»Ihr habt das getan – also bringt es wieder in Ordnung! Ich habe die Farben hier und die noch unbemalten Karten. Von uns würde in dieser Nacht ohnehin keiner schlafen. Ihr werdet mir die fehlenden Karten beschreiben, S’danzo, ich werde sie malen, und dann werdet Ihr sie noch einmal lesen!«
Mit kraftloser Hand streifte Illyra das dichte Haar zurück. »Maler, ich weiß, was ich getan habe«, sagte sie dumpf. »Nehmt Eure Farben, und ich beschreibe Euch die Bilder, auch wenn es nicht helfen wird. Ich glaube, ich habe die Gabe, die ich mißbrauchte, verloren.«
Lalo schauderte, aber seine Miene blieb unerbittlich, als er an seinen Arbeitstisch trat und sich daranmachte, die kleinen Farbtiegelchen zu öffnen. Gilla starrte ihn an, denn diese Miene hatte sie an ihrem Mann noch nie gesehen.
»Die Erz-Sieben wird Roter Ton genannt, sie ist die Karte des Töpfers, des Handwerkers«, begann Illyra, als Lalo den Pinsel nahm. Dann fing Latilla zu wimmern an, und Gilla achtete nicht mehr auf die Worte der S’danzo, als sie sich über das Kind beugte, um es zu beruhigen.
In der Nacht begann der Mob, die Toten und ihre Habe auf die Straße zu ziehen, um sie zu verbrennen, doch der Anblick von versengendem Brokat oder schmelzendem Gold war zu viel für so manche der weniger gesetzestreuen Bürger, also legten die entschlosseneren Feuer an die Häuser, ohne gründlich nachzusehen, ob noch jemand in ihnen am Leben war. Sowohl die Stiefsöhne wie das 3. Kommando hatten die Hände voll zu tun, um zu verhindern, daß die Flammen auf das Kaufmannsviertel übergriffen, während Walegrin und die Garnison den Palast vor dem Mob beschützten, der nach dem Tod von Prinz Kadakithis und der beysibischen Hure brüllte. Als die Sonne wie ein rotes Auge am Horizont aufging, war der Himmel von einer Düsternis, die an Zauberwetter erinnerte, aber diesmal kam das Böse ausschließlich von Sterblichen.
Als Lalo schließlich aufwachte, brauchte er ein paar Augenblicke, bis ihm klar wurde, daß sein Kopf nicht von Fieber pochte, sondern weil er zusammengekauert an seinem Arbeitstisch geschlafen hatte, und daß das graue Licht, das durch die Vorhänge filterte nichts mit dem kühlen Morgengrauen zu tun hatte, sondern mit einem schrecklichen Mittag. Ächzend richtete er sich auf, blinzelte und schaute sich um.
Vor ihm auf dem Tisch waren die letzten S’danzokarten. Illyra lag noch in ihrem Sessel. Entsetzt dachte Lalo flüchtig, sie sei tot, da wurde ihm bewußt, daß das Grauen und der Haß, die ihn in der Nacht erfüllt hatten, verschwunden waren und Verzweiflung zurückgelassen hatten. Gilla saß am Bett wie eine Statue, doch als er sich bewegte, öffnete sie die roten, verschwollenen Augen in dem abgehärmten Gesicht.
»Wie…« Das Wort kam als Krächzen heraus. Lalo schluckte und zwang seine Stimme, ihm zu gehorchen.
»Sie lebt«, sagte Gilla, »aber sie glüht noch.« Sie blickte ihn angsterfüllt an.
Lalo plagte sich auf die Füße und ging zu ihr, und er erinnerte sich, wie er sich gefühlt hatte, als das schwarze Einhorn von der Wand gesprungen war. Das Einhorn war das Kind seines Stolzes gewesen und nur eine, wenngleich die schlimmste, seiner Sünden im Lauf der Jahre. Gillas einzige Sünde dagegen war aus ihrer Verzweiflung geboren. Vielleicht machte sie das zu passenden Lebensgefährten, doch das konnte er jetzt kaum zu ihr sagen.
Statt dessen legte er den Arm um ihre breiten Schultern und streichelte sanft ihr Haar. Latilla rührte sich unruhig im Fieberschlaf, dann lag sie wieder still. Ihr Gesichtchen war tief gerötet, und ihm schien, daß ihre Backenknochen sich stärker abzeichneten, so daß er den Schädel unter der Haut sah. Sein Arm verkrampfte sich ruckhaft, und Gilla drückte das Gesicht an seine Brust.
»Du hattest recht wegen des Einhorns«, sagte er leise. »Aber wir konnten es loswerden. Wir werden auch eine Möglichkeit finden, damit fertig zu werden.«
Gilla richtete sich auf und blickte ihn an, ihre Augen glänzten von ungeweinten Tränen. »O du komischer Kerl! Du bringst es fertig, daß ich mich jetzt all der Jahre schäme, in denen ich mir eingebildet hatte, ich sei die einzige, die etwas zu verzeihen hat…« Sie holte tief Atem und stemmte sich auf die Füße.
