stadt herrschte nun wieder Ruhe, aber es war die Ruhe der Erschöpfung – eher einem Koma gleich denn heilendem Schlaf, und wer konnte schon sagen, ob Freistatt oder irgendwelche seiner Bürger je wieder zum Leben erwachen würden?
Lalo schauderte und blinzelte zum Himmel. Auch wenn es sinnlos war, sollte er zum Palast gehen, noch ehe das Morgenlicht schwand. Als Teil einer Reihe politischer und religiöser Verhandlungen, die Lalo gar nicht zu durchschauen versuchte, hatte Molin Fackelhalter ihm den Auftrag erteilt, ein allegorisches Wandgemälde der Hochzeit des Sturmgotts mit Mutter Bey zu malen. Das Werk war so leblos wie alles, was er in letzter Zeit malte, aber er wurde dafür bezahlt. Außerdem wußte er nicht, was er sonst hätte tun können.
»Sie wäre sehr hübsch geworden…« sagte Illyra in einem eigenartigen Plauderton. »Meine Lillis hatte goldenes Haar wie ihr Vater, erinnerst du dich. Wenn ich es kämmte, fragte ich mich oft, wie etwas so Hübsches aus meinem Schoß hatte kommen können…«
»Ja«, sagte Gilla leise. »Ich weiß.« Sie hatte Illyras Töchterchen nur ein paarmal flüchtig gesehen, doch das war jetzt unwichtig. »Ganner war das hübscheste meiner Kinder…« Ihre Kehle schnürte sich zusammen.
»Wie kannst du es verstehen!« rief die Halbs’danzo plötzlich heftig. »Du hast noch Kinder! Aber meine Tochter ist tot, und meinen kleinen Jungen haben sie mir weggenommen. Mir ist nichts geblieben!«
»Dein Kind war noch klein«, sagte Gilla schwer. »Du weißt nicht, wie sie einmal geworden wäre. Doch all die Arbeit, meinen Jungen zum Manne großzuziehen, ist vergeudet. Ich werde keine Enkelkinder von ihm haben. Ich mußte ein Baby begraben und habe eines noch ungeboren verloren. Der Junge, der nach Ganner kam, starb an Fieber, als er sechs Jahre alt war. Ich mußte sie in den verschiedenen Altern hergeben und kenne den Schmerz, den ich bei jedem einzelnen litt, und ich sage dir, Illyra, in welchem Alter einem sein Kind auch genommen wird, es ist immer das schlimmste. Doch ich werde keine mehr gebären. Du dagegen bist noch jung und kannst andere Kinder bekommen.«
»Wozu?« sagte Illyra rauh. »Damit diese Stadt auch sie umbringen kann?« Sie ließ sich auf das seidene Kissen zurückfallen, mit dem das Aphrodisiahaus sogar Krankenzimmer ausstattete, und schloß die Augen.
Irgendwo im Erdgeschoß erklang wie zum Hohn Musik. Die verblichene Seide der Kissen schimmerte weich in der Nachmittagssonne, aber Gilla erschien sie so farblos wie alles andere seit dem furchtbaren Tag, an dem so viele gestorben waren. Illyra hatte recht – warum dem boshaften Schicksal noch mehr Geiseln geben?
Jemand klopfte zögernd an die Tür. Als weder Gilla noch Illyra Herein riefen, wurde sie sanft geöffnet, und Myrtis trat ein. Sie war ein wenig dünner geworden, aber ihr Make-up war so untadelig wie immer und ihr Schmuck dezent.
»Wie geht es ihr heute?« Sie deutete auf die Halbs’danzo, die die Augen geschlossen hatte.
Gilla stand auf und ging der Älteren entgegen – man nahm zumindest an, daß Myrtis älter war, und heute sah sie wirklich so aus, als ließe auch der Zauber nach, mit dem Lythande ihre sagenhafte Schönheit erhalten hatte. Molin Fackelhalters Gold war Bezahlung für Illyras Pflege hier, doch die berühmte Leiterin des Aphrodisiahauses hatte sich mehr als nur als eine Hauswirtin um sie gekümmert.
»Die Wunde vernarbt, aber Illyra wird immer schwächer«, antwortete Gilla leise. »Ich glaube, sie will nicht mehr leben. Und warum sollte sie auch?« fügte sie bitter hinzu.
Einen Moment lang funkelten Myrtis’ Augen. »Ihr braucht einen Grund? Das Leben is alles, was man hat! Immerhin ist sie durchgekommen, und Ihr ebenfalls! Wollt ihr aufgeben und sie gewinnen lassen?« Ihre Gebärde schloß alle außerhalb des Gemachs ein. Dann zog sie rasch die Hand zurück, als wäre sie von ihrer eigenen Heftigkeit überrascht.