»Ja, wir werden etwas unternehmen! Aber zuerst wollen wir uns waschen und einen Bissen essen.« Der Boden erzitterte leicht, als sie zur Tür schritt und dem Mädchen rief, das sie bedient hatte.
Nach dem Essen fühlte sich Lalo ein wenig besser. In’ der Ferne vermischte der dröhnende Schlag der Tempeltrommeln sich mit dem bedrohlichen Brüllen des Mobs. Myrtis’ Mädchen erzählten, daß der Hohepriester Ils’ sich einverstanden erklärt hatte, Dyareela bei Sonnenuntergang ein Opfer darzubringen. Man hoffte, daß Stierblut die Göttin und den Mob besänftigen würde. Wenn nicht, könnte es leicht sein, daß nicht einmal die vereinten Kräfte von Stiefsöhnen und 3. Kommando zu verhindern vermochten, daß kaiserliches Blut dort strömte, wo zuvor Stierblut geflossen war; und bei einem solchen Frevel würde der Kaiser kaum bis zum neuen Jahr warten, ehe er ›befriedete‹, was von der Stadt übrig war.
Lalo setzte sich an seinen Arbeitstisch und betrachtete die bunten Bilder der Karten. Bei seinem körperlichen und geistigen Zustand in der vergangenen Nacht war es ein Wunder, daß sie ihm überhaupt gelungen waren. Aber die Vision der Seherin war durch seine Hände geströmt, und er wußte, daß diese Karten ihren früheren künstlerisch weit überlegen waren. Er unterdrückte den Stolz, den dieser Gedanke in ihm aufwallen ließ. Er konnte sich nicht erinnern, sie gemalt zu haben – folglich stand nicht ihm ein Lob zu, sondern der Kraft, die seine Hand geführt hatte. Und Schönheit wäre unbedeutend, wenn sie die Karten nicht benutzen könnten, um den Schaden zu beheben, den sie angerichtet hatten.
»Ich habe sie zu lesen versucht, während ihr beide geschlafen habt«, gestand Illyra, nachdem das Mädchen das Geschirr abgeräumt hatte. »Es ist hoffnungslos, Gilla. Die Karten kehrten immer wieder zu dem Muster zurück, zu dem wir sie legten.«
»Dann müssen wir etwas anderes versuchen.« Gilla nickte entschlossen.
»Legt sie zu einem anderen Muster auf«, riet Lalo. »Diesmal zu einem heilenden.«
»Das habe ich ja«, entgegnete die S’danzo hilflos. »Aber es steckte keine Kraft in ihm. Das konnte ich spüren.«
Sie versuchten es wieder, dann noch einmal, doch Illyra hatte sich leider nicht getäuscht. Die Karten waren nichts weiter als hübsche Bilder, die ein Muster auf der Tischdecke formten. Die bunten Farben leuchteten spöttisch in der grellen Nachmittagssonne.
Illyra tupfte Latillas Gesicht und Brust mit einem nassen Schwamm ab. Lalo seufzte und hob das Päckchen wieder ab. Die oberste Karte war nun das Tor. In den Schlußstein des Torbogens war ein Symbol eingemeißelt, dessen Bedeutung nicht einmal Illyra kannte. Durch das Tor vermochte man üppiges Grün zu sehen, ein Garten vielleicht. Lalo ließ den Blick schweifen, während er verzweifelt überlegte, was er sonst tun könnte. Grün vibrierte vor seinem inneren Auge, und plötzlich wußte er, daß es ihm vertraut war, aber nicht, woher.
Er blinzelte, betrachtete die Karte aufs neue und rieb sich die Augen. Mit normalem Blick vermochte er nichts zu erkennen, aber da war etwas gewesen… Gilla beugte sich vor, um Wasser in sein Glas nachzuschenken, und die Bewegung ihres Arms löste die plötzliche Erinnerung an einen weißen Arm aus, der Caronnewein aus einer Kristallkaraffe in einen goldenen Kelch goß – es war der Arm Eshis im Reich der Götter gewesen.
»Lalo, was hast du?« fragte Gilla.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er bedächtig. »Aber ich glaube, ich weiß jetzt, wo ich eine Lösung finden könnte.«
»Ihr dürft nicht hinausgehen!« rief Illyra erschrocken. »Hört doch!« Sogar hier in der Straße der Roten Laternen konnte man den Tumult aus der Stadt hören, und Lalo schauderte.
»Ich habe es gar nicht vor«, versicherte er ihr. »Ich gehe nach innen, hier hindurch…« Er deutete auf den Torbogen der Karte. Illyra starrte ihn verwirrt an, aber Gilla verstand, und neue Angst wallte in ihr auf